Flüchtlingspolitik: Vergessen im grossen Wir

Nr. 13 –

Wenn vor dem Virus alle gleich sein sollen, sind manche doch eindeutig gleicher.

In den Quartieren gehen die Jungen für die Älteren einkaufen. Auf den Strassen halten die SpaziergängerInnen respektvoll Abstand. Und von den Balkonen klatschen die Leute für das Spitalpersonal. Die Schweiz, sie ist zurzeit ein solidarisches Land. Eines, das sich von seiner besten Seite zeigt, in Zeiten der Krise niemanden alleinlässt. Und um den neu gewonnenen Zusammenhalt zu stärken, erklingt im Radio die behördliche Mannschaftsansprache in Dauerschleife: «Der Bundesrat und die Schweiz zählen auf Sie!»

In diesem Moment allerdings, in dem sich überall das grosse Wir konsolidiert, wird umso deutlicher, wer nicht dazugehört. Wer nicht gemeint ist von der Solidarität, vergessen geht, wenn es heisst, vor dem Virus seien alle gleich. Zu den Vergessenen gehören die Papierlosen und die BewohnerInnen der Asylzentren, ebenso die Männer, Frauen und Kinder, die vor geschlossenen EU-Aussengrenzen stranden oder auf den Inseln der Ägäis festsitzen. Für sie bleibt Abstandhalten blosses Wunschdenken. In ihren Ohren müssen die behördlichen Hygieneweisungen wie Hohn klingen.

Weniger als zehn Personen haben sich in hiesigen Asylunterkünften bisher mit dem Virus infiziert. Doch während Konzerte und Opern längst verboten, die Bars und Beizen geschlossen sind, wohnen Geflüchtete weiterhin in Zimmern mit Kajütenbetten, teilen sich Bad und Essensausgabe mit Dutzenden anderen. Nun wird ihr ohnehin schon tristes Leben zur kollektiven Quarantäne.

Nach öffentlicher Kritik schaffen die Behörden jetzt immerhin mehr Platz. Während die Menschen zu Hause bleiben sollen, müssen Asylsuchende aber weiterhin zu ihren Anhörungen reisen. Dass die Rechtsberatungen beklagen, ihre Arbeit nicht mehr machen zu können, die ÄrztInnen, die medizinische Gutachten erstellen würden, womöglich in den Spitälern gebraucht werden? Für die Behörden wohl kein Grund, die Verfahren zu stoppen. Sie laufen weiter, werden bloss kurz unterbrochen, um die Anhörungsräume mit Plexiglasscheiben auszustatten.

Besonders hart trifft die Coronakrise auch die Sans-Papiers. Denn wer den Job verliert, kann nicht auf staatliche Unterstützung zählen. Und wer jetzt erkrankt, wird sich vor dem Gang zum Arzt vermutlich hüten. Jeder offizielle Kontakt bringt jene ohne Papiere einer Ausschaffung näher. Im Kanton Zürich allein führen rund 20 000 Menschen dieses Schattendasein.

So prekär die Lage hierzulande ist; besonders dramatisch ist sie an Europas Grenzen. In Zeiten der Seuchenbekämpfung gedeiht der Nationalismus, manifestiert sich auch das Grenzregime aufs Neue. Im «Krieg gegen das Virus», wie Frankreichs Präsident es martialisch nannte, hat Europa das Asylrecht aufgehoben: Wer nicht den richtigen Pass hat, darf nicht rein. Und wer schon drin ist, darf sich nicht bewegen. Gerade jene auf den Inseln der Ägäis sind dem Virus schutzlos ausgeliefert. 20 000 Personen leben in Moria praktisch ohne medizinische Versorgung oder Wasser – für Sars-CoV-2 ein idealer Nährboden. Der Ausnahmezustand, den Europa gerade verhängt hat: Für die Geflüchteten ist er längst Realität. Nun hat die griechische Regierung das Lager abgeriegelt, die Menschen vollends ihrem Schicksal überlassen. Ungehört verhallen auch die dringlichsten Appelle, Moria endlich zu evakuieren. Stattdessen startet ein gewaltiges Rückholprogramm: 15 000 TouristInnen sollen vom Bund heimgeflogen werden. Wenn vor dem Virus alle gleich sein sollen, sind manche doch eindeutig gleicher.

Demokratien sind nur so stark, wie sie den Schwächsten Schutz gewähren. Das gilt gerade auch in Krisenzeiten. Was alles plötzlich möglich ist, was früher schlicht undenkbar war, haben die letzten Wochen gezeigt. Nun muss es auch um die Entrechteten gehen.

Ein bisschen Fairness würde die Sistierung der Asylverfahren bringen. Und auch bei der Unterbringung gäbe es Spielraum: Warum nicht Geflüchtete Hotelzimmer beziehen lassen, wenn diese nun reihenweise leer stehen? Oberstes Gebot bleibt aber die Räumung von Moria. Fürs Erste hatten die SeenotretterInnen eine gute Idee: Sie schlagen vor, dafür die vielen Kreuzfahrtschiffe zu nutzen, die gerade irgendwo im Mittelmeer herumschaukeln.