Liv Strömquist: Tindern mit Alkibiades

Nr. 15 –

Die feministische Comiczeichnerin Liv Strömquist packt die Kritik an patriarchalen Zuständen in anarchische Strips. In ihrem neuen Buch verteidigt die Schwedin nun die romantische Liebe – dabei hatte sie doch einst traditionelle Beziehungsmodelle angegriffen.

Die Liebe ist uns bis heute ein Mysterium geblieben – oder etwa nicht? Ausschnitt aus Liv Strömquists neuem Buch «Ich fühl’s nicht» (grosse Ansicht der Comicseite).

Sokrates war nicht nur ein scharfsinniger Denker, er hatte es auch faustdick hinter den Ohren. Sein Schüler Platon berichtet, wie der aristokratische Jüngling Alkibiades einmal bei einem Gelage mit Freunden zu einer Klagerede ansetzte: Sokrates kitzle unentwegt sein Verlangen, reize ihn mit geistreichen Gedanken genauso wie bei gemeinsamen Turnübungen – aber zum Sex komme es dann doch nie. Und so jammert der emotional schwer angeschlagene junge Mann: «Ratlos also blieb ich und in der Gewalt des Menschen, wie nie einer in der eines anderen gewesen ist.»

Klarer Fall: Sokrates war ein typischer «cocktease» – eine Person also, die systematisch andere bezirzt, sich letztlich aber dem entscheidenden Schritt verweigert und damit nur umso begehrenswerter erscheint. So jedenfalls bezeichnet Liv Strömquist in ihrem neuen Comicband «Ich fühl’s nicht» den griechischen Oberphilosophen, was schön die Nonchalance zum Ausdruck bringt, mit der sie darin zu Werke geht.

Zärtliche Freundschaften

Das gilt für Strömquists Bücher generell – die anarchischen Strips der Schwedin sprühen vor Esprit. Trotzdem geht es ihr nie um Klamauk: «Der Ursprung der Welt» (2017) etwa prangerte mit kulturgeschichtlichem Tiefenblick die Tabuisierung des weiblichen Geschlechtsorgans an, «I’m Every Woman» (2019) wiederum widmete sich männlichem Geniekult und der Ausbeutung weiblicher Care-Arbeit. In ihrem neuen Buch arbeitet sich Strömquist nun an der Ökonomisierung der Partnerwahl und des Beziehungslebens ab: Die marktförmig modellierte Multioptionsgesellschaft raube demnach den Leuten die Fähigkeit, überhaupt noch so etwas wie Liebe zu empfinden – geschweige denn sich so wie Alkibiades mit Haut und Haaren an ein anderes Ich zu verlieren.

Aus Strömquists Feder mag dieser Befund manche Leserin überraschen – erst vor zwei Jahren erschien der Band «Der Ursprung der Liebe» auf Deutsch, in dem sie sich das romantische Liebesideal zur Brust nahm. Ist es nicht seltsam, fragte Strömquist, dass Menschen tief verletzt den Kontakt zu einer eben noch innig geliebten Person abbrechen, nur weil diese jemand anderen kennen- und lieben gelernt hat? Und wie könnten unsere Beziehungen aussehen, wenn wir das ganze Elend traditioneller Partnerschaften hinter uns liessen und stattdessen zärtliche Freundschaften kultivierten? Strömquist sei eine «Bombenlegerin», jubelte das feministische «Missy Magazine» damals, sie jage «Mythen der Liebe, Heteronorm und Paarbeziehung in die Luft». Was soll da auf einmal eine Klageschrift über das Verschwinden der Liebe – ist Strömquist, inzwischen Anfang vierzig und dreifache Mutter, ein bisschen konservativ geworden?

«Für mich ist das eine komische Situation», berichtet Strömquist gut gelaunt aus ihrer Wohnung in Malmö – Interviews mit ihr sind derzeit leider nur via unsinnlicher Videoschaltung möglich. «‹Der Ursprung der Liebe› ist erst vor kurzem auf Deutsch erschienen, dabei habe ich den Band bereits vor zehn Jahren geschrieben.» Im Ausland würden jetzt auch ihre älteren Sachen in kurzen Intervallen veröffentlicht, was mitunter kuriose Folgen habe. Kürzlich habe ihr eine junge Französin geschrieben, dass sie von dem, was sie bei Strömquist gelernt habe, tief beeindruckt sei und deswegen für sich beschlossen habe, mit dem Kapitel Liebe für immer abzuschliessen. «Dann ist aber plötzlich mein neues Buch erschienen – und jetzt ist sie total verwirrt: Ich solle ihr doch bitte sagen, was sie denn nun bloss tun solle», sagt Strömquist und lacht.

Wie im Spiegelsaal

Tatsächlich würde sie heute behaupten, dass sich Liebesbeziehungen und Freundschaften wesentlich voneinander unterscheiden: «Romantische Beziehungen zeichnet eine Verbindlichkeit aus, die tiefer reicht, als das bei Freundschaften der Fall ist.» Daher würden Menschen, deren Gefühle verletzt wurden, ziemlich grausam oder gar mit Gewalt reagieren. Liebe sei keine Angelegenheit, die leichtfertig zu verhandeln sei oder gar verklärt werden sollte, und es sei sicher auch kein Zufall, dass etwa der griechische Mythos die Liebesgöttin Aphrodite nicht einfach als positive Figur zeichne, sondern zugleich als Auslöserin von Katastrophen.

Man kann «Ich fühl’s nicht» dennoch als Rehabilitierungsversuch der im Ruch der Borniertheit stehenden «romantischen Zweierbeziehung» lesen; vermutlich aber dürfte dieser Eindruck auch dem Umstand geschuldet sein, dass Strömquist sich in dem Buch eben darauf konzentriert, wie der Kapitalismus die Liebesfähigkeit der Leute verstümmelt. Die Frage danach, wie patriarchale Herrschaft funktioniere, sei nach wie vor wichtig, sagt sie. «Für mich war es aber nun interessanter, dem nachzuspüren, was unsere spätkapitalistische, hyperindividualistische Gesellschaft prägt: dieses permanente Streben nach Selbstverwirklichung, diese Rastlosigkeit und dieses Mass an individueller Freiheit, das historisch beispiellos ist, zumindest was die westliche urbane Mittelschicht angeht.»

Antworten sucht sie in «Ich fühl’s nicht» etwa bei den TheoretikerInnen Eva Illouz und Byung-Chul Han: Illouz, weil ihr Forschungsgebiet die Liebe in Zeiten entfesselter Märkte ist; Han, weil seine zeitkritischen Analysen zur Allgegenwart des Narzissmus es der Schwedin angetan haben. Letztere lässt sich Strömquist zufolge gut im Alltag beobachten. «Wenn man sich etwa anschaut, was die Leute auf Instagram treiben, ist es doch weitaus häufiger so, dass jemand ein sexy Foto von sich selbst online stellt als das sexy Foto einer anderen Person», sagt sie. «Wir verhalten uns so, als lebten wir in einem Spiegelsaal, in dem es nur darauf ankommt, von anderen eine Reflexion unseres Selbst zu bekommen.» Diese Fixierung aufs eigene Ich führe dazu, dass die Menschen sich schwertäten, andere in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen – wodurch wiederum die Optionen bei der Partnerwahl als austauschbar erschienen: Alkibiades würde heute wohl den verschrobenen Sokrates links liegen lassen und einfach bei Tinder nach einer Alternative suchen.

Im Visier der Rechten

Im Buch veranschaulicht Strömquist, die Politologie studiert hat und Zitate sorgfältig mit Fussnoten ausweist, diese Überlegungen mal anhand von Hegels Herr-Knecht-Dialektik, mal am Beispiel des Songs «Irreplaceable» von Beyoncé. Darin geht es ums Betrogenwerden, doch suhlt sich die Gehörnte hier nicht im Liebesschmerz, sondern wird trotzig: «Baby, die Wahrheit ist, dass du leicht zu ersetzen bist!» Strömquist bezeichnet die Botschaft des Lieds als die «Ein neues Du in nur einer Minute»-Doktrin, die sich aus einem «Self-Empowerment-Feminismus» speise: In Beziehungen sei heute in erster Linie das eigene Wohlbefinden entscheidend. Klar sei es wichtig, nicht alles mit sich machen zu lassen, doch könnte eine solche Haltung innige Liebe auch von vornherein unmöglich machen, meint sie.

In Schweden ist Strömquist vor zwei Jahren ins Visier der Rechten geraten; sie störten sich an einer Ausstellung ihrer Zeichnungen von menstruierenden Frauen in Stockholmer U-Bahn-Stationen. Denkbar, dass nun manche Strömquists Kritik am Verschwinden der Liebe selbst reaktionär finden werden – zumal bei ihr schon mal vom «Mysterium» der Liebe die Rede ist oder die Verwissenschaftlichung der modernen Welt infrage gestellt wird: Das Beharren auf der Singularität des Einzelnen gegenüber dem gleichmacherischen Zugriff des Verstands, der sich ja noch in den gefühlskalten Algorithmen heutiger Datingportale niederschlägt, ist auch zentrales Motiv der Gegenaufklärung.

Liv Strömquist, Comicautorin Foto: Maja Flink

Aufregend sind Liv Strömquists Bücher aber ohnehin vor allem wegen der Fragen, die sie aufwerfen, und nicht so sehr wegen der Antworten, die sie zu geben versuchen. Und das gilt ja genauso für jede einzelne Liebesbeziehung.

Liv Strömquist: Ich fühl’s nicht. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-Verlag. Berlin 2020. 176 Seiten. 29 Franken