Feministische Revolution: «Freundschaften haben subversives Potenzial»

Nr. 10 –

Wenn es um die Liebe in Zeiten des Patriarchats geht, darf ihre Stimme nicht fehlen: Die französische Politologin Emilia Roig im grossen Gespräch zum 8. März.

Portraitfoto von Emilia Roig
«Wenn es einen Embryo gibt, wird gefragt: ‹Ist es ein Mädchen oder ein Junge?› Damit beginnen die Projektionen»: Emilia Roig. Foto: Paulina Hildesheim, Laif

WOZ: Emilia Roig, der 8. März, der Tag der feministischen Kämpfe, steht vor der Tür. Verraten Sie uns: Wie stürzen wir das Patriarchat?

Emilia Roig: Ah, das ist aber eine einfache Frage zum Anfang, danke. Die grosse Veränderung passiert in uns selbst – indem wir die patriarchale Hierarchie verlernen, die Männer über Frauen stellt, die Heterosexualität über Queerness stellt. Diese innere Arbeit ist für jede einzelne Person unerlässlich. Auf gesellschaftlicher Ebene herrscht der Diskurs vor, das Patriarchat lasse sich per Gesetz zerstören – mit Frauenquoten, mit mehr Frauen in den Sphären der Macht. Aber das reicht nicht.

Warum nicht?

Das Patriarchat ist ein Organisationsprinzip. Selbst wenn etwa in der Polizei oder der Armee genauso viele Frauen wie Männer arbeiteten, blieben diese patriarchalen Institutionen trotzdem bestehen. Sie gehören zu den Institutionen, die uns unerlässlich erscheinen, obwohl sie das nicht sind. Zum Verlernen des Patriarchats gehört es auch, zu verstehen, welche Denkmuster wir verinnerlicht haben, und diese radikal infrage zu stellen.

2023 ist Ihr Buch «Das Ende der Ehe» erschienen. Was hat die Liebe mit dem Patriarchat zu tun?

Sehr viel. Ich schreibe gerade ein Buch dazu. Die Liebe wurde durch das Patriarchat korrumpiert. Denn die romantische, heterosexuelle Liebe ist kein natürliches Ereignis, sondern ein politisches Regime, das die Gesellschaft strukturiert und das durch Institutionen wie die Ehe durchgesetzt wird. Auch durch unverheiratete Paare zementiert das Pärchenregime die konstruierte Überlegenheit der Männer – sowohl emotional als auch materiell. Männer verfügen nach wie vor in allen gesellschaftlichen Sphären über mehr Macht und Geld. Das hat einen Effekt auf die intimen Beziehungen zwischen Männern und Frauen.

Intersektionale Theoretikerin

Die französische Politologin Emilia Roig (40) promovierte zum Thema intersektionale Diskriminierung und lehrt seit 2019 an der Hertie School in Berlin. Sie hat zu Menschenrechtsfragen für Amnesty International und die Internationale Arbeitsorganisation der Uno gearbeitet. 2017 gründete sie den Verein Center for Intersectional Justice mit dem Ziel, Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsarbeit um eine intersektionale Perspektive zu erweitern.

2021 erschien Roigs erstes Buch, «Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung», 2023 folgte «Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe». Roig ist in einem Pariser Vorort aufgewachsen. Ihre Mutter ist in Martinique geboren, ihr Vater hat einen algerisch-jüdischen Hintergrund. Seit 2005 lebt die queerfeministische Aktivistin in Berlin.

«Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe». Ullstein Verlag. Berlin 2023. 384 Seiten. 36 Franken.

 

Buchcover «Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe»

Warum wollen Sie die Ehe abschaffen?

Die Grundlage der Ehe ist nichts anderes als ein Vertrag, der regelt, wie eine bestimmte Art von Arbeit für die kleinste Einheit der kapitalistischen, patriarchalen Wirtschaft, geleistet wird: die Kleinfamilie. Durch ihre Entstehungsgeschichte ist die Ehe stark von Besitzdenken geprägt. Wenn wir ein komplett neues Paradigma entwerfen wollen, warum schaffen wir die Ehe nicht einfach ab und sehen, was entsteht? Allerdings gibt es vehementen Widerstand gegen die Abschaffung – das ist interessant.

Die Kräfte, die Menschen in klassische, heterosexuelle Zweierbeziehungen ziehen, scheinen unendlich stark – gerade wenn ein Paar Kinder bekommt.

Absolut. Diese Strukturen bestehen seit Jahrhunderten und die Wurzeln reichen sehr weit zurück. Es gibt eine weitgehende Normalisierung der patriarchalen Unterdrückung in unserer Gesellschaft – die Frage, wie wir uns davon befreien können, ist schon lange Teil feministischer Debatten. In den siebziger Jahren schlugen beispielsweise Feministinnen wie Shulamith Firestone vor, Frauen sollten sich von der Reproduktion befreien und keine Kinder mehr gebären. Föten sollten nur noch medizinisch in künstlichen Uteri heranwachsen. Ganz schön dystopische Bilder.

Warum verhalten wir uns dann weiter geschlechterkonform, wenn wir uns der patriarchalen Strukturen doch bewusst sind?

Weil die Indoktrinierung schon vor der Geburt anfängt. Ab dem Moment, wo es einen Embryo gibt, wird gefragt: «Ist es ein Mädchen oder ein Junge?» Damit beginnen die Projektionen. Diese Konditionierung reicht so weit, dass wir sie als natürlich wahrnehmen. Haarlänge, Kleidung, Körpersprache, Körperhaltung, die Art und Weise, zu sprechen – das alles sind Zeichen der Sozialisierung. Kinder und Erwachsene, die sich nicht anpassen, erfahren immer wieder Ausschluss, soziale Strafen und Gewalt. Von den Eltern, von anderen Kindern und Erwachsenen.

Gerade in linken Kreisen wird mit Beziehungsformen experimentiert – etwa mit nichtmonogamen Beziehungen. Mein Eindruck ist, dass diese Versuche ebenso patriarchalen Dynamiken unterliegen. Ist befreite Liebe im Patriarchat überhaupt möglich?

Ich habe eine klare Meinung dazu: Nein. In einer patriarchalen Gesellschaft ist die heterosexuelle Liebe abhängig von der Hierarchie zwischen Männern und Frauen – sie wird erotisiert und als positiv dargestellt. Damit eine Befreiung möglich ist, braucht es eine drastische und tiefgreifende Infragestellung der Ehe und der Monogamie, der Machtdynamiken zwischen Mann und Frau und der Heterosexualität. Und es braucht eine Dezentralisierung der Sexualität.

Was heisst das?

Wenn Sexualität definiert, mit wem wir leben, einen Haushalt führen, mit wem wir in den Urlaub fahren, mit wem wir Kinder grossziehen, dann ist das Teil des Pärchenregimes. Die monogame Paarbeziehung und die Kernfamilie sind soziale Konstrukte. Sie erfüllen eine Funktion in der kapitalistischen Wirtschaft und in unserem politischen System, das stark von Kontrolle und Biopolitik geprägt ist. Wenn wir uns fragen, wie frei die Liebe sein könnte, sollte dies mit gnadenloser Kritik der Kernfamilie und des monogamen Paars einhergehen.

Das Patriarchat verlernen

Wie hängen Sport, Architektur und Literatur mit dem Patriarchat zusammen? Dieser Frage geht «Unlearn Patriarchy 2» nach. In dreizehn Essays zeigen verschiedene Autor:innen auf, wie verwoben Unterdrückungsmechanismen mit nahezu allen Bereichen unseres Lebens sind.

So widmet sich im zweiten Band der feministischen Anthologie Asha Hedayati der Justiz, als Rechtsanwältin vertritt sie gewaltbetroffene Frauen im Familienrecht. Miriam Davoudvandi befasst sich mit mentaler Gesundheit – und damit, wie «Softness» gegen das Patriarchat hilft. Melina Borčak blickt auf Krieg und Genozid. «Der zweite Band erscheint in einer Zeit, in der der Backlash gross ist», schreiben die Herausgeberinnen Alexandra Zykunov, Silvie Horch und Emilia Roig im Vorwort. Umso wichtiger sei es, gerade jetzt über das Patriarchat zu sprechen – über sein Überdauern, seine stetige Wandlung und über sein allerletztes Aufbäumen.

«Unlearn Patriarchy 2». Ullstein Verlag. Berlin 2024. 352 Seiten. 29 Franken. Erscheint am 14. März 2024.

Buchcover «Unlearn Patriarchy 2»

Es gibt aber auch die Kritik, dass Polyamorie ganz gut zum Neoliberalismus passt.

Ja, es gibt eine neoliberale Falle. Wir leben in einer kapitalistischen, konsumgetriebenen Welt, und alles kann auch neoliberal interpretiert werden. Ebenso wie die Debatten um Diversität, Inklusion oder Body Positivity, die in letzter Zeit populär geworden sind. Polyamouröse Beziehungen werden oft auch als Ausweg gesucht, um sich selbst und die andere Person nicht wirklich zu treffen, um nicht die Arbeit aufzuwenden, die in Beziehungen nötig ist – vielleicht auch aus Bindungsangst. Trotzdem sollte Polyamorie als Modell nicht gleich verworfen werden.

In «Das Ende der Ehe» geht es auch um Sexualität. Gemäss Studien haben 95 Prozent der Männer beim heterosexuellen Sex einen Orgasmus – bei den Frauen sind es lediglich 65 Prozent. Gehört es zu einem feministischen 8. März, für den eigenen Orgasmus einzustehen?

(Lacht.) Definitiv. Ein Anspruch auf Vergnügen, Orgasmen und guten Sex gehört zur feministischen Revolution. Wir dachten, das sei bereits mit der sexuellen Revolution der siebziger Jahre passiert, aber das ist nicht der Fall. Es gab zwar eine Flexibilisierung – Sex zu haben, ist nicht mehr so stigmatisiert und muss nicht mehr innerhalb der Ehe stattfinden –, aber das hat nicht zu einer qualitativen Verbesserung geführt. Frauen sind zwar für Männer zugänglicher geworden, aber sie haben keinen besseren Sex.

Sie sagen also, heterosexuelle Beziehungen können niemals voll und ganz egalitär sein. Was ist der Ausweg? Sollten wir demnach alle ein bisschen queerer werden?

Nein, nein. Aber reine Heterosexualität halte ich für konstruiert – wir Menschen haben eine viel fluidere Sexualität, als die Gesellschaft uns glauben lässt. Es gibt auch interessante Überlegungen von heterosexuellen Frauen dazu. Zum Beispiel das Buch «Vieille fille» (Alte Jungfer), in dem die französische Autorin Marie Kock den gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber alleinstehenden Frauen nachgeht. Es gibt auch Ausnahmen, also Heteropaare, die tatsächlich gleichgestellt sind. Mir geht es darum, heterosexuelle Beziehungen nicht mehr schönzureden, sondern in aller Ehrlichkeit anzuerkennen, dass es eine Veränderung braucht.

Um der Übermacht der Paare auf anderem Weg zu begegnen: Wie politisch sind Freundschaften?

Alle menschlichen Beziehungen sind politisch – auch Freundschaften. Aber es gibt einen grossen Unterschied: Arbeitsbeziehungen, familiäre Beziehungen oder Paarbeziehungen sind durch Gesetze geregelt. Bei Freundschaften ist das anders: Es gibt keine Freundschaftsverträge und keine offizielle, schriftliche Kündigung von Freundschaften. Damit haben Freundschaften ein enorm subversives Potenzial. Sie können ohne Kontrolle gedeihen. Freundschaften wohnt eine Freiheit inne, die es in anderen Formen von Beziehungen nicht gibt. Aber sie werden gesellschaftlich abgewertet. Beziehungen werden in Hierarchie zueinandergestellt, wobei die Paarbeziehung ganz oben steht. Diese Abwertung von Freundschaften hat auch damit zu tun, dass sie für die kapitalistische Wirtschaft und für unser politisches System nicht von Nutzen sind.

Freundschaften können aber auch Seilschaften unter Männern sein – sogenannte Boys Clubs. Warum ist es so schwierig, solche Strukturen zu durchbrechen?

Wir können uns ein anderes System nur schwer vorstellen, wenn es noch nicht existiert. Das Patriarchat ist kein Beiprodukt des Kapitalismus – es ist ineinandergreifend, genauso wie Rassismus. Daher hängen Boys Clubs, Geld und Macht stark zusammen. Wenn die Männer, die über Macht verfügen, das nicht verändern wollen, haben sie die Macht, das nicht zu tun. Das heisst aber nicht, dass Veränderung ohne diese Männer nicht möglich ist. Es heisst nur, dass wir aufhören sollten, dieser Form von Macht eine Bedeutung zu geben. Das ist aber schwierig im Kapitalismus. Denn wir brauchen Geld, um zu leben. Wenn wir über das Ende des Patriarchats sprechen, müssen wir deshalb auch über das Ende des Kapitalismus sprechen. Und über neue Systeme, in denen das Geldsystem nicht mehr so gewaltvoll ist und uns nicht mehr kontrolliert.

Demonstrationsumzug am Frauenstreik 2019 in Zürich
«Die grosse Veränderung passiert in uns selbst»: Der Frauenstreik 2019 – hier in Zürich – war eine der grössten öffentlichen Mobilisierungen in der Schweiz seit dem Landesstreik von 1918. Foto: Marion Nitsch

Aber auch Frauen machen sich teilweise zu Komplizinnen des Patriarchats. Warum scheitert die Solidarität unter Frauen so oft?

Weil es in jedem Unterdrückungssystem auch immer das tiefe Verlangen in uns gibt, von den Unterdrückern anerkannt und geliebt zu werden. So möchten zum Beispiel Schwarze Menschen von weissen Menschen und Frauen von Männern geliebt und gut angesehen werden. Deshalb gewichten auch Frauen ein positives Feedback von einem Mann höher als das von einer Frau. Frauen suchen bewusst oder unbewusst diese Anerkennung. Das führt zu einer internalisierten Abwertung von sich selbst und einem verinnerlichten Sexismus.

Wie hängen Geschlechterbinarität und Kapitalismus zusammen?

Der Kapitalismus braucht die binäre Geschlechterordnung für die Arbeit, die umsonst geleistet wird, sonst könnte es kein Wachstum geben. Die nicht bezahlte Arbeit ist unerlässlich. Um sie nicht oder nur sehr gering zu entlöhnen, braucht es die Darstellung, dass es sich aufgrund der Biologie um eine naturgegebene Arbeit handle. Wenn diese binären Geschlechtervorstellungen etabliert sind, übernehmen Frauen fast automatisch diese Arbeit. Wenn aber Care-Arbeit von heute auf morgen nicht mehr umsonst geleistet würde, würde der Kapitalismus zusammenbrechen. Und wenn diese Arbeit fair bezahlt würde, müssten wir die komplette Wirtschaft umdenken. Denn was ist wertvoll? Ein Fussballer, der Millionen verdient, oder eine Putzfrau, die dafür sorgt, dass wir uns an den Orten, an denen wir leben, wohlfühlen?

Der intersektionalen Theorie, die das Zusammenwirken von mehreren Unterdrückungsmechanismen untersucht, wird oft vorgeworfen, dass sie zu sehr auf Identitätsfragen fokussiere. Auch Teile der Linken kritisieren, sie spalte Arbeiter:innenkämpfe. Wie sehen Sie das?

Diese Tendenz kann es geben, das ist eben die neoliberale Falle. Aber ich finde die Kritik irreführend. Denn es sind meist marginalisierte Menschen, die darauf hinweisen, wie wichtig es ist, die Machtverhältnisse innerhalb von Kämpfen zu reflektieren. Deshalb sehe ich die Kritik auch als Strategie, um die Macht für sich zu behalten. Der Fokus auf Intersektionalität wird dafür verantwortlich gemacht, Trennlinien zu schaffen, die tatsächlich schon da sind. Weisse Vorherrschaft und Rassismus wurden lange ausgeblendet – in der queeren und der antikapitalistischen Bewegung, in der Klimabewegung. Das aufzuzeigen, erhöht die Komplexität. Aber wenn wir begreifen wollen, wie Macht funktioniert, und eine andere Verteilung und Definition von Macht anstreben, können wir es uns nicht leisten, diese Komplexität ausser Acht zu lassen.

Welche Handlungsansätze sehen Sie?

Da würde ich den Bogen zurück zum Anfang des Gesprächs schlagen: Es funktioniert nicht, wenn Bewegungen versuchen, politische Probleme so zu lösen, als würden sich diese ausserhalb von ihnen abspielen. Es braucht eine Integration dieser Fragen und innere politische Arbeit an sich selbst.

In Ihrem ersten Buch, «Why We Matter», befassen Sie sich mit Rassismus und mit Ihrer Familiengeschichte. Sie schreiben darin, dass es eine «Empathielücke» gebe. Was heisst das?

Wir lernen, bestimmte Menschen höher zu bewerten als andere, denn in medialen, literarischen und filmischen Darstellungen geschieht das auch. So lernen wir, für die einen Menschen mehr Empathie zu empfinden als für die anderen – und diese Empathielücke dient unterdrückenden Systemen. Wir empfinden weniger Empathie für Frauen, für Schwarze und trans Menschen, für Menschen mit Behinderung … Wir müssen Empathie neu lernen.

Wir sollten noch über ein anderes Thema sprechen: den Krieg in Gaza. Die deutsch-jüdische Journalistin Mirna Funk hat Ihnen Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus vorgeworfen. Sie kritisierte eine These in «Why We Matter», wonach jüdische Menschen erst im Dritten Reich als nicht-weiss konstruiert worden seien.

Diese Vorwürfe haben keine Basis. Ich habe das so nicht geschrieben und weiss nicht, woher Mirna Funk das hat. Es ist eine Diffamierung.

Die Kritik, die mir widerfährt, ist auch gefärbt von Rassismus. Mir wird meine jüdische Identität konstant abgesprochen, und das hat auch mit Rassismus zu tun. Und nun wird mir in Deutschland von Menschen Antisemitismus vorgeworfen, deren Vorfahren meine Vorfahren ermordet haben. Das zeigt, wie das Land seine mörderische, antisemitische, koloniale und rassistische Vergangenheit und Gegenwart überhaupt nicht verarbeitet hat. Ich lebe seit fast zwanzig Jahren in Deutschland, aber seit dem 7. Oktober bin ich enorm desillusioniert. Ich finde es unerträglich.

Die Debatte ist extrem aufgeladen. Ich denke, es fehlt an Mitgefühl und Anerkennung der über Generationen weitergegebenen Traumata sowohl jüdischer als auch palästinensischer Menschen.

Der Punkt ist: Es gibt eine unterschiedliche Verantwortung. Die Verantwortung Deutschlands ist am grössten – Deutschland steht in der Verantwortung, Völkermord zu verhindern, für alle Menschen, nicht nur für Juden und Jüdinnen. Man kann nicht einfach sagen: «Es ist so komplex, alle sind in der gleichen Position und müssen sich gleichermassen infrage stellen.» Es gibt ein krasses Machtgefälle. Nicht nur militärisch, sondern auch mit Softpower. Das zeigt sich zum Beispiel in der Medienberichterstattung.

Die postkoloniale Linke übt klare Kritik am Krieg und an der rechtsextremen Regierung Israels. Die Kritik an islamistischen Gruppen wie der Hamas fällt leiser aus, obwohl sie ultrarechts sind.

Natürlich werden Islamisten und Terroristen verurteilt. Aber der Anschlag der Hamas darf nicht als Rechtfertigung genutzt werden, um Abertausende Kinder und Zivilist:innen zu ermorden.

Wie lässt sich in diesem Konflikt eine feministische und antimilitaristische Position formulieren?

Eine feministische Politik würde ein Ende des Krieges bedeuten. Denn Kriege sind nie Lösungen. Kriege machen uns nicht sicherer – und sie können nur geführt werden, wenn enorme Mengen an Geld in Waffen fliessen. Da steckt ein ganzer Wirtschaftszweig dahinter, der abgeschafft werden muss. Konflikte sind Teil der menschlichen Erfahrung. Aber es ist das militärische System – mit staatlichen und wirtschaftlichen Apparaten und kulturellen Diskursen –, das Kriege ermöglicht. Die Popkultur verherrlicht Kriege und Männlichkeit, zum Beispiel mit Filmen wie «Gladiator». Eine feministische Perspektive einzunehmen, bedeutet, an die Quelle zu gehen und zu verstehen: Konflikte lassen sich auch anders lösen.

Wie können wir eine radikale Solidarität leben?

Nach Jahrhunderten von kapitalistischem, kolonialem und hierarchischem Denken haben wir die Verbindung zueinander verloren. Wir denken, unser individuelles Wohlbefinden habe nichts mit dem Wohlbefinden anderer zu tun. Radikale Solidarität bricht mit diesem Denken und versteht Menschen, Natur und Kosmos als Einheit, als ein Ökosystem, in dem wir alle unseren Platz haben und miteinander verknüpft sind. Wir können radikale Solidarität besser leben, wenn wir sie emotional spüren. Wenn wir wissen: Solange es den Menschen in Gaza nicht gut geht, kann es auch mir nicht gut gehen. Solange es dem Amazonas in Brasilien nicht gut geht, kann auch ich nicht gut leben. So ist unser Engagement viel stärker verwurzelt – nicht in moralischer Überlegenheit, sondern als Teil einer somatischen Erfahrung, also einer fühlbaren Erfahrung.

Sie haben gesagt, es sei schwer, sich etwas vorzustellen, das noch nicht existiere. Wie können wir uns trotzdem eine Welt ohne Unterdrückungsmechanismen vorstellen?

Für die Veränderung sollten wir uns nicht zu stark davon abhängig machen, wie diese Welt tatsächlich aussehen wird. Denn das können wir nicht wissen. Ich kann zwar versuchen, das zu skizzieren, aber es wird sowieso anders sein. Deshalb müssen wir Raum für das Unbekannte lassen, damit sich neue Systeme entfalten können. Aber es gibt Grundgedanken, an denen wir uns orientieren können: Mitgefühl, Liebe, Kooperation und Solidarität – anstatt Kontrolle, Herrschaft, Gier und Akkumulation. Wenn wir das verkörpern und bei allen Entscheidungen diese Werte im Kopf behalten, können wir davon ausgehen, dass sich unser System daran orientieren wird. Und dass es eine Welt sein wird, die uns mehr entspricht.