Von oben herab: Was kostet wohl ein Kaffee im Tessin?

Nr. 15 –

Stefan Gärtner über den Ausfall des Gotthardstaus

Dramatisch ist die Krise, drastisch sind die Massnahmen, massiv die Einschränkungen, aber da alles im Leben bekanntlich sein Gutes hat, darf der Qualitätsjournalismus jetzt endlich zu sich selbst kommen. Denn das Drama, das mit Corona über uns hereingebrochen ist, es lässt sich kaum drastischer denken, und was ein massives Drama ist, hatten wir ja vorher kaum gewusst: massiver als Karl Kraus’ «Die letzten Tage der Menschheit» (Aufführungsdauer ca. 30 Stunden), dramatischer als jedes «Penalty-Drama» («Blick»), drastischer als, ja was eigentlich?

Unter normalen Umständen bedeuten die Vokabeln «drastisch», «dramatisch» und «massiv» so gut wie gar nichts. Sie sind rhetorischer Radau, den ein Journalismus, der Kraus nicht kennt, berufsmässig schlägt, damit auch Vorkommnisse von mässigem Ereigniswert ihr Recht auf einen Platz in der Zeitung kriegen. Hats abends zehn Börsenpunkte weniger als morgens, geht die Rede von einem «drastischen Einbruch» (was freilich doppelt krumm ist, man kann im Eis nur einbrechen oder nicht), und stehen Autos mal ein paar Kilometer länger im Berufsverkehr, dann erfährt, wer profan im Auto sass, tags drauf, dass es sich um einen «massiven» Stau gehandelt habe, vielleicht sogar einen «dramatischen», wie gesagt, es kommt nicht darauf an.

Dass der dramatische Gotthardstau in diesem viralen Jahr ausfallen muss, wird da zum massiven Hinweis auf die Dramatik, ja «Drastigkeit» (Helmut Kohl) der Zeit. «Bundesrat Alain Berset», meldete SRF 1, «appelliert an der heutigen Medienkonferenz nochmals an die Bevölkerung: ‹Bitte bleibt zu Hause – auch diejenigen, die ein Ferienhaus im Tessin haben.› Der Gotthardstau müsse dieses Jahr ausfallen. Dies sei wichtig, um den Kanton Tessin zu schonen, der sowieso schon überlastet sei.» Das wäre für mich auch dann eine massive Nichtnachricht, wenn ich Schweizer wäre. «Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen» ist das vermutlich bekannteste Werk des deutschen Plakatkünstlers Klaus Staeck, und zwar bin ich kein Arbeiter (und zwar in wirklich keiner Hinsicht), doch mit der Villa im Tessin wird es in diesem Leben garantiert nichts mehr.

Selbst wenn man sie hätte, als geerbte etwa, müsste man ja da leben, und wer soll das bezahlen? In meinem Klischeebild vom Tessin ist das Tessin die Schweiz der Schweiz, und wenn sich ein deutscher Freund, der beruf‌lich in Basel gelandet ist, über die Lebenshaltungskosten beschwert (und zwar als einer, der im Jahr sechsstellig verdient), dann stelle ich mir vor, dass selbst er über ein Ferienhaus im Tessin nicht nachdenkt. «Was kostet wohl ein Kaffee im Tessin?» ist nicht nur eine sehr klangvolle, mithin vorbildlich überschriftentaugliche Zeile, sondern fasst auch das Generalproblem schlaglichtartig zusammen, denn vermutlich ist er noch teurer als selbst in Basel, und dann geht die Urlaubsfahrt (falls wieder möglich) lieber wieder nach Dänemark, auch wenn sich von da aus viel weniger leicht nach Italien gelangen lässt, wo der Kaffee günstig ist; es sei denn, man ist so doof und geht in Rom in eine Eisdiele im Centro Storico und sieht vorher nicht in die Karte. So stelle ich mir auch die typische Eisdiele im Tessin vor.

Thomas Mann überlegt seit 1949 im Tagebuch, in die Schweiz zurückzukehren: «Tessin? Vevey?» Interessante Überlegung meinerseits: Wäre Thomas Mann dann zu Hermann Hesse nach Montagnola gezogen, hätte er, um sein Leben zu finanzieren, sogar noch einen Roman mehr schreiben müssen; und das, wo er doch mit Hesse im (teuren) Café hätte sitzen können!

Dass ein Schweizer Bundesrat allerdings an die Bevölkerung appellieren muss, bitte nicht die Tessiner Ferienhäuser anzusteuern, damits nicht zu einem drastischen Stau kommt, scheint mir wiederum ein massives Schweizer Luxusproblem zu sein.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.