Von oben herab: Dream now

Nr. 17 –

Stefan Gärtner über die globale Recovery-Kampagne von Schweiz Tourismus

Ich kämpfe ja immer gegen die Rede von der Realsatire, denn es gibt eine Realität, und es gibt die Satire, die sich dazu verhält; gleichwohl freue ich mich, wenn ein Klischee sich selbst bedient. «Traumatisiert» sei er, höre ich von einem Bekannten aus Berlin, der ebenda aber nicht in einem Flüchtlingslager haust, sondern bloss nicht richtig aus der Wohnung kann und von früh bis spät herumgoogeln muss, wann es wen weshalb wie tödlich treffen wird. Aber unsere Metropolenpflanzen sind halt ganz besonders zarte, und da schlägt es aufs Gemüt, einmal nicht im Zentrum des Interesses zu stehen. Wenn jede französische Bäuerin sich vor Corona fürchten muss, ist Covid-19 in der deutschen Hauptstadt halt keine Sensation mehr, und eine Hauptstadt ohne Sensation, was ist denn das für eine Hauptstadt? Bern vielleicht!

Nein, der Kapitalismus verrät, obwohl alle das Wort «Solidarität» im Mund zergehen lassen wie sonst nur faire Vorzugsschokolade, gerade mehr über sich, als ihm recht sein sollte; denn, Beispiel, eine sozialistische Touristik wäre unter Corona einfach eine, die mal Pause machte, eine kapitalistische muss eine sein, der der Hintern auf jenes Grundeis geht, das längst nur mehr Metapher ist. «Ferien im eigenen Land, in Deutschland, Österreich oder allenfalls auf Mittelmeerinseln» sieht etwa der «Tages-Anzeiger» barmend voraus. «Wir müssen uns auf einen Reisesommer mit vielen Beschränkungen und Fragezeichen einstellen.»

Vom kritischen Alltag ermüdet, lasse ich meine Tage gern mit DDR-Fernsehserien auf Youtube ausklingen, in denen das Glück sehr sichtlich nicht von Fernreisen, Einbauküchen und Panzerwagen abhängt; sondern davon, dass es mal Erdbeeren gibt oder eine freie Wohnung für hundert Mark im Monat. Natürlich sind die Tapeten schrecklich, und die Neubautüren sehen aus, als seien sie aus Sperrholz, aber es ist natürlich völlig klar, dass eine allgemeinverträgliche Zukunft so vergleichsweise bescheiden auszusehen hätte. (Von Hermann L. Gremliza stammt der Hinweis, dass die vielbekrähte Mangelwirtschaft des Ostens eine gewesen sei, von der neun Zehntel der Menschheit nur träumen könnten.)

Im freien Westen dagegen ist es regelrecht ein Trauma, im Sommer allenfalls ans Mittelmeer zu dürfen, und ich muss an Theodor W. Adorno denken, der seine Urlaube im Odenwald verbrachte, oder an Goethe, der über Italien bekanntlich nie hinausgekommen ist. Heute ist, weil die Lebensweise nicht imperial genug sein kann, Neuseeland so etwas wie ein Massenreiseziel geworden, und wenn in den deutschen Fernsehnachrichten ein Brandenburger Bauer auf seinem vertrockneten Acker hockt, weil im restlos ruinierten April wieder nur ein Dreissigstel der früher üblichen Regenmenge gefallen ist, sehen wir schon die nächsten Mehlhamsterkäufe vor uns, getätigt von denselben Leuten, die zweimal im Jahr ihr Whatsapp mit Fernreisefotos zustellen. Es sind dann auch die ersten, die jammern.

Dass «Stille oder Nicht-Kommunizieren keine Option» sei, lese ich unterdes auf einer Internetseite der Werbewirtschaft über ein Strategiepapier von Schweiz Tourismus (ST). «Inspiration und Träumen seien Bestandteile der Tourismuswerbung, die auch bei aktuellem Reiseverbot gespielt werden können. Mit dem Slogan ‹Dream now – travel later› könne ST Empathie zeigen», als nämlich «erste Phase der globalen Recovery-Kampagne», womit nicht nur der wunderbar unentschlossene, zauberschön regensonnige April, sondern auch Empathie etwas von gestern ist, erledigt und begraben. «Die zweite Phase (Bewusstsein) soll das Reisen wieder ins Bewusstsein rücken, und die dritte Phase (Aktivierung) soll konkrete Buchungen auslösen», womit «Freiheit» (FDP) ziemlich genau als die gängig Pawlowsche aus Reiz und Reaktion beschrieben wäre.

Nicht dass man noch von ganz was Falschem träumt.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.