Erwachet!: Stressblühen
Michelle Steinbeck ist seekrank
Die beschränkte Umwelt spiegelt meine wilden Gefühle gerade sehr intensiv. Morgens am Rheinufer der wütende Schwan, der nicht aufhört, mich anzufauchen: Stay the fuck home forever. Vor der Apotheke ein Handorgelspieler: besinnungslos am Rad drehend, lachend in die Apokalypse. Und schliesslich im Hof das müde jammernde Kind: Aua, aua, aua.
Anscheinend ist es ganz normal, dass wir uns unter diesen Zuständen nicht normal fühlen. Dass wir vor Stimmungsschwankungen seekrank sind, schnell müde werden, dass uns Aufgaben und Ziele plötzlich sinnlos erscheinen (wahrscheinlich oftmals zu Recht). Unser Hirn ist im Survival-Modus. Selbst wenn wir uns im Homeoffice verausgaben, als gelte es, das BIP eigenhändig raufzuschrauben und obendrauf einer Medaille für Effizienz nachzueifern. Unser Hirn lässt sich nicht ablenken: Irgendwo blinkt in ihm seit Wochen ununterbrochen ein nervtötendes Alarmlämpchen.
Offenbar ist aber eine andere Spezies noch gestresster als wir. Sie ist normalerweise eher leise und auf den ersten Blick genügsam, darum kümmern wir uns nicht wirklich um sie. Aber jetzt sind die hölzernen Freunde regelrecht in Panik, und die überträgt sich je länger je mehr auch auf uns. Einerseits bewundern wir sie auf unseren immunstärkenden Spaziergängen: die wahnsinnig wuchernden Blütengeschwüre an den Bäumen. Andererseits niesen und tränen und keuchen immer mehr Menschen wegen der sichtbar angewachsenen Pollenschwaden.
Was da so festlich gerüscht daherkommt, sind sogenannte Angstblüten. Die Bäume spüren den unheilvollen Klimawandel und versuchen vorzusorgen: mit einem extremen Vielfachen an Samen, die sie in die Welt und unsere Nasen schleudern. Das ist aber nicht sehr nachhaltig, weil die übersteuerte Massenproduktion von Angstfrüchten die Bäume schwächt. Parasiten haben dann leichtes Spiel.
Wenn unser Coronahirnlämpchen also in einigermassen absehbarer Zukunft mal ausgehen sollte, wird die angenehme Dunkelheit vielleicht ausbleiben. Schliesslich zeigt nicht nur die schmelzende Arktis, dass die grösste Bedrohung der Menschheit bereits volle Fahrt aufgenommen hat. Das Klimalämpchen ist ein regelrechtes Leuchtfeuer.
Ganz rational lässt sich nun sagen, dass wir aus diesem Virus, das uns derzeit ein nie da gewesenes globales Gemeinschaftserlebnis beschert, ein paar zukunftsweisende Schlussfolgerungen ziehen können. Schliesslich wissen wir, wie es entstanden ist (durch Zerstörung von natürlichen Lebensräumen) und wie es sich verbreitet hat (dank exzessiver internationaler Luftfahrt). Je länger wir also an unserm Palmöl-Grillfest-Bali-Lifestyle festhalten, desto mehr solche Viren werden uns in naher Zukunft besuchen. Dazu wird der Meeresspiegel steigen, ganze Landstriche werden untergehen, noch viel mehr Menschen werden massenhaft wandern und flüchten und sterben. Es wird unerträglich heiss, und das Kind, das in meinem Innenhof «Aua aua aua» macht, wird seinem Kind erklären müssen, wieso es selbst in der Schweiz nichts mehr zu essen gibt ausser Rapsbutter und Quallensalat.
Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie empfiehlt als Quarantänelektüre einmal mehr Karen Duves hoffentlich nicht völlig prophetischen Roman «Macht».