Erwachet!: Raps und Kartoffeln
Michelle Steinbeck über Männer auf Pferden
Auf Zugfahrten durchs Mittelland gellen einen derzeit durchs Fenster die Rapsfelder an. Ungetrübt geniessen kann ich das Spektakel schon seit Karen Duves «Macht» (2016) nicht mehr: Der Roman spielt im Jahr 2050, wo die Klimakatastrophe auch in unseren Breitengraden unumkehrbar apokalyptische Ausmasse erreicht hat und ausser Quallen und Raps nicht mehr viel wächst. En Guete!
Heute erinnert das strahlende Gelb-Blau im Zusammenspiel von Feld und Himmel auch an all die ukrainischen Flaggen, die seit einigen langen Wochen als Zeichen der Solidarität an Schweizer Balkonen und Fahnenstangen flattern. Und an die Stadt Zürich, die ebensolche Flaggen, die sie selbst Mitte März prominent anbringen liess, nun kürzlich abhängte. Schliesslich hat das mit der Solidarität seine Grenzen: Unsere lukrativen Geschäfte werden wir uns davon jedenfalls nicht vermiesen lassen. Und all jene, die noch auf den Trickle-down-Effekt warten, können es sich schon gar nicht leisten, teurere Energiekosten zu zahlen. Weg mit den Flaggen ist also nur konsequent.
Die offizielle Erklärung für das Abhängen war aber das Sechseläuten, das sich als «unpolitischer Anlass» präsentieren will. Tatsächlich gibt es in unserer Welt mit einer cis-hetero-patriarchalen eurozentristischen Geldhegemonie nichts Normaleres, Neutraleres, Natürlicheres als reiche weisse Männer, die um einen brennenden Scheiterhaufen reiten. Ein schöneres Symbol für den alles erneuernden Frühling kann es doch gar nicht geben, oder?
Ein Zünfter, der unter anderem dafür bekannt ist, dass er sich zu Ehren des Bööggs auch mal als Beduine verkleidet, hat in seinem Heft «Weltwoche» kürzlich die Vision für ein noch besseres Sechseläuten gezeigt: ein ungarisches Fest «zu Ehren des Hunnenkönigs Attila». Auf dem Foto ein dynamischer Pulk von energiegeladenen Pferden mit Reitern – allesamt nackt vom Gürtel aufwärts. Das ist «Ungarn, gesehen mit den Augen eines Schweizers»: Männer verschiedenster Staturen, die in ihrer beeindruckenden Body Positivity an eine ganz bestimmte Ikone der Männlichkeit erinnern, die auch gerne oben ohne zu Pferd sitzt und stolz ihren alternden Körper präsentiert.
Wenn sich der erwähnte Nationalrat für das «traditionelle Frühlingsfest» in Zürich also das Gesicht braun anmalt, tut er das nur, weil die Akzeptanz der ersehnten neuen Tradition noch nicht breit genug ist. Schliesslich träumen er und seine Freunde von nichts anderem, als sich endlich die Kleider vom Leib zu reissen, um mit schlackernder nackter Brust zum russischen Sechseläutenmarsch um den Scheiterhaufen zu galoppieren.
Zurück zum Quallensalat. Im Jahr 2022 sind wir zwar noch nicht ganz so weit, aber die Furcht vor dem Frittenstopp geht bereits um. In der Schweiz müssen wir uns darum wohl keine Sorgen machen. Wenn es eng wird, machen wir es einfach wie damals im Zweiten Weltkrieg: Was wurde da auf dem Sechseläutenplatz angebaut? Eben, Raps und Kartoffeln.
Die Pommes frites bringen mich schliesslich zu einer Erinnerung aus Paris. Vor wenigen Wochen, als sich in Frankreich die Möglichkeiten zur Stichwahl des Grauens entschieden hatten, zog am Abend ein kleiner, wütender Demozug von jungen Linken durch die touristischen Gassen der Innenstadt. Auf dem Transpi stand: «Eine andere Zukunft ist möglich!»
Michelle Steinbeck ist in Zürich ohne Sechseläuten aufgewachsen.