Erwachet!: Angenehm anders

Nr. 16 –

Michelle Steinbeck träumt von Riesenmaden und Adam Driver

Ich schreibe diese Zeilen mit Oreganosamen unter den Fingernägeln. Die Wohnung riecht süsslich, ekelhaft nach gebackener Erde. Selbstgeknetete Haferhausbrote waren Woche zwei der Quarantäne; in diesen Tagen werden die Trauerfliegenmaden des verseuchten Bodens der ersten Generation dahingeraffter Topfpflanzen grilliert. Und eine neue Saat in Kamillentee aufgeweichter Hoffnung landet auf dem dampfenden schwarzen Brei. Dafür stehe ich morgens auf – um zu den dreckgefüllten Eierkartons zu tappen, reinzustieren: Spriessts?

Heute machen wir durch; es ist, als wärs die letzte Nacht überhaupt. Die Fenster bleiben geschlossen, durch die Strassen zieht ein gelber Rauch, der schwer auf der Lunge liegt und dort pfeifende Geräusche macht beim Rückweg vom Briefkasten. Ein plötzlich eisiger Wind weht die letzten verdorrten Pflänzchenkadaver vom Balkon. Was der Mehltau, die Blattläuse und die wurzelfressenden Maden verschonten, haben die Spatzen kalkuliert abgehackt. Die wollen uns hier wegekeln; «Stay the fuck home forever», schreien sie den ganzen Tag von den Dächern. Jetzt sind sie still.

Ein Freund aus Italien schreibt: «Wenn wir hier rauskommen, ist 2041. Wir haben alle langes Haar, ernähren uns von Kühlschrankschimmel und verständigen uns mit gutturalen Lauten. Die Sonne wird uns blenden.»

Das grösste Abenteuer dieser Tage war, mit einem geliehenen, desinfizierten Auto aufs Land zu fahren, in die Landi. Dort stellten wir uns in die Autoschlange, sahen den Hausbesitzern zu, wie sie mannshohe Palmen und zwanzig Säcke Erde auf die Ladefläche wuchteten. Die habens nicht nötig, Erde zu backen. Die Palmen fielen beim Losfahren sofort um. Wir bekamen unseren Staubsauger. Der Landi-Mitarbeiter rauchte eine Zigarette im Mundwinkel, auf seiner Faserpelzweste stand: «angenehm anders».

Sein Kind ist zu Hause und hat Corona. Es gibt seiner Mutter ein Buch, das es selber gemacht hat. Es heisst «Sorry, Corona». Auf der ersten Seite schreibt es: «Es tut mir leid, ich habe Mehlwürmer gegessen.» Es ist ein psychedelisches Buch, mit vielen Farben. Es verwandelt sich in einen Film, in dem ich mit Adam Driver lebe. Die Wände wechseln ständig die Tapete, und übergross projizierte Maden wandern darüber. Wir dürfen nichts anfassen und geniessen das Spektakel, schreien uns leidenschaftlich an. Dann fahre ich mit dem Auto davon, zu meiner Mutter, die ich nicht anfassen darf, weil ich im Coronahaus war. Sie ist ziemlich angespannt. Das Auto ist unaufgeräumt. Ich fahre damit nach Italien. Im Radio singt Josef Hader in Endlosschleife: «Topfpflanzen hey, immer im Zimmer, Topfpflanzen uhh, habts a Hirn, Topfpflanzen hey, ihr tuats eich irren, Topfpflanzen uhh! Burschen draussn is so leiwand, Topfpflanzen bitte gehts spazieren …»

Wenn wir morgen doch wieder aufwachen sollten, werden wir lesen, ob sie die 55 vermissten Menschen auf dem Mittelmeer gefunden haben. Vielleicht werden wir noch eine Petition unterschreiben. Vielleicht werden wir mit der Zeitung die Fenster putzen. Vorsichtig, dann die Hände giessen. Unter den Nägeln spriesst Oregano.

Michelle Steinbeck ist eine asthmatische Topfpflanze.