Frankreich: Die da draussen in den Pariser Banlieues

Nr. 18 –

Noch immer gilt in Frankreich eine strenge Ausgangssperre. Gerade in den Vororten werden dadurch soziale Ungleichheiten dramatisch verschärft. Schon geistert die Angst einer Vorstadtrevolte durch das Land. Die Not der BewohnerInnen ist mittlerweile existenziell.

Flackern und Knallen. Polizeifahrzeuge treten den Rückzug an. Das Video dieser Szene wurde via Twitter hundertfach geteilt. Der Hashtag dazu heisst wie der Ort des Geschehens: #VilleneuveLaGarenne.

Die Bilder aus der nördlichen Pariser Vorstadt zeigen weder eine Schiesserei noch einen randalierenden, plündernden Mob. Doch das spektakulär silbern funkelnde Feuerwerk und der Lärm machen Eindruck. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizisten und Jugendlichen, ein Vor und Zurück, hier werden Böller geworfen, dort schiessen Ordnungskräfte mit Blendgranaten und Gummigeschossen.

Seit Mitte März gilt in Frankreich wegen des Virus eine harte Ausgangssperre, Präsident Emmanuel Macron hat diesem unsichtbaren Feind den Krieg erklärt. Das Land verzeichnet in der Coronakrise bislang ähnlich viele Tote wie Spanien oder Italien. Und nun also wieder mal die Banlieues?

Aussage gegen Aussage

Die Bilder haben die Angst vor einem neuen Aufstand der Vorstädte geschürt, wie ihn die FranzösInnen 2005 erlebt haben. Und wie schon damals, nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht von der Polizei getötet worden waren, führte auch jetzt wieder ein Zusammenstoss mit den Ordnungskräften zum Unmut, zur Wut.

In der Nacht vom 18. auf den 19. April kommt es in der 25 000-Menschen-Gemeinde Villeneuve-la-Garenne zu einem Unfall, über dessen Hergang Aussage gegen Aussage steht: Als ein Motocrossfahrer auf einen parkierten Polizeiwagen zufährt, öffnet sich eine Tür und bringt den Dreissigjährigen zu Fall. Ein kurz darauf gefilmtes Handyvideo zeigt das Opfer mit gebrochenem Bein und offener Wunde am Boden liegen. Die Polizei spricht davon, dass der Töfffahrer mit einer Rodeofahrt das Leben anderer in Gefahr gebracht habe. Das Opfer, dessen Bein zweimal operiert werden musste, reichte Anzeige gegen unbekannt ein.

Schon in der Nacht darauf kommt es wieder zu Zusammenstössen. Feuerwerkskörper werden gezündet und einige Autos und Mülltonnen in Brand gesteckt. Der Journalist Taha Bouaf ist vor Ort, will die Situation dokumentieren und gerät schnell selbst in die Hände der Polizei. «Die sind uns entgegengerannt und holten schon ihre Handschellen hervor, um uns zu drohen, uns einzuschüchtern. Auch als ich sagte, ich sei Journalist, liess sie das kalt.»

Aufgeheizt ist die Stimmung nun auch an anderen Orten, die Bilder gleichen sich. Es sind Orte, die euphemistisch «quartier prioritaire de la politique de la ville» genannt werden, denen also eigentlich von politischer Seite besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte, weil die sozialen Probleme hier besonders dringlich sind. Dass die Lage durch die derzeitigen Massnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie dort ausser Kontrolle geraten könnte, befürchtete der Innenpolitiker Michel Aubouin bereits Ende März in einem Interview mit der Zeitschrift «Marianne»: «Für mich ist offensichtlich, dass die Ausgangssperre unweigerlich die Gewalt erhöhen wird. Und in dieser angespannten Lage fürchte ich, dass wir nicht die Mittel haben, um uns dem entgegenzustellen.»

Der Infektionsgefahr ausgesetzt

Es geht also wieder um Gewalt, um die vermeintliche Aufsässigkeit und Disziplinlosigkeit der Banlieue-Bevölkerung. Dabei müsste gerade jetzt über die Ursachen der herrschenden sozialen Unterschiede gesprochen werden, die durch die Coronakrise noch verschärft werden. Nicht ohne Grund waren die Krankenhäuser in den nördlich von Paris gelegenen Départements gleich zu Beginn der Infektionswelle überfüllt. Viele Menschen in den Cités können nicht zu Hause bleiben. Sie sind KassierInnen, Putzkräfte, LieferantInnen. Um zu ihrem Arbeitsplatz in der Innenstadt zu gelangen, müssen sie öffentliche Verkehrsmittel nutzen, die Infektionsgefahr ist ihr ständiger Begleiter. In der Cité selbst, wo mehrköpfige Familien auf engem Raum leben, ist es so gut wie unmöglich, Abstand voneinander zu halten.

Der Soziologe Michel Kokoreff, Professor an der Universität Vincennes-Saint-Denis, erforscht seit Jahren die Lage in den Banlieues. «Die Coronakrise hat die sozialen, räumlichen und ethnischen Ungleichheiten deutlich gezeigt und noch verstärkt. Sie sind ein strukturelles Problem.» Die Arbeitslosigkeit in manchen Gemeinden betrage bis zu dreissig Prozent. Eine von drei Personen in den Pariser Vorstädten gelte als arm. «Und die Hälfte der Bewohner ist jünger als 25 Jahre: All diese Faktoren summieren sich jetzt.»

Aber auch die Stigmatisierung der dortigen Bevölkerung spiele eine wichtige Rolle, sagt Kokoreff. In den Mainstreammedien würden häufig Gewaltszenen gezeigt, und auch von politischer Seite gebe es wiederholt unterschwellige Kritik an den Banlieue-BewohnerInnen. So sagte der Pariser Polizeipräfekt Didier Lallement Anfang April, dass man jetzt jene Menschen auf der Intensivstation sehe, die sich nicht an die Regeln der Ausgangssperre gehalten hätten. Angesprochen fühlten sich einmal mehr die von der Krise am meisten Gebeutelten, denn beinahe klang Lallement so, als hätten sie die Ansteckung verdient.

Gerade wegen der herrschenden Stigmatisierung, unter der die BewohnerInnen litten, sei eine zurückhaltende, deeskalierende Polizeistrategie wichtig, glaubt Michel Kokoreff: «In Spanien haben wir Bilder von Polizisten gesehen, die Masken verteilen. Bei uns liegt der Akzent vor allem auf Überwachung, nicht erst seit Corona. Doch die repressiven Massnahmen sind keine dauerhafte politische Antwort. Die Politik vermittelt den Eindruck, diese Viertel seien Monster, die man ausschalten müsse. Es gibt weder Mitgefühl noch den Willen zuzuhören.»

Bald Hungeraufstände?

Und längst geht es nicht mehr nur um gegenseitige Provokationen mit der Polizei und um brennende Mülltonnen. Unter den sowieso schon prekarisierten BewohnerInnen machen sich handfeste Überlebensängste breit. Im schlimmsten Fall sei mit «Hungeraufständen» zu rechnen, so zitiert die Zeitschrift «Canard enchainé» aus einem Mail des Präfekten des Département Seine-Saint-Denis, das er an einen Amtskollegen richtete.

Auch Michel Kokoreff sieht die Möglichkeit von derartigen «urban riots» in Form von Plünderungen. «In der Vergangenheit kam es in Frankreich kaum zu Plünderungen, wie wir sie bei städtischen Aufständen zum Beispiel in Grossbritannien oder den USA gesehen haben. Bei Krawallen in Frankreich wurden bislang Autos oder Geschäfte in Brand gesteckt. Aber jetzt könnte sich das ändern, wenn der Zugang zu Nahrungsmitteln nicht gesichert ist, wenn staatliche Hilfen nicht rechtzeitig ankommen.»

Zwar gibt es vor Ort auch Initiativen wie den Verein Agir pour s’accomplir, der Lebensmittel sammelt und an bedürftige NachbarInnen verteilt. Doch wie lange können die Armen den Allerärmsten noch unter die Arme greifen? Kommt es nach der schrittweisen Aufhebung der Ausgangssperre ab dem 11. Mai zu grösseren sozialen Aufständen, zu einem Déjà-vu von 2005 – oder gar zu einer Bewegung, die die Nähe zu den Gelbwesten und anderen Protestgruppen im Land suchen könnte?

Daran zweifelt Michel Kokoreff: «Für eine Revolte hat man besser einen vollen Bauch. Ich glaube, die Menschen dort müssen sich zuallererst ums eigene Überleben kümmern, müssen Arbeit suchen.»