Polizeigewalt: Der Tag, an dem Alhoussein erschossen wurde
Der Tod von Nahel Merzouk hat in Frankreich gewaltsame Proteste ausgelöst. Ohne sie hätte die Erschiessung von Alhoussein Camara durch einen Polizisten nur Lokaljournalist:innen interessiert.
«Mbappé ist tot!» Es ist Mittwoch, der 14. Juni, als in der westfranzösischen Stadt Angoulême solche Nachrichten im Minutentakt die Handys der Menschen erreichen, die mit Alhoussein Camara befreundet waren. Mbappé lautete der Spitzname des Verstorbenen. Dreizehn Tage später ist auf einem Handyvideo zu sehen, wie der siebzehnjährige Nahel Merzouk bei einer Polizeikontrolle im Pariser Vorort Nanterre durch das offene Fenster eines Autos von einem Polizisten erschossen wird. Nach seinem Tod brechen im ganzen Land gewaltsame Unruhen aus, bei denen Autos, Rathäuser und Schulen in Brand gesetzt und Geschäfte geplündert werden. Journalist:innen aus aller Welt berichten vom Ort der Tragödie und nennen Merzouk in einem Atemzug mit dem durch einen Polizisten ermordeten US-Amerikaner George Floyd. Präsident Emmanuel Macron sagt einen Staatsbesuch ab und beruft eine Krisensitzung ein.
An diesem 14. Juni erreicht die zwanzigjährige Maya Biret während einer Mittagspause im Supermarkt die Nachricht über eine morgendliche Polizeikontrolle mit tödlichem Ausgang: Nordöstlich von Angoulême sei ein neunzehnjähriger Mann aus Guinea nach einer Verfolgungsjagd von einem Polizisten erschossen worden, nachdem er sich dessen Anweisungen verweigert habe. «Alles an der offiziellen Geschichte ist merkwürdig», sagt Biret. Camara war ihr bester Freund.
Die Aufmerksamkeit gilt Paris
Er habe im April den Führerschein gemacht, seinen gebrauchten Peugeot 307 vor einem Monat gekauft. Auf der Strecke zwischen dem Bahnhof und dem Tatort, wo die vermeintliche Verfolgungsjagd laut Staatsanwaltschaft «in langsamem Tempo» stattgefunden haben soll, liegen ein Dutzend Bremsschwellen und Verkehrskreisel. Aber erst unter einer Autobahnbrücke stadtauswärts und ohne Videoüberwachung wurde Camara kontrolliert, und bei einer Auseinandersetzung verletzte er leicht das Bein eines Beamten – jenes Polizisten, der daraufhin den tödlichen Schuss abgab. Die Batterie der mobilen Kamera, die der Beamte an der Uniform trug, war nicht aufgeladen. Nur sie hätte Aufschluss über den wirklichen Tathergang geben können. In einer Pressemitteilung schrieb die Polizeigewerkschaft Alliance Police nationale noch am gleichen Tag von einem «Einsatz gegen einen entschlossenen Straftäter, der nicht davor zurückschreckte, einen Polizisten zu überfahren und zu töten». Bis zu diesem Zeitpunkt war Camara weder der Polizei noch der Justiz bekannt. Er hatte einen gültigen Führerschein, Fahrzeug- und Versicherungspapiere bei sich.
«Ich war mir sicher, dass man ihn verwechselt hat. Ich habe ihn immer wieder angerufen und gebeten, sich zu melden.» Biret sitzt Anfang Juli in ihrer karg eingerichteten Wohnung auf einem grauen Sofa und schaut auf ein Foto des Toten in einem silbernen Bilderrahmen. Darauf trägt Camara eine zu grosse, ausgewaschene Jeansjacke und lächelt in die Kamera. Dieser Tage wäre er zwanzig Jahre alt geworden, geplant war eine Feier im Bowlingcenter. Das Foto, das sie nun auf ihrem Handy zeigt, lässt sich schwer mit dem jungen Mann im Bilderrahmen zusammenbringen. Es zeigt ein eingefallenes Gesicht mit schwarzen Flecken, aufgequollene Lippen, eine lädierte Schulter. «Ich musste seinen Körper noch ein letztes Mal sehen, um zu realisieren, dass er wirklich tot ist», erzählt Biret. «Ich habe ihn in der Pathologie nur durch die Narbe an seiner Stirn erkannt. Ich glaube, er hat gelitten.»
Die vergangenen Tage hat Biret wie in Trance verbracht, zwischen Nachrichten an den Anwalt der Familie, Tränen und Trösten ihres kleinen Sohnes und dem Löschen Hunderter Hasskommentare auf Tiktok, wo sie seit Camaras Tod versucht, seine Version der Geschichte zu erzählen. Es ist nur eine Geschichte von vielen. Eine, die bis vor wenigen Wochen nicht mehr als ein paar Lokaljournalist:innen interessiert hat. «Es wird doch nur hingeschaut, wenn etwas rund um Paris passiert – und wenn es in den Banlieues brennt», sagt Biret.
Der Polizist sei zwar vom Dienst freigestellt worden und habe seine Waffe abgeben müssen, er laufe aber weiterhin frei herum. Auch von ihm hat sie ein Foto auf ihrem Handy, in Uniform. Sie kennt seinen Namen, postet sein Bild in sozialen Netzwerken, einige ihrer Storys wurden gelöscht. Camara habe sogar mal mit dem Sohn des Beamten Fussball gespielt – deswegen der Spitzname Mbappé, angelehnt an Frankreichs Fussballstar Kylian Mbappé. «Den Polizisten kennen alle hier, der ist berüchtigt. Das ist ein übler Rassist, wie viele bei der Polizei in Angoulême. Der sagt, die ganze Kriminalität hier komme von den Ausländern, und wir seien nur ein Scheisshaufen.»
Immer wieder versuchen die Freunde, auf der Polizeistation mehr über den Fall zu erfahren, zwei von ihnen setzen eine Mülltonne in der Nähe in Brand und müssen daraufhin die Nacht in einer Zelle verbringen. «Man hat ihnen gesagt: Geht zurück in eurer Land oder krepiert. Es ist Wahnsinn, was dort passiert», erzählt Biret.
Beisetzung in Guinea
Auch auf der Terrasse der Bar Le Val Joly, gegenüber dem Wohnheim, in dem Camara zuletzt lebte, ist seine Geschichte allgegenwärtig. Hier sitzen Mohamed Soumah und Syllah Salifou vor einer Büchse Cola und schauen sich die letzten seiner Tiktok-Clips an. «Ich kannte Mbappé durch den Fussball. Er war eher schüchtern, zurückhaltend, fleissig, hielt sich an alle Regeln, war nie provokant oder aggressiv.» Wie viele hier kam auch Camara noch minderjährig nach Frankreich, machte den Abschluss an einer Kochschule, jobbte, um Geld in die Heimat zu schicken. Bislang hat die Familie Camara vom französischen Staat keine Erklärung und keine Kondolenz erhalten. Dem Pariser Anwalt Arié Alimi, spezialisiert auf Fälle von Polizeigewalt, wurde der Einblick in das Dossier bislang verweigert.
Als Ibrahim Camara auf dem Bildschirm erscheint, ist es in Conakry, der Hauptstadt Guineas, zehn Uhr morgens. Im Hintergrund krähen Hähne. Vor einigen Tagen wurde hier sein Bruder Alhoussein nach den traditionellen Riten des Islam beerdigt. «Ich kann es noch immer nicht glauben. Man tötet jemanden nicht auf diese Art. Das ist nicht normal. Wie kann so etwas in Frankreich passieren?», fragt Ibrahim Camara verzweifelt. Unterstützung bekommt die Familie vom Botschafter Guineas, der auch am Trauermarsch teilgenommen hat, bei dem am 17. Juni rund 800 Menschen an der Seite von Biret, von Soumah und Salifou in der Altstadt von Angoulême zusammenkamen. «Vertrauen wir der Justiz, bitte. Demonstrieren wir in Frieden, ruhig, diszipliniert», bat der Botschafter.
Auch Maya Biret wünscht sich, dass Alhoussein Camaras Name nicht mit Gewalt in Verbindung gebracht wird. «Als nach Nahels Tod auch in unseren Vorstädten Autos brannten, habe ich das gleich in alle Gruppen geschrieben: ‹Macht das nicht in Alhousseins Namen. Fordert Gerechtigkeit für ihn, aber zerstört nichts. So wünscht es sich seine Familie.›» 500 Euro, so viel konnte ihr Freund monatlich seiner Familie schicken. Biret will versuchen, ein wenig davon mit ihrem Gehalt auszugleichen. Eine Solidaritätskollekte für Camara hat bislang 8600 Euro zusammengebracht. Für den Polizisten, der Nahel Merzouk getötet hat, sind bislang fast anderthalb Millionen Euro gespendet worden.
«Justice pour Alhoussein» ist ein spontan ins Leben gerufener Verein, der sich nun regelmässig im Jugendzentrum trifft, sich neue Aktionen zum Gedenken an den Toten überlegt oder einfach nur ein Ort des Austauschs sein will. Auch Bob und Jasmine waren beim ersten Treffen des Komitees dabei. Sie sind Mittzwanziger und im Künstler:innenmilieu unterwegs, denn Angoulême ist ein Zentrum der französischen Comicszene. Sie engagieren sich für die Rechte von Migrant:innen, gegen die Politik der Regierung und gegen den Kapitalismus. Ihr «Nouveau Parti anticapitaliste» hat hier rund dreissig Anhänger:innen. Er unterstützt feministische Gruppen und Umweltaktivist:innen.
«Wir sind zugegeben eine sehr weisse Partei. Aber wir sind trotzdem in Kontakt mit vielen Zugewanderten. Die Milieus leben im Alltag nicht zusammen, aber wir unterstützen sie», sagt Jasmine. «Sie sind schon etwas misstrauisch, haben Angst, dass wir Alhousseins Geschichte instrumentalisieren. Aber sie brauchen eine politische Stimme.» Sie fügt an: «Viele in der Linken werfen den Leuten aus den Banlieues vor, sich nicht an den klassischen Demos zu beteiligen. Aber man muss auch verstehen, wie sehr sich diese Menschen in Gefahr begeben, wenn die Polizei präsent ist. Das ist nicht das Gleiche für uns.» Deswegen könne man von den Bewohner:innen der Banlieues nicht erwarten, dass sie auf die gleiche Art ihren Protest zum Ausdruck brächten. «Wir können aber viel von ihnen lernen. Wenn wir zusammenarbeiten, dann können wir diese Kämpfe verbinden», fügt Bob an.
Dass die Wut jetzt hochkoche, sei auch die Schuld der etablierten Linken, die unter dem früheren Präsidenten François Hollande, in den viele Vorstadtbewohner:innen Hoffnungen gesetzt hätten, letztlich eine rechte, liberale Politik gemacht habe. Für eine lang geplante Demo gegen Polizeigewalt am kommenden Wochenende haben sich jetzt viele linke Bewegungen mit «Justice pour Alhoussein» zusammengeschlossen. Auch Biret, die bislang nie bei Demonstrationen dabei war, wird auf die Strasse gehen.