Tagesschule: Pionierplan: Kinder von sieben bis sieben abgeben

Nr. 47 –

Eine kantonale Initiative der Alternativen Liste Schaffhausen fordert die flächendeckende Einführung betreuter Tagesschulen. Es wäre ein wichtiges Signal an die Restschweiz. Doch Regierung und Parlament geht es bloss um das – fehlende – Geld.

Der Kanton Schaffhausen ist quasi das Altersheim der Schweiz. Der Altersdurchschnitt der ständigen Wohnbevölkerung lag letztes Jahr gemäss Bundesamt für Statistik bei 43,8 Jahren – nur im Tessin, in Graubünden und in Baselland sind die BewohnerInnen noch älter.

Zumindest auf dem Papier ist die bürgerlich dominierte Regierung gewillt, ihren greisen Kanton zu verjüngen. Bereits 2010 verfasste das Erziehungsdepartement einen Bericht zur Familienpolitik. Der liest sich allerdings wie eine Gebrauchsanweisung für einen Tiefkühler. Wenig verwunderlich, dass die emotionale Kälte, mit der die Kantonsregierung dem Thema begegnet, sieben Jahre Stillstand gebracht hat.

Das könnte sich nun ändern: Vor zwei Jahren reichte die Alternative Liste Schaffhausen (AL) die Volksinitiative «Tagesschule 7 to 7» ein, über die am kommenden Wochenende abgestimmt wird.

Die Initiative fordert die flächendeckende Einführung von Betreuungsstrukturen in öffentlichen Kindergärten und Primarschulen während zwölf Stunden – also beispielsweise von 7 bis 19 Uhr, deshalb der Name «7 to 7». Die Nutzung soll freiwillig sein; wer sein Kind über Mittag oder nachmittags selbst betreuen will, darf das auch künftig tun. Die Initiative sieht ausserdem vor, dass die Betreuungsstrukturen gänzlich über Steuereinnahmen finanziert werden, die Eltern hätten also keine zusätzlichen Kosten.

«Die Annahme der 7-to-7-Initiative würde einen hohen volkswirtschaftlichen Nutzen bringen», ist Nicole Hinder, Kopräsidentin der AL, überzeugt. «Viele junge Familien haben das Bedürfnis nach Betreuungsstrukturen in Kindergärten und Schulen, doch es gibt schweizweit kaum Angebote. Für Schaffhausen wäre das ein grosser Standortvorteil», sagt die 32-jährige Sozialwissenschaftlerin.

Schweiz steckt im Mittelalter

Eine Einschätzung, die Nadine Hoch, Geschäftsleiterin des Verbandes Kinderbetreuung Schweiz (Kibesuisse), teilt: «Will ein Kanton seine Bevölkerung verjüngen, so bedarf es familienfreundlicher Massnahmen. Ein flächendeckendes Tagesschulangebot wäre eine sehr zielführende Massnahme.»

Für Hoch bieten Tagesschulen vielerlei Vorteile: «Weniger Stress im Tagesablauf der Kinder sowie in der Organisation des Alltags der Eltern. Die Vereinbarkeit zwischen Familie und Erwerbstätigkeit kann besser gewährleistet werden, wovon auch die Wirtschaft profitiert.» Und die Schulen hätten die Möglichkeit, Kinder in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen und so Bildung nicht nur schulisch, sondern auch sozial und persönlich anzubieten. Hoch findet allerdings, dass die Eltern zumindest die Mahlzeiten bezahlen sollten, «denn für diese Kosten müssen sie auch aufkommen, wenn das Kind zu Hause isst».

Auch Christine Flitner, Zentralsekretärin für Bildung und Erziehung beim Schweizerischen Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD), begrüsst die Initiative. «Gerade in konservativen Kantonen geht es familienpolitisch kaum vorwärts. Deshalb ist die Debatte rund um die Initiative – selbst wenn sie chancenlos bleiben dürfte – sehr wichtig. Sie rückt wichtige Fragen wie jene der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ins Zentrum.»

Ganz glücklich ist Flitner mit «7 to 7» allerdings nicht. «Die Initiative bleibt bezüglich der Qualität der Betreuung vage. So besteht die Gefahr, dass bei der Umsetzung der Schulunterricht und die Betreuung als zwei getrennte Bereiche betrachtet werden.» Im Idealfall sei die Betreuung aber integraler Bestandteil eines schulischen Gesamtkonzepts.

«Dafür ist ein grundlegender Wandel nötig», so Flitner. «Es braucht gut ausgebildetes Personal und vor allem auch eine enge Kooperation auf Augenhöhe zwischen Lehrerinnen und Lehrern, Schulverwaltung und Betreuungspersonal.» Dieser Wandel sei mit hohen Investitionen verbunden, weil es nicht nur qualifizierte BetreuerInnen, sondern auch neue Räume und bauliche Massnahmen in den Schulhäusern brauche. «Eine so grosse und wichtige Aufgabe müsste eigentlich vom Bund gefördert werden», sagt Flitner. Leider kommt von den zuständigen Stellen – namentlich der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Bundesamt für Sozialversicherungen – schlichtweg nichts.

Zur Inspiration ist ein Blick ins Nachbarland Deutschland hilfreich. «Dort hat der Bund im letzten Jahrzehnt eine vier Milliarden Euro schwere Anschubfinanzierung für bauliche Massnahmen beschlossen. Seither ist der Anteil von Schülern, die eine Tagesschule besuchen, von zehn auf vierzig Prozent gestiegen», sagt Flitner.

Davon sind wir hierzulande noch weit entfernt. «Die Schweiz tut sich immer schwer mit Veränderungen», sagt Nadine Hoch von Kibesuisse. Familienpolitik sei eine Querschnittspolitik, und in der Schweiz hätten Familien auf oberster Staatsebene keine Lobby: «Das ist nicht wie in Deutschland, wo es ein Familienministerium gibt. Das fehlt eindeutig.» Immerhin: Gerade in den grösseren – meist links-grün regierten – Städten gehe die Tendenz eindeutig in Richtung Tagesschulen, stellt Hoch fest.

«Völlig nutzloser» Gegenvorschlag

Es ist unwahrscheinlich, dass der Kanton Schaffhausen nach diesem Abstimmungswochenende bezüglich Tagesschulen eine Pionierrolle einnehmen wird. Regierung und Kantonsparlament haben einen Gegenvorschlag ausgearbeitet, den Christine Flitner als «völlig nutzlos» bezeichnet, weil er «keinerlei Verpflichtungen enthält und deutlich ausstrahlt, dass man nicht wirklich etwas tun will».

Die Gemeinden entscheiden freiwillig, ob sie in den Kindergärten und Primarschulen Betreuungsstrukturen anbieten. Schulunterricht und Betreuung bleiben strikt getrennt, und der Kanton steuert maximal 25 Prozent der Kosten bei – den Rest müssten die Gemeinden und die Eltern übernehmen.

Während die SVP sowohl die Initiative als auch den Gegenvorschlag ablehnt, weibeln die anderen bürgerlichen Parteien für den Gegenvorschlag. So bleibt die von Flitner erhoffte familienpolitische Debatte beim Geld stecken. Themen wie Chancengleichheit – internationale Studien belegen etwa, dass Tagesschulen die Sprachförderung unterstützen – oder Gleichstellung kommen kaum zur Sprache.

Mutwillig geleerte Kantonskassen

Und finanziell ist tatsächlich nichts zu holen in Schaffhausen. Mit einer aggressiv vorangetriebenen Tiefsteuerpolitik haben Regierung und Parlament nämlich selbst dafür gesorgt, dass die Kantonskasse notorisch leer ist. Die von der Regierung ausgerechneten Mehrkosten von zehn Millionen Franken im Fall einer Annahme der Initiative sind deshalb praktisch ein Totschlagargument.

AL-Kopräsidentin Nicole Hinder hofft auf ein gutes Abstimmungsresultat in der Stadt Schaffhausen, um das Thema politisch weiter vorantreiben zu können. «Mein Vater, der bürgerlich wählt und in einem Dorf im Klettgau lebt, kam letzthin zu mir und meinte: ‹So abwegig ist eure Idee ja gar nicht. Bei uns gab es schon vor sechzig Jahren ein Schwesternheim, wo die Bäuerinnen ihre Kinder abgeben konnten, um auf den Feldern zu arbeiten.›» Sie wisse nicht, ob ihr Vater am kommenden Wochenende Ja stimme, aber bei ihm habe immerhin ein Denkprozess begonnen.

Stadt Zürich geht voran

Letztes Jahr lancierte das Stadtzürcher Schuldepartement das Projekt «Tagesschule 2025». Fünf Schulhäuser bieten ihren SchülerInnen seither über Mittag Verpflegung und Betreuung an. Anfang September fand eine erste Auswertung des Projekts statt: Das freiwillige Angebot wird von neunzig Prozent der SchülerInnen genutzt, die Akzeptanz – auch beim Schulpersonal und den Eltern – ist gross.

In den nächsten Jahren soll die Zahl der Tagesschulen auf dreissig erhöht werden. Dafür müssen die Stadtzürcher Stimmberechtigten im Sommer 2018 allerdings einem Kredit von 68 Millionen Franken zustimmen.