Kommentar: 1. Mai? Verboten!

Nr. 19 –

Am 1. Mai zeigte sich: Die Polizei nutzt jeden Raum aus, der ihr gewährt wird. Sie schreckt dabei auch vor bizarren Interventionen nicht zurück.

Der 1. Mai stand im Zeichen des Coronavirus und der Repression. Die Polizei profilierte sich als Hauptdarstellerin: Insbesondere in Zürich und Bern verhinderte sie jegliche Kundgebungen unabhängig davon, ob diese die geltenden Hygienevorschriften einhielten. Damit setzte sie eigenmächtig Standards über die vom Bund vorgegebenen Massnahmen hinaus und verunmöglichte die freie Meinungsäusserung grossflächig.

In Zürich löste die Polizei immer wieder, meist mit Gummischrot im Anschlag, kleinere Ansammlungen auf – so etwa eine Protestaktion von Angestellten des öffentlichen Dienstes bei der Gemüsebrücke. Beim Stauffacher wurde eine Aktivistin während einer Polizeikontrolle von ihrem schreienden Kind getrennt, wie ein Video dokumentiert, das in den sozialen Medien kursiert. Zahlreiche Verhaftete berichten gegenüber dem Magazin «Ajour» von schikanösen Behandlungen.

Ähnliche Vorfälle gab es in Bern: Der 97-jährige pensionierte Lokführer Moritz Rapp war in Begleitung eines Freundes auf den Strassen unterwegs, als die Polizei ihre Gewerkschaftsfahne konfiszierte. Die Polizeibeamten monierten, die Fahne würde SympathisantInnen auffordern, sich ihnen anzuschliessen. Auch 1.-Mai-Plakate an Kinderwagen wurden beschlagnahmt. Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause rechtfertigte das Vorgehen auf Tele Bärn mit dem Kundgebungsverbot des Bundesrates: «Dieses wird relativ absolut durchgesetzt.» Die Polizei habe keinen Auslegungsspielraum, ergänzt Ramona Mock, Mediensprecherin der Kantonspolizei Bern, auf Anfrage. Ähnlich äussert sich auch Marco Cortesi im Namen der Stadtpolizei Zürich: «Es besteht ein absolutes Veranstaltungsverbot. Dieses gilt sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Raum.»

Das stimmt so nicht: Das Bundesamt für Gesundheit wies im Vorfeld des 1. Mai auf Anfrage des «Tages-Anzeigers» explizit auf den Spielraum der Behörden bei der Auslegung des Kundgebungsverbots hin. Die Medienstellen der Stadtpolizei Zürich und der Kantonspolizei Bern sehen das Recht auf freie Meinungsäusserung dennoch nicht verletzt. Cortesi beurteilt den Einsatz gar als «verhältnismässig und konsequent». Das widerspricht den zahlreichen Berichten über polizeiliche Übergriffe, die der WOZ vorliegen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International äussert sich in einer Pressemitteilung besorgt über die Geschehnisse rund um den 1. Mai. Meinungsäusserungen seien auch dann nicht toleriert worden, wenn sie von Einzelpersonen mit Transparenten ausgingen. Dass PolizistInnen zudem keine Schutzmasken trugen, zeugt davon, dass es der Polizei nicht um die Durchsetzung gesundheitlicher Vorgaben ging, sondern um die Verhinderung unliebsamer Proteste.

Der diesjährige 1. Mai lässt das Bild einer Polizei entstehen, die den Raum, der ihr gewährt wird, unkontrolliert und in ihrem Sinne ausnutzt. Dabei kann sie auf viele Repressionsinstrumente zurückgreifen, die sie in den letzten Jahren erhalten hat – in Zürich zum Beispiel seit 2009 den Wegweisungsartikel. Die Stadtpolizei Zürich hat am 1. Mai 113 Wegweisungen ausgesprochen, obwohl keine grösseren Kundgebungen stattfanden. Und wieder einmal stellt sich die Frage: Wer kontrolliert eigentlich die Polizei?