Asylpolitik: Tatort Besinnungsraum

Nr. 20 –

Recherchen zeigen: Im Basler Bundesasylzentrum Bässlergut kommt es immer wieder zu Gewalt. Die Behörden wiegeln ab. Doch brisanter als die einzelnen Fälle ist die Systematik.

Schläge im Besinnungsraum – oder eine Selbstverletzung an einem Türrahmen, wie der Sicherheitsdienst behauptet? Der Asylsuchende lag daraufhin wegen starker Schmerzen im Bauch zwei Tage im Spital. ILLUSTRATION: «SRF-RUNDSCHAU», SIMON RENFER

Ein Tag Ende April. Lotfi Rezgani sitzt auf einem der Metallstühle, die im Basler Horburgpark herumstehen. Hebt er beim Reden die Arme, klackern die Reissverschlüsse auf seiner schwarzen Lederjacke und verleihen dem Gesagten noch mehr Dringlichkeit: «Man hört immer, die Schweiz sei das Land der Gerechtigkeit. Heute weiss ich, dass das nicht stimmt.»

Der zweifache Familienvater stammt aus Tunesien und ist in den Horburgpark gekommen, um von der Gewalt zu berichten, der er und andere Asylsuchende im Basler Bundeszentrum Bässlergut im Niemandsland zwischen Gefängnis, Autobahn und Landesgrenze ausgesetzt sind. Einer Gewalt, von der er selbst einen blauen Knöchel davongetragen hat, die in anderen Fällen aber auch schon mit einem mehrtägigen Spitalaufenthalt endete.

Über Wochen haben die WOZ und die SRF-«Rundschau» mit Asylsuchenden, Securitas-Mitarbeitenden und AktivistInnen gesprochen. Dank des Öffentlichkeitsgesetzes konnte zudem Einsicht in vertrauliche Protokolle der Sicherheitsleute aus den letzten vier Jahren genommen werden. Bis auf Rezgani wollen alle GesprächspartnerInnen anonym bleiben: die Asylsuchenden, weil sie Angst um ihr Verfahren haben, die Securitas-MitarbeiterInnen, weil sie eine Kündigung befürchten. Die gemeinsame Recherche zeigt erstmals das Ausmass der Gewalt im Bässlergut – und macht die gewalttätigen Strukturen des Schweizer Asylsystems sichtbar.

Diszipliniert und fixiert

Im Zentrum der Konflikte steht oft ein Ort, der im Behördenjargon «Besinnungsraum» heisst und den die Asylsuchenden «Silo» oder «Zelle» nennen: ein kleines, fensterloses Zimmer, ausgestattet mit einer Matratze und verriegelt durch eine schwere Metalltür. Räume wie diese stehen in den meisten Bundeszentren zur Verfügung – als Ultima Ratio, um BewohnerInnen bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Im Bässlergut gibt es gleich zwei davon. «Wenn man zu spät ins Zentrum kommt oder Probleme macht, muss man dorthin», sagt Rezgani.

Nach der dienstlichen Anweisung des Staatssekretariats für Migration (SEM) beträgt die «maximale Isolationszeit» im Besinnungsraum zwei Stunden. Im Bässlergut wurden aus zwei Stunden auch schon ganze Nächte, wie die Protokolle des Sicherheitsdiensts zeigen. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter übt grundsätzliche Kritik an der Massnahme: Sie geschehe ohne hinreichende gesetzliche Grundlage, schreibt das Gremium in einer Untersuchung von 2018.

Die Konflikte, die im Besinnungsraum enden, beginnen meist mit einer Kleinigkeit: Ein Bewohner darf sein Handy nicht auf dem Gang aufladen, ein anderer kommt zu spät ins Zentrum, es gibt Probleme bei der Essensausgabe. Aus Protesten gegen die Disziplinierungsmassnahmen der Sicherheitsleute kann schnell ein handfester Streit werden.

Protokoll vom 27. Dezember 2019, Titel: «Aggressiver AS», Eintrag von 9.00 Uhr: «Der AS [Asylsuchende] weigert sich renitent aus dem Bett zu kommen und beschimpft alle Anwesenden. Der AS zeigt ein erhöhtes Aggressionsverhalten. […] AS versucht ODS [Ordnungsdienstspezialist] einen Faustschlag zu geben. ODS geht dazwischen und wehrt Situation verhältnismässig mit SV [Selbstverteidigung] ab. Daraufhin fixieren ODS den AS verhältnismässig und bringen ihn zum Besinnungsraum. Während dem Fixieren wehrt sich der AS mit voller Kraft und stösst sich beim Türrahmen.» Nächster Eintrag, 9.45 Uhr: «Der AS klagt über starke Schmerzen in der linken Bauchgegend und verlangt einen Krankenwagen.»

Schmerzen im Bauch durch eine Selbstverletzung am Türrahmen? Der betroffene Asylsuchende, mit dem die WOZ sprechen konnte, schildert die Ereignisse anders: «Ich war krank und habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Am Morgen kamen die Securitas, es war sehr kalt, doch sie öffneten das Fenster, nahmen mir die Decke weg. Sie nahmen mich mit Gewalt mit und brachten mich in den Raum. Dort schlugen sie mich in den Bauch, bis ich nicht mehr atmen konnte. Ich kam für zwei Tage ins Spital.»

Ein weiteres Beispiel aus einem Protokoll der Securitas, datiert vom 3. Februar 2020, Titel: «Versuchter Angriff auf Securitas-Mitarbeiter», Eintrag um 12.10 Uhr: «AS wollte bei der Essensausgabe ohne Karte essen beziehen. ORS [Mitarbeiter der Betreuungsfirma] sagte zum AS, dass er die Karte vorher holen muss. AS war das egal und nahm sich trotzdem Essen. […] ODS versucht zu deeskalieren und dem AS nochmals die Hausregeln zu erläutern jedoch erfolglos.»

Nächster Eintrag, 12.12 Uhr: «Als ODS die Türe zum Logenbereich öffnete, sah der AS den ODS und wollte ihn unverzüglich angreifen. Daraufhin wird Notwehr angewendet und der AS wird verhältnismässig fixiert und in den Besinnungsraum platziert. Er wird nach Leitfaden auf gefährliche Gegenstände durchsucht und die Türe wird arretiert.»

Auch diesmal weicht die Version des betroffenen Asylsuchenden von jener des Sicherheitsdiensts ab: «Der Securitas wollte, dass ich die Identitätskarte zum Essen mitnehme. Wenn ich keine habe, müsse ich auf die neue warten. Ich habe mir dann einfach etwas genommen. Der Securitas nahm mir das Essen weg, steckte mich in den Raum und schlug mich. Bis abends um elf Uhr gab es nichts zu essen.»

Auch Lotfi Rezgani sagt, er sei Opfer eines Übergriffs geworden. Im Basler Horburgpark berichtet er über den Vorfall, der mit einem geschwollenen Knöchel endete. «Ich habe telefoniert, dann hat jemand ein Glas geworfen und mich getroffen. Ich fragte, was das solle, habe laut mit ihm geredet. Die Securitas sind auf mich zugerannt, sie haben nichts gefragt, sie haben mich einfach gestossen und am Kragen gepackt. Ich habe mich dann gewehrt. Es waren vier gegen einen.»

Dokumentiert ist die Gewalt auch in einem Schreiben von drei Bewohnern, in dem sie sich Anfang Februar beim SEM beschweren. Man habe Kenntnis davon, schreibt Pressesprecher Lukas Rieder, könne aber keine Stellung nehmen: «Da in diesem Zusammenhang mehrere Strafanzeigen eingereicht wurden, handelt es sich um ein laufendes Verfahren.» Dem SEM obliegt die Verantwortung für das Bundesasylzentrum, es nimmt auch im Namen der Firma Securitas Stellung.

«Sie mögen die Araber nicht»

Den Umgang der Securitas führt Lotfi Rezgani auf Rassismus gegenüber Asylsuchenden aus dem Maghreb zurück. «Sie mögen die Araber nicht», sagt er. Allen anderen gegenüber verhielten sich die Sicherheitsleute normal. Ähnlich sehen das auch die anderen Asylsuchenden: «Wir werden behandelt wie Hunde, wenn sie sehen, dass wir Araber sind», sagt einer.

Die Sicherheitsleute, mit denen die WOZ über ihre Arbeit sprechen konnte, bestätigen, dass die meisten Zwischenfälle junge Männer aus dem Maghreb betreffen. Häufig seien diese alkoholisiert oder bekifft, auch sprachliche Missverständnisse führten zur Eskalation. Die Situation ist für die MitarbeiterInnen belastend: «Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, bin ich mit den Nerven fertig. Manchmal erhalten wir auch Morddrohungen», sagt einer. Doch auch für die jungen Männer sei die Lage schwierig, weil sie über keine Perspektiven auf Asyl verfügten. «Viele fügen sich Selbstverletzungen zu, ritzen sich mit Rasierklingen. Das ist schockierend.» Die Menschen hätten keine Chance und nichts zu verlieren. «Das System begünstigt diese Vorfälle.»

Laut dem SEM würden alle Personen grundsätzlich gleich behandelt. Es gebe allerdings tatsächlich junge Männer aus Nordafrika, die «sehr negativ» auffielen. Es liege in der Natur der Sache, dass man bei denen genau hinschaue, die schon einmal Probleme gemacht hätten. Viele verhielten sich aber «absolut korrekt».

«Dass sich die Gewalt besonders gegen Menschen aus dem Maghreb richtet, ist eine rassistische Praxis», kritisiert Marc Allamand vom Basler Kollektiv «Drei Rosen gegen Grenzen». Die meist jungen Männer hätten im Asylverfahren schlechte Karten und würden rasch wieder ausgewiesen. «Zudem sind sie gesellschaftlich stigmatisiert, weil sie angeblich sowieso nur Probleme machen.» Auch wenn die Männer in der öffentlichen Wahrnehmung kräftig wirkten, seien sie rechtlich gesehen in der schwächsten Position.

Zu den Vorwürfen der Asylsuchenden, dass sie regelmässig Opfer gewalttätiger Übergriffe werden, schreibt das SEM: «Wir haben keine Hinweise darauf, dass die Sicherheitsdienstleister in Basel oder in anderen Bundesasylzentren unverhältnismässigen Zwang anwenden. Das SEM würde dies nicht dulden und entsprechend sanktionieren.» Die Anwendung von Zwang dürfe nur das letzte Mittel sein, um sich und andere zu schützen.

Dieses letzte Mittel kommt im Bässlergut allerdings fast täglich zum Einsatz, wie die Securitas-MitarbeiterInnen bestätigen. «Im Normalfall haben wir pro Woche zwei bis sechs Auseinandersetzungen», sagt einer. Dabei handle es sich stets um Selbstverteidigung. «Wenn jemand die Faust hochzieht, dann muss ich nicht warten, bis er mich schlägt, sondern darf ihn zuerst packen. Das ist Notwehr, das ist das Gesetz.» Früher habe es auch einen Mitarbeiter gegeben, der grundlos zugeschlagen habe. Dieser sei aber wegbefördert worden.

Hinter der Mauer

Die Gruppe «Drei Rosen gegen Grenzen» hat diese Woche einen Bericht fertiggestellt, in dem sie die Übergriffe dokumentiert: Würgemale am Hals, Prellungen im Gesicht, Platzwunden, innere Verletzungen – insgesamt über ein Dutzend Fälle. «Die Berichte decken sich, das Muster ist immer gleich», sagt Marc Allamand, «es gibt keinen Grund, an ihrer Richtigkeit zu zweifeln.»

Aufgrund der von der WOZ und der «Rundschau» publizierten Informationen verspricht das SEM, die Vorwürfe der Asylsuchenden zu prüfen. «Es geht uns bei unserer Kritik aber nicht bloss um einzelne gewalttätige Securitas», sagt Sophie Pilarek, die ebenfalls bei «Drei Rosen gegen Grenzen» engagiert ist. Die AktivistInnen betonen, dass sie die Gewalt als strukturell bedingt erachten: Im System, das mit den neuen beschleunigten Verfahren geschaffen worden sei, bleibe die Zivilgesellschaft von den Zentren ausgeschlossen. «Hinter den Mauern ist Gewalt möglich, wird Gewalt provoziert und gedeckt.» Die Gruppe fordert zwar eine Untersuchung der Vorfälle, letztlich brauche es aber eine politische Antwort. «Die Lagerstruktur muss aufgelöst werden.»