Wilhelm Reich: So züchtet die Kleinfamilie Rechtsextreme

Nr. 20 –

Warum die ArbeiterInnen nicht zwangsläufig links sind: In seiner «Massenpsychologie des Faschismus» demonstrierte Wilhelm Reich schon 1933 einen facettenreichen Erklärungsansatz.

Im trauten Heim: Hier bildet sich laut Wilhem Reich der autoritäre Charakter. FOTO: ALAMY

Es ist die alte Hänschenfrage: Weshalb stimmen und wählen Menschen gegen ihre eigenen Interessen? Warum lassen sich US-amerikanische und englische IndustriearbeiterInnen von Demagogen zur metaphorischen Schlachtbank führen?

Die erste historische Zäsur, die den Fortschrittsglauben der ArbeiterInnenbewegung erschütterte, war der Faschismus. Der kommunistische Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897–1957) folgerte daraus, dass die bisherigen Erklärungen zum politischen Engagement versagt hätten. Bereits im Herbst 1933 veröffentlichte er die «Massenpsychologie des Faschismus», die einen neuen Ansatz präsentierte. Bekannt geworden ist diese Analyse später in einer wesentlich veränderten Fassung. Jetzt liegt der «Originaltext von 1933», reich kommentiert von Andreas Peglau, neu vor.

Reichs Ausgangspunkt ist klar: Es reicht nicht, mit ökonomischen Interessen und der Klassenlage zu argumentieren, um die Massen zu überzeugen. Ebenso wichtig sind die Ideologie, die Mentalität, psychische Verhältnisse. Tatsächlich hat Reich eine Betrachtung vorgespurt, die den Alltag und die Institutionen der Zivilgesellschaft untersucht: wie sich die Menschen einrichten in der Welt, wie sie widersprüchlich denken und handeln und wie sie solche Widersprüche aushalten.

Vordergründig konzentriert sich Reich auf das Kleinbürgertum, meint damit aber auch weite Teile der Arbeiterklasse. Ausführlich zitiert er aus den Schriften Hitlers sowie aus christlicher Erbauungsliteratur und zeigt in prägnanten Einzelanalysen, wie darin eine Weltanschauung von oben konstruiert und von unten aufgegriffen wird. Machtverhältnisse und Konkurrenzsituation in der Kleinfamilie reproduzieren sich im alltäglichen Verhalten. Familie, Nation, Kirche: Sie alle tragen zur Bildung eines autoritären Charakters bei. Dieser ist vom Psychoanalytiker Erich Fromm und der Frankfurter Schule teils parallel, teils ein Jahrzehnt später untersucht worden.

Die Macht des Alltags

Reichs Buch ist nicht einfach zu lesen. Terminologie und Argumentarium entstammen dem zeitgenössischen Handgemenge, gegen die ökonomistischen Ansätze der orthodoxen kommunistischen Bewegung. Dagegen wird Reich im Überschwang der Polemik und des eigenen Prophetentums gelegentlich fortgerissen. Denn er hat eine entschiedene Meinung, wie der autoritäre Charakter entsteht: aus gestörter Sexualität. In der gesellschaftlich vorherrschenden bürgerlichen Kleinfamilie werde die sexuelle Energie gehemmt und dann abgeleitet, in die Religion, in allerlei Mystizismen, in den Nationalismus und den Führerkult.

Zuweilen vergisst er darob den Vorsatz, nicht eindimensional zu argumentieren, und macht die gestörte Sexualität zum alleinigen Grund autoritären Verhaltens. Entsprechend beschränkt fällt der Vorschlag zur Abhilfe aus: «Sexuelle Bewusstheit ist das Ende jedes mystischen Empfindens und jeder Religion.» In der Konzentration auf die Sexualität bleibt er Sigmund Freud verhaftet, von dem er sich doch abgegrenzt hatte. Sichtbar wird zudem ein klassenmässig zugespitzter «Rousseauismus»: Die proletarische Sexualität – zumindest die genitale, heterosexuelle – ist angeblich frei, ungezwungen und wird erst durch die «Verkleinbürgerlichung» und die staatlichen Institutionen verbogen. Unter dieser Prämisse hatte Reich seit 1927 in der psychoanalytischen Praxis und durch den Aufbau eines Verbands für proletarische Sexualreform eine andere Sexualpolitik ausprobiert.

Moralische Kompensation

Reichs Versuch, Marx und Freud zu synthetisieren, wurde von beiden Seiten mit Anfeindungen beantwortet. Aus der kommunistischen wie der psychoanalytischen Internationale ausgeschlossen, führte ihn ab 1933 eine Odyssee über Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen 1939 in die USA. Dort widmete er sich zunehmend der Erforschung einer von ihm «Orgon» genannten Lebensenergie. Worauf ihn die US-Behörden als vermeintlichen Spion ebenso wie als Pornografen verfolgten; Reich starb 1957 im Gefängnis an Herzversagen.

Die dritte Auflage der Massenpsychologie (Fassung von 1946), die im Gefolge von 68 und des damals neu entfachten sexualpolitischen Interesses einiges Aufsehen erregte, war im Lichte der «Orgontheorie» überarbeitet worden; lebensgeschichtlich eine tragische Sackgasse. Mit der ersten Fassung von 1933 aber liegt ein Buch vor, das, von Schlacken befreit, einiges zu autoritären Strukturen und ihrer Indienstnahme durch den aktuellen Rechtspopulismus und -extremismus zu sagen hat.

Dies nicht in anachronistischer Übertragung, sondern im Hinweis auf vergleichbare Mechanismen und Prozesse. «Was wirtschaftlich unzulänglich ist, muss moralisch kompensiert werden» – das bezeichnet den Ausgangspunkt für den «Kampf der Werte» in den USA. Und der von Reich verwendete Begriff des «nationalen Narzissmus» – ein der Grösse der Nation entliehenes Selbstwertgefühl – findet sein Echo in «America First» und der Forderung nach einer «Rückgewinnung der britischen Souveränität» ebenso wie der darin verfestigte Glaube an den populistischen Führer.

Andreas Peglau (Herausgeber): Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Psychosozial-Verlag. Giessen 2020. 284 Seiten. 42 Franken