Rahel Jaeggi: «Die autoritären Bewegungen wollen system­sprengend sein»

Nr. 8 –

Im Gehen entsteht der Weg: Die in Berlin lehrende Philosophin Rahel Jaeggi erklärt, warum wir eine Krise der Krisenbewältigung erleben – und Fortschritt vor allem als Lernprozess denken sollten.

Portraitfoto von Rahel Jaeggi
«Statt sich den Herausforderungen zu stellen, werden Scheingefechte geführt»: Rahel Jaeggi.


WOZ: Frau Jaeggi, autoritäre Bewegungen erstarken, das Klima erhitzt sich, im Mittelmeer ertrinken Flüchtlinge: Leben wir in regressiven Zeiten, fallen wir also in eine frühere Epoche zurück?

Rahel Jaeggi: In vielerlei Hinsicht schon. Regression ist eine Krise der Krisenbewältigung – und in einer solchen befinden wir uns offensichtlich. Versteht man Regression als blockierten Lern- und Erfahrungsprozess, zeigt sich klar, dass einiges blockiert ist. Obwohl wir seit Jahrzehnten um die ökologischen Krisen wissen, gelingt es uns nicht, sie angemessen zu adressieren. Der Bericht des Club of Rome 1972, die Anti-AKW-Bewegung: Uns ist lange bekannt, welche Probleme unsere Lebensweise mit sich bringt. Dass es schwierig ist, dafür Lösungen zu finden, ist nicht der Punkt. Mich interessiert, inwiefern es soziale Strukturen, gesellschaftliche Praktiken und Institutionen, Machtverhältnisse und Ideologien systematisch verhindern, sich eine andere Lebens- und Wirtschaftsweise auch nur vorzustellen, geschweige denn, auf die Krisen angemessen zu reagieren.

Wir blockieren uns selbst, indem wir unser Vorstellungsvermögen einschränken oder uns sogar Denkverbote auferlegen?

Und Dinge nicht einmal wahrhaben wollen. Wenn wir einen schönen Strandurlaub am Mittelmeer verbringen und verleugnen, dass im selben Meer Boote kentern und die europäischen Regierungen Menschen bewusst ertrinken lassen, ist das nicht nur brutale moralische Indifferenz. Es geht auch nicht einfach um fehlende humanitäre Hilfe und um Menschenrechtsverletzungen, das ist entsetzlich genug. Wir führen uns darüber hinaus nicht vor Augen, wie sehr diese Vorgänge unseren politischen Bezugsrahmen erschüttern und dass sie für eine Krise unserer Weltordnung stehen. Auch das lässt sich als strukturelle Erfahrungsblockade beschreiben. Statt sich den Herausforderungen zu stellen, werden Scheingefechte geführt.

Kritische Theoretikerin

Rahel Jaeggi (57) wurde in Bern geboren, mit vierzehn Jahren zog sie nach Berlin in ein besetztes Haus. Heute ist sie Professorin für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität.

Die Vertreterin der zeitgenössischen Kritischen Theorie befasst sich in ihrer Forschung unter anderem mit Begriffen wie «Entfremdung», «Ideologie» und «Solidarität». 2020 veröffentlichte sie mit der US-Philosophin Nancy Fraser im Suhrkamp-Verlag den Band «Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie». Jüngst brachte sie ihr Buch «Fortschritt und Regression» heraus.

Rahel Jaeggi ist die Tochter der österreichischen Psychoanalytikerin Eva Jaeggi und des Schweizer Soziologen und Künstlers Urs Jaeggi.

«Fortschritt und Regression». Suhrkamp Verlag. Berlin 2023. 252 Seiten. 42 Franken.

 

Buchcover von «Fortschritt und Regression»

Wäre ich AfD-Anhängerin, könnte ich behaupten: Klar, wir haben ein Problem, finden keine Lösung – also lasst es uns mit Remigration versuchen. Das wäre doch eine neue Erfahrung, also ein Ausweg aus dieser strukturellen Erfahrungsblockade.

Aber ist das wirklich eine Erfahrung? Aus meiner Sicht ist die Idee der Remigration nicht nur praktisch absurd und moralisch widerwärtig. Sie ist auch ein klassisches Beispiel für Regressionsprozesse, nämlich das Resultat eines defizitären Modus der Problembewältigung. Bereits die Rahmung der Migration als Krise ist problematisch. Krise – für wen eigentlich? Und wer hat sie verursacht? Moderne Gesellschaften sind Migrationsgesellschaften. Schon der Konzeption von Gesellschaften als eine Art Haus, in das plötzlich unverschämt viele Menschen Einlass begehren, liegt angesichts der ökonomischen und politischen Verflechtungen der globalen Gesellschaften eine schiefe und verleugnende Wahrnehmung zugrunde.

Was wird denn verleugnet?

Dass wir den gesamten Rahmen demokratisch neu konzipieren müssen. Es ist nicht ein Problem einzelner Menschen, sondern ein strukturelles Problem. Die Erfahrung von Entfremdung und das Gefühl, in der Gestaltung unseres Lebens von Dynamiken bestimmt zu werden, über die wir nicht verfügen, wird auf die «Fremden» und das als fremd Wahrgenommene projiziert. «Regain control», die Wiedergewinnung von Kontrolle, ist die Losung der Zeit, aber schon die Problembeschreibung und die Zuschreibung der Ursachen für die Probleme sind unangemessen. Ganz abgesehen davon, dass es illusorisch ist, auf diese Weise Kontrolle zurückzugewinnen.

Sie kontrastieren Regression und Fortschritt, um Prozesse zu analysieren. Wie lässt sich Ihr begriffliches Instrumentarium konkret verwenden? Wie entscheide ich: Dieses ist fortschrittlich, jenes regressiv?

Das ist nicht ohne Konflikte entscheidbar. Aber der Verweis auf Fortschritt und Regression ändert die Frage und die Richtung der Analyse. Wenn ich eine Tendenz nicht einfach normativ bewerte, sondern als Regression analysiere, frage ich nach dem Verlauf des Prozesses von Problemlösungen: Was wird für wen zur Krise? Was wird als Krise identifiziert? Welche Probleme finden einen Platz auf der Agenda der politischen Aushandlung? Und werden sie angemessen adressiert?

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Ehe für alle. Kein einziger Arbeitsplatz geht verloren, weil es dieses Recht gibt. Doch offenbar rüttelt die Ehe für alle an Grundfesten der Gesellschaft und stellt bisherige Selbstverständlichkeiten infrage. Solche Veränderungen sind Teil einer umfassenderen Dynamik. Dazu gehört zum Beispiel auch, wie wir arbeiten und kommunizieren. Und darauf gibt es unterschiedliche Reaktionsweisen. Nicht alle sind geeignet, die Veränderungen auf emanzipatorische Weise mitzugestalten.

Und die Ehe für alle ist ein Fortschritt im Sinne eines Wandels zum Besseren?

Natürlich ist Fortschritt ein Wandel zum Besseren, dadurch unterscheidet er sich von blossem Wandel. Aber das ist nicht die Pointe meines Begriffs. Fortschritt ist ein sich anreichernder Erfahrungs- und Lernprozess.

Was macht einen fortschrittlichen Prozess aus?

Die Anreicherungsbewegung. Ein fortschrittlicher Prozess ist so verfasst, dass er sich anreichert, dass gelernt wird, dass Erfahrungen gemacht werden können und dass daraus weitere Erfahrungen erwachsen. Es geht um eine Zunahme an Reflexivität, nicht bloss um quantitatives Wachstum. Ideologien und festgefahrene Machtverhältnisse stören solche Prozesse systematisch. Das ist nicht ein zufälliges gesellschaftliches Nichtlernenwollen, kein zufälliges Versäumnis. Insofern könnte man sagen: Fortschritt ist die Abwesenheit von Regression, er lässt sich negativ bestimmen.

Und ein solcher Prozess führt schliesslich zum gewünschten Ziel: einer besseren Welt.

Um Fortschritt in meinem Sinne zu bestimmen, schaut man gerade nicht allein auf das Resultat oder hält inhaltlich fest, was zu erreichen wäre oder was schon erreicht wurde. Sondern man blickt auf das Wie, also auf den Prozess des Fortschreitens selbst und die Art und Weise, wie er sich vollzieht. Eben: auf fortschrittliche oder regressive Weise. Man bewegt sich nicht unbedingt hin zu etwas, sondern vor allem weg von – weg von den entsprechenden Problemen oder Krisen. Fortschritt ist also nicht auf ein klares und ausformuliertes Ziel angewiesen im Sinne einer Trophäe, an der man sich ausrichtet und die man am Ende des Weges einheimsen könnte.

Ist es nicht beides: «weg von», aber auch «hin zu»? Beim Kampf für das Frauenwahlrecht etwa stand ein klares Ziel vor Augen.

Ich stelle nicht infrage, dass soziale Bewegungen konkrete Ziele haben, sonst könnten sie keine Forderungen stellen. Und natürlich gibt es auch grosse und umfassende Ziele, von denen man sich in politischen und sozialen Kämpfen leiten lässt. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, oder besser: Solidarität. Aber was das bedeutet, zeigt sich erst im Vollzug. Es reichert sich an in der Auseinandersetzung mit den konkreten Gegebenheiten, auch mit den Widersprüchen und den vorher nicht absehbaren Folgeproblemen. Im Gehen entsteht der Weg.

Also ist alles relativ: Wenn der Prozess stimmt, ist egal, was schliesslich herauskommt.

Nein, gerade nicht. Mein Ansatz ist plural, aber er ist nicht relativistisch. Die Ausgangspositionen und Bedingungen von Gesellschaften unterscheiden sich, sie schlagen verschiedene Wege der Problemlösung ein. Diese unterschiedlichen Kontexte lassen sich nicht gegeneinander ausspielen oder aufrechnen. Nach dem Wie der Entwicklung zu fragen, soll den drohenden Relativismus gerade überwinden. Beurteilt werden nicht die substanziellen, inhaltlichen Gehalte, sondern die Qualität des Prozesses. Wenn ich von einem Lern- oder Erfahrungsprozess spreche, hat das normative Qualität: Wer würde nicht bejahen, dass es gut ist, etwas zu lernen?

Zynisch gefragt: Hat uns nicht auch der Nationalsozialismus ermöglicht zu lernen? Es wurde auf Probleme reagiert, Lösungen wurden gefunden, die zwar grauenhaft waren, aber wir haben – hoffentlich – viel daraus gelernt.

Dem barbarischen Grauen damit Sinn zu verleihen, halte ich nicht für moralisch legitim. Nicht nur wegen der Ungeheuerlichkeit der Opfer. Meines Erachtens ist das auch kein Beispiel eines gelingenden Lernprozesses. Im Gegenteil: Es ist ein Zivilisationsbruch, der erst einmal den gesamten und insbesondere den politischen Raum, in dem Erfahrungen gemacht werden könnten, zerstört hat. Gerade aus den Analysen des Faschismus lässt sich Regression verstehen. Das ist nicht einfach ein Schritt zurück, sondern der Versuch, eine Krise der kapitalistischen Moderne mit regressiven Mitteln zu lösen. Aber Regression erzeugt weitere Regression, und in diesem Fall hat das nicht zu einer Anreicherung von Erfahrungen geführt, vielmehr zu Traumata, mit denen vor allem die deutsche Gesellschaft bis heute beschäftigt ist.

Nur im Schlechten? Wer weiss, ob heute sonst Hunderttausende Menschen auf die Strasse gingen, um für Demokratie zu demonstrieren.

Nicht nur im Schlechten. Aber es wäre ohne Zweifel besser gewesen, ohne diesen Zivilisationsbruch dahin zu gelangen, wo wir heute stehen. Rosa Luxemburg hat damals gesagt: «Sozialismus oder Barbarei.» Auch im Sozialismus wäre man nicht auf goldenen Strassen der Sonne entgegengelaufen. Aber wir wären heute wahrscheinlich weiter, wenn wir die Lernerfahrung einer sich modernisierenden Gesellschaft nicht auf dem Weg der Barbarei gemacht hätten.

Lässt sich nur im Rückblick beurteilen, ob etwas ein Fortschritt ist?

Man blickt immer nach vorne und zurück. Die Einschätzung kann sich im Lichte neuer Erfahrungen natürlich wandeln. Aber wir sagen nicht: Ob es ein Fortschritt ist, wegen Homosexualität nicht mehr in den Knast zu kommen, müssen wir abwarten, das wissen wir erst in hundert Jahren. Es stimmt allerdings: Wenn man den Verlauf beurteilt, geschieht das rückblickend. Das bedeutet auch, dass der weitere Verlauf den Blick darauf verändern kann, was wir heute für fortschrittlich halten.

Warum ist es denn überhaupt sinnvoll, von Fortschritt zu sprechen?

Weil wir fortschrittlichen Wandel von Wandel überhaupt und von regressivem Wandel unterscheiden müssen. Die Kategorie des Fortschritts gibt uns ein Narrativ an die Hand, unsere Gegenwart unter dem Gesichtspunkt ihrer Widersprüche, aber auch ihrer Potenziale zu betrachten. Auf diese Weise lässt sich die Spanne ermessen zwischen dem, was möglich ist, aber nicht wirklich. Wenn man es nicht für sinnlos hält, sich zu fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen, wie es besser werden und wie man die Gesellschaft mitgestalten könnte, ist eine Fortschrittserzählung hilfreich.

Also eine Erzählung, die uns hilft zu verstehen, wo etwas im Argen liegt und wohin wir uns wenden sollten?

Ja, ein solches Narrativ beinhaltet eine Analyse der Bedingungen für soziale Transformationsprozesse. Deshalb halte ich die Kategorie des Fortschritts sozialphilosophisch und gesellschaftskritisch für informativer als das blanke normative Urteil, ob ein Zustand gut oder schlecht ist. Zumal es in einer pluralen Welt wenig Konsens über die Normen des Zusammenlebens gibt. In diesem Sinne kann man sagen: Gut ist, was das Resultat von Fortschritten ist, nicht umgekehrt.

Liesse sich etwas, das wir gemeinhin für fortschrittlich halten, etwa die Einführung des Frauenwahlrechts, überhaupt als Fortschritt verstehen, wenn wir auf einem schlechten Prozess dorthin gelangt wären?

Tatsächlich: eigentlich nein. Ich begrüsse das Frauenwahlrecht extrem, aber es wäre in meinem Sinne kein Fortschritt. Doch ermöglichen bisweilen äussere Mächte eine Veränderung, sodass historische Lernprozesse übersprungen werden. Denken Sie etwa an das besiegte Nazideutschland, das nach 1945 ohne eigenes Zutun die Chance auf einen demokratischen Neuanfang bekommen hat: Die Lernprozesse wurden erst nachgeholt. Es kommt dann darauf an, dass man sich das Ergebnis aneignet. Aber ja, nicht immer sind Verbesserungen beabsichtigt, sondern sie ergeben sich oft im Zuge einer breiteren Transformation von Selbstverständlichkeiten.

Zum Beispiel?

Die Vergewaltigung in der Ehe. Heute können wir uns nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der sich das nicht einmal denken liess. Vergewaltigung war ausserehelich erzwungener Geschlechtsverkehr. Was in der Ehe geschah, war per definitionem keine Vergewaltigung. Wenn man über das Vermögen seiner Frau verfügt, ihre Arbeitsverträge unterschreibt und die weibliche Sexualität für passiv hält, ist es normal, Frauen in der Ehe zu vergewaltigen. Heute ist für uns selbstverständlich, dass das strafbar ist. Und dieser Fortschritt war in einen grösseren Wandel eingebettet. Beispielsweise waren Frauen auf einmal im Arbeitsmarkt gefragt, Deutungen von Freiwilligkeit und Gewalt änderten sich. Das war nicht alles geplant, hat aber neue Möglichkeiten eröffnet und zur weiblichen Emanzipation beigetragen.

Kann ich mit Ihrer Idee von Fortschritt bei Wahlen einschätzen, ob eine Partei fortschrittliche oder regressive Politik machen wird?

Machen wird oder macht? Natürlich kann ich nicht in die Zukunft schauen, aber es gibt doch grosse Wahrscheinlichkeiten. Man sieht ja, wer was macht. Und es lassen sich Argumente finden, warum einige Wege nicht weiterführen werden und warum manche in einen neuen Faschismus führen könnten.

Wen soll ich also wählen, wenn ich mir Fortschritt wünsche?

Ich bin kein Wahlomat, und ich möchte keine Parteien nennen. Aber mir fallen einige gesellschaftliche Bewegungen ein, die Probleme fortschrittlich angehen. Und die man unterstützen sollte.

Nämlich?

Hier in Berlin gab es einen Volksentscheid über die Vergesellschaftung von Wohnraum und die Enteignung von Immobilienkonzernen. Die Diskussion reicht aber viel weiter: Wem soll Wohnraum gehören? Soll der Markt die Stadt formieren? Sollen Güter wie Gesundheit und Bildung den Gesetzen des Marktes unterliegen? Und sollte die Energieversorgung vergesellschaftet werden? Diese Debatten finde ich fortschrittlich, weil sie neue Perspektiven darauf eröffnen, was gesellschaftlich ist und sein sollte. Es stimmt mich auch optimistisch, dass zurzeit in Deutschland Hunderttausende gegen die AfD auf die Strasse gehen. Das sind fortschrittliche Entwicklungen. Ich würde nur diejenigen wählen, von denen ich den Eindruck habe, dass sie dafür stehen.

Und wer sind die Regressiven?

Die, die das nicht tun.

Trägt Sie bei Ihren Analysen der Optimismus des Fortschritts, oder ist es das Regressive, das Sie irritiert oder beunruhigt?

Ich bin eher beunruhigt. Mein Konzept von Fortschritt ist negativistisch formuliert. Im liberalen Denken kommt der Begriff immer mit Optimismus daher: Die Welt wird besser, die Gewalt nimmt ab, der Hunger schwindet, alles ist auf schönstem Wege. Das habe ich nicht vor Augen. Fortschritt verstehe ich als die Abwesenheit von Regression. Und aus der Analyse der Regression gewinnen wir Kriterien dafür, was sich anreichernde Lern- und Erfahrungsprozesse auszeichnet. Die Welt wird nicht zuerst in bunten Farben ausgemalt, sondern das Gute lässt sich auf einem Weg der Negativitätserfahrungen dechiffrieren.

Setzt das nicht voraus, eine Idee davon zu haben, was gut ist?

Natürlich lässt sich die Negativität einer Erfahrung ohne die Differenz zum Guten nicht erschliessen. Aber ich werde nervös, wenn ich höre, wir bräuchten eine gesellschaftliche Verständigung über das gute Leben. Das kommt mir immer etwas kindisch vor: Wir malen uns das Gute aus. Letztlich endet das in harmonistischen Plattitüden. Die Sonne scheint, alle lachen, sind pausbäckig, lieb zueinander und glücklich.

Warum verwenden Sie eigentlich den Begriff der Regression? Ich denke dabei an Psychoanalyse.

Der Begriff der Regression liegt derzeit in der Luft. Die Verschränkung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse ist allerdings nicht neu. In den Anfangszeiten der Frankfurter Schule war eine zentrale Frage, warum die Arbeiterklasse in Teilen dem Faschismus zuneigt, statt die sozialistische Revolution zu machen. Offensichtlich genügte die marxistische Analyse der ökonomischen Voraussetzungen und Krisenerscheinungen nicht, um das zu verstehen: Was bindet Menschen an Verhältnisse, die ihren Interessen widersprechen? Die Psychoanalyse schien hier zu helfen, weil sie mit ihrem Verständnis des psychischen Apparats einen Link zwischen Gesellschaft und Individuum herstellt. Der Ansatz war lange weg vom Fenster, aber durch das Auftreten der rechtspopulistischen und neoautoritären Bewegungen stösst er wieder auf Interesse.

Und warum bei Ihnen?

Mich interessiert die Frage, was Regression von Rückschritt unterscheidet. Den autoritären Bewegungen geht es nicht um Nostalgie oder Konservatismus, sie wollen systemsprengend sein. Auch historisch war die Blut-und-Boden-Ideologie keine nostalgische Bewegung zurück zum Ackerbau, sondern das Ziel war, unter den Bedingungen der Moderne eine gewaltförmige Volksgemeinschaft zu kreieren.

Dabei kehren die autoritären Bewegungen, in Analogie zur psychoanalytischen Auffassung, zur Problembewältigung eines Kleinkinds zurück, die für Erwachsene nicht mehr angemessen ist?

Der Vergleich lässt sich nur mit Zurückhaltung ziehen, denn was bedeuten Kleinkind und Erwachsener auf gesellschaftlicher Ebene? Gesellschaften sind keine Grosssubjekte. Von der Rückkehr zu unzureichenden Problemlösungsstrategien zu sprechen, scheint mir gleichwohl instruktiv.

Also Couch statt politischer Kampf?

Eine so grosse Couch gibt es ja gar nicht. Nein, im Ernst: Der Bezug auf psychoanalytische Theorien sollte nicht dazu verleiten, die Gesellschaft therapieren zu wollen. Vor allem nicht mit dem Gedanken, die Therapeuten wüssten, was die Patienten quält und wie die Lösung aussieht. So funktioniert auch die Psychoanalyse nicht. Aber die Idee, Lern- und Erfahrungsblockaden aufzulösen und damit Autonomie zu ermöglichen, ist ein psychoanalytisches Motiv.

Womit befassen Sie sich als Nächstes? Wenn Sie jetzt eine Vorstellung haben, wie Fortschritt funktioniert, kommt dann nun die Antwort, wo sich der fortschrittliche Lernprozess vorbildlich vollzieht?

Im letzten Absatz meiner vorherigen Bücher hat sich oft ungewollt angekündigt, womit ich mich als Nächstes befasse. Der letzte Satz im Fortschrittsbuch lautet: «Sozialismus oder Barbarei.» Also mal sehen.