Sexualität und Kirche: Innerschweizer Bauern im Zürcher Puff
Was treibt die Kirche mit der Sexualität? Der katholischen Doppelmoral antwortet der reformatorische Puritanismus. Solche Prägungen wirken, abgeschwächt, weiter.
Den Sex hat das Christentum gründlich verbockt. Nachdem sie staatsförmig geworden war, verknüpfte die katholische Kirche den Sexualakt untrennbar mit der Fortpflanzung. So trieb die heilige Christenpflicht, hinzugehen und sich zu vermehren, dem Sex das meiste Vergnügen aus. Das gehört durchaus zur «Kriminalgeschichte des Christentums», die der Historiker Karlheinz Deschner so wütend beschrieben hat.
Der Protestantismus hat es nicht viel besser gemacht. Er befreite zwar die Priester vom Zölibat, erschwerte Zwangsheiraten, verstärkte aber die Ehe zum moralisch-juristischen Bollwerk eines konservativen Gesellschaftsmodells.
Stamm und Sekte
Beim Umräumen einer Bibliothek ist mir kürzlich ein Buch in die Hände gefallen. «Liebe und Sexus in der Bibel», die deutsche Übersetzung eines englischen Buchs, 1959 herausgegeben vom National Board of the Young Men’s Christian Association. Veröffentlichungsjahr und Herausgeberschaft lassen Abschreckendes vermuten. Aber es ist ein nützliches und bemerkenswert gelassenes Werk des US-Theologen William Graham Cole, der an einer liberalen Universität in Chicago lehrte. Minutiös diskutiert er darin die Bibelstellen, die sich zu «sexuellen Gewohnheiten und Verhaltensweisen» finden lassen, zu «vorehelichen Geschlechtsbeziehungen», Ehe, Prostitution, Ehebruch und Scheidung, zu Homosexualität und Masturbation. Nüchtern hält er fest, woher diese rigide Sexualmoral gekommen ist, und macht klar, dass er sie für überholt, ja «unnatürlich» hält.
Im Alten Testament geht es tribalistisch um die Sicherstellung des patrilinearen Familienstammbaums. Ehebruch mit einer Frau, die nicht verheiratet ist, resultiert womöglich in einer polygamen Verheiratung. Ehebruch mit einer fremden Ehefrau soll mit dem Tod beider Ehebrechenden bestraft werden. Im Neuen Testament geht es um die Absetzung von der «Dekadenz» Roms als Alleinstellungsmerkmal einer neuen, unbefleckten Sekte und später mit Augustinus um die von allem Weltlichen gereinigte, mit dem Staat kompatible eherne Religion. Die Frauenfeindlichkeit nimmt dabei zu. Der Abfall der Menschen von Gott besteht ursprünglich darin, dass Adam und Eva gemeinsam verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis essen; zunehmend wird der Sündenfall dann Eva und ihrer verführerischen Sexualität angelastet.
Sinnlichkeit und Sprödheit
Das Konzept der Sünde ist ein geniales Herrschaftsinstrument. Schuld und Sühne werden im Katholizismus jedem und jeder Einzelnen aufgebürdet, während die Kirche mit Beichte und Absolution zugleich eine Form der pragmatischen Bewältigung anbietet. Doppelmoral kennzeichnet den Katholizismus durchgängig. Die Sinnlichkeit wird in religiöse Form gegossen: diese Geisselungen, Folterungen, Zerstückelungen der Märtyrer, diese wollüstig gequälten Leiber. Diese Völlerei in den Klöstern, wo Bier und Wein und raffinierte Speisen erfunden werden und sich Mönche und Nonnen allerlei Spiele ausdenken, um das Zölibatsverbot zu umgehen. Fellini! Oder, politischer, Pasolini!
Gegen die – propagandistisch ausgemalten – Ausschweifungen richtet sich die protestantische Empörung. Auch für die Reformatoren ist die sexuelle Begierde schlecht. Doch ist sie unvermeidlich, in der Natur des Menschen angelegt. Deshalb soll mit der Heuchelei aufgeräumt werden. Das bedeutet einerseits eine Freisetzung, andererseits eine Zähmung. Indem auch Priester heiraten dürfen, wird der sexuelle Notstand, der doch nur zur Hurerei geführt hat, gelindert und der sexuelle Missbrauch vermindert. Zudem erhöht das Zürcher Eherecht das Heiratsalter auf neunzehn Jahre und verlangt TrauzeugInnen, womit arrangierte Heiraten erschwert werden. In der Folge wird die mehr oder weniger gleichberechtigte Pfarrfrau zu einem neuen aktiven weiblichen Rollenvorbild. Umgekehrt gehen durch die Aufhebung des Marienkults, der Klöster und der Bordelle zwei reale Berufs- und Rollenbilder für Frauen verloren – nämlich Heilige und Hure – und werden zu wirkmächtigen imaginären Ordnungsfiguren. Langfristig befreiend wirkt dagegen die zunehmende Bildung auch für Frauen aus dem Bürgertum.
Die Sexualität freilich bleibt in der Ehe eingehegt. Die katholisch barocke Sensualität wird durch die puritanische Sprödigkeit ersetzt. In Zürich wird der Kampf gegen die allgemeine «Unzucht» durch Luxus- und Sittenmandate geführt. Prostitution und Konkubinate werden verboten. Das dient zugleich dem Aufbau einer eigenen Gerichtsbarkeit gegen die fremden Bischöfe von Konstanz. Die englischen PuritanerInnen machen sich in die USA auf, wo sie die UreinwohnerInnen mehr oder weniger ausrotten, die nicht nur wertvollen Boden besetzen, sondern auch die drohend-lockende Natur verkörpern. In Britannien wird später die viktorianische Prüderie sprichwörtlich. Der Anglikanismus, der an gemässigt katholischen Ritualen festhält, befördert im Zusammenspiel mit einer ausgeprägten Klassenherrschaft und der strikt hierarchischen Erziehung eine neue Doppelmoral je nach sozialem Status – noch heute kehrt sie wieder in pädophilen Netzwerken bis in höchste Kreise hinein.
Vom Staat war mittlerweile das Eherecht als disziplinierende Sozialtechnologie übernommen worden. Jahrhundertelang diente es dazu, die Frauen im Laufgitter zu halten. «Unzucht» wurde nicht mehr so sehr mit moralisch-theologischen, sondern mit sozialpolitischen Argumenten bekämpft, da sie an Armut gekoppelt gesehen wurde. Die «ledige Mutter» sollte dem Staat nicht zur Last fallen. Seit 1968 wird Abbruch- und Aufräumarbeit betrieben. In der Schweiz hat sich die Prozentzahl der geschiedenen Ehen von 1970 bis 2016 gut verdoppelt auf vierzig Prozent, Tendenz in den letzten Jahren stabil; in katholischen Gegenden halten Ehen noch immer länger, aber nur wenig. Bei allem Fortschritt orientieren sich manche sozialpolitischen Massnahmen weiterhin am Modell der bürgerlichen Kleinfamilie und Ehe.
Fortschritt und Rückschritt
Die Ambivalenz von Faszination und Abwehr äussert sich zwischen den Konfessionen wechselseitig. Noch Anfang der sechziger Jahre hörten wir Kinder im Zürcher Unterland den Spott, dass die Arbeiter und Bauern aus der Innerschweiz an katholischen Feiertagen zuhauf nach Zürich ins Puff kämen, das mittlerweile toleriert war. Zugleich galt im angeblich modernen Industriekanton Zürich bis 1972 das Konkubinatsverbot – nur die katholischen Kantone Schwyz und Wallis erhielten es länger aufrecht. Umgekehrt trauten im katholischen Internat die ehrwürdigen Schwestern den Mädchen zuweilen mehr Sünde in Worten, Gedanken und Taten zu, als diese auch nur ahnen konnten.
Selbst in säkularisierten Zeiten wirken kulturell verfestigte religiöse Muster nach. Die Doppelmoral bleibt in katholischen Ländern wie Frankreich oder Italien bestehen: Geliebte ja, Scheidung eher nein. Die theologische Unterdrückung der Sexualität hat weiterhin verheerende Konsequenzen, im sexuellen Missbrauch in der Kirche mitsamt den Schwierigkeiten, diesen aufzudecken und zu ahnden. Die Entwicklung ist widersprüchlich: In der Frage der Abtreibung führt die Kirche in Irland Rückzugsgefechte, während sie in Polen auf dem Vormarsch ist. Was zeigt, dass solche «moralischen» Fragen mit politischen und sozialen Entwicklungen zusammenhängen.
Denn die Religion ist nur noch ein Faktor unter mehreren. Ihre Wirkung kann sich subkutan sogar ins Gegenteil verkehren: In den USA sind die Scheidungsraten im konservativen Süden höher als im liberalen Norden. Weil dort junge Frauen in rigiden Religionsgemeinschaften früher heiraten, nicht selten in arrangierten Ehen, später zwangsläufig eine liberaler gewordene Umwelt erfahren und die ihnen aufgezwungenen Entscheide rückgängig machen.
Denn wie prägend ist die Macht der Kirche mittlerweile gegen diejenige der Zivilreligion des Marktes, die Sexualität neu freigelassen und zu einer allgegenwärtigen Ware gemacht hat? Nicht mehr so stark, aber immer noch zu stark.