Coronatheorien: Das Virus als Rache der Natur?

Nr. 21 –

Viele, die gegen die Anticoronamassnahmen protestieren, lehnen Impfungen ab und propagieren Alternativmedizin. Beliebt ist die These, mit Corona wehre sich die Erde gegen die Menschheit – ein gefährliches Argument.

Fredi hat es hart getroffen. Der Ostschweizer war selbstständig in der Gastrobranche tätig, stieg jedoch aus, um auf Reisen zu gehen. Danach wollte er eine Stelle suchen. Stattdessen landete er im Lockdown – ohne Job und ohne Anspruch auf Arbeitslosenversicherung. Er habe noch Reserven, aber belastend sei es schon, sagt der 53-Jährige am Telefon. Und die staatlichen Anticoronamassnahmen, die Einschränkungen der Grundrechte machten ihm Angst – mehr als das Virus selbst.

Als er von der Kundgebung am 2. Mai auf dem Bundesplatz erfuhr, beschloss er hinzufahren. «Ich wollte die Energie der Menschen wahrnehmen und merken, ob ich da dazugehöre.» Bisher war er kein Demogänger. Seine Bilanz ist gemischt: «Gewisse Leute sind schon sehr einfach unterwegs.» Die Slogans von der Schweiz als Diktatur hält er für übertrieben. Anderes, etwa die Angst, dass eine allfällige Coronaimpfung für obligatorisch erklärt werden könnte «oder sich nur noch die Geimpften frei bewegen dürfen», teilt er. «Statt Impfungen hätte ich lieber Prävention.» Die Menschen sollten unterstützt werden, gesund zu essen, nachhaltig zu leben und sich viel in der Natur zu bewegen.

Fredi beschreibt sich als freiheitsliebenden und naturverbundenen Menschen. Und die Natur ist auch sein wichtigster Bezugspunkt, wenn er über Corona spricht: «Sie kämpft gegen das Ungleichgewicht, das der Mensch verursacht. Sie schickt Krankheiten, die uns dezimieren, wie sie jeden Schädling unter Kontrolle behalten will.» Das klingt brutal: Will Fredi verletzliche Menschen einfach sterben lassen? Er relativiert: Nein, man müsse Risikogruppen schon schützen, könnte sie zum Beispiel in leer stehenden Hotels einquartieren. Dann betont er jedoch wieder: «Der Mensch muss sich der Natur stellen. Entweder bist du stark genug, um zu überleben in der Welt … Wenn man sich ständig schützt, wird man nicht gestärkt.» Doch, Risikogruppen solle man schützen, aber: «Für mich gehört der Tod ebenso zum Leben wie die Geburt.»

Zynische Natürlichkeit

Fredi verweist auf den deutschen Kulturanthropologen Wolf-Dieter Storl, der ihm wichtig sei. Storl schreibt erfolgreiche Bücher über Heilpflanzen und schamanische Rituale. Er ist auch in der Alternativmedizin umstritten, weil er etwa behauptet, mit Kräutern lasse sich die schwere Krankheit Borreliose heilen. Kürzlich äusserte er sich online zu Corona: Das Virus könne gefährlich werden bei Rauchern, Krebskranken, Organtransplantierten, bei Junkies und Alkoholikern, «bei jenen, die an Fehlernährung, Mangelernährung oder Schlafentzug leiden» oder ständig elektromagnetischen Feldern ausgesetzt seien. Er fährt fort: «Dann gibt der Virus dem ‹Freund Hein› die Möglichkeit, den hochbetagten Kranken von seiner Pein zu erlösen und ihn heimzuführen. Das ist ganz natürlich.» Vor allem ist es ganz schön zynisch.

Fredis Meinung ist also nah an Storls Meinung. Und es gibt viele Fredis. Deshalb wird er hier auch anonym zitiert: Es geht nicht darum, ihn als Einzelperson an den Pranger zu stellen. Die Idee, dass die Natur oder «Mutter Erde» ein Wesen mit eigenem Willen sei, das sich gegen die überbordende Menschheit wehre, ist in ökologischen Bewegungen weit verbreitet. In den achtziger Jahren bejubelte die militante US-amerikanische Ökobewegung Earth First! die Ausbreitung von Aids. Egal, welche Krankheit dem Planeten helfen soll: Diese Denkweise propagiert nicht nur ein «Überleben der Stärkeren». Sie ist auch blind für Rassismus und ökonomische Ungleichheit. Corona trifft Menschen in prekären Umständen ungleich härter: In Slums sind Abstandsregeln unmöglich einzuhalten, in schlecht ausgerüsteten Spitälern sterben mehr Menschen, und auch von Luftverschmutzung und ihren Folgeerkrankungen, die zu Coronakomplikationen führen können, sind Arme global viel stärker betroffen. Wenn «die Natur zurückschlägt», trifft sie also vor allem jene, die am wenigsten für die Umweltzerstörung können.

Biologie ist nicht Moral

Was stimmt: Die Entstehung von Krankheiten hat mit Umweltzerstörung zu tun. Die Massentierhaltung «züchtet» Erreger, weil sie viele Tiere der gleichen Art auf engem Raum hält. Und das Abholzen von Wäldern erhöht die Gefahr, dass Krankheiten von Wildtieren auf Menschen überspringen (siehe WOZ Nr. 14/20 ). Das beschreibt biologische Mechanismen – die «Rache der Natur» ist hingegen eine moralische Idee.

Die meisten, die sie vertreten, verstehen sich nicht als Rechte. Auch Fredi nicht: Die SVP lehnt er ab, sie betreibe Angstmacherei. Doch es bleibt eine Idee, an die rechte Argumente anschliessen können. Insbesondere bei Menschen, die allen «Massenmedien» misstrauen und sich nur noch über einschlägige Websites informieren. Da ist der menschenverachtende Irrsinn immer nur ein paar Klicks entfernt.