Frauenhandel: Keine Hilfe ohne Schweizer Tatort
Opfer von Menschenhandel brauchen Zugang zu einem spezialisierten Opferschutz. Doch auch im neuen Asylverfahren ist dieser Zugang extrem erschwert.
«Wir waren mit verhältnismässig vielen Fällen mit Verdacht auf Menschenhandel konfrontiert», sagt Raffaella Massara. Die Anwältin und Mitarbeiterin der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not (RBS Bern) hat rund zwei Jahre im Testbetrieb in Zürich gearbeitet, einem Pilotprojekt des neuen, seit dem 1. März geltenden Asylverfahrens (siehe WOZ Nr. 9/2019 ). Die RBS Bern war für die dortige Rechtsberatung mandatiert. «Die vielen Verdachtsfälle von Menschenhandel sind mitunter darauf zurückzuführen, dass die kostenlose Rechtsberatung im neuen Verfahren bereits relativ früh stattfindet», sagt Massara.
Sakita Assi Adou (Name von der Redaktion geändert) war einer dieser Fälle. Die junge Frau aus Nigeria hat ihr Land mit dem Versprechen verlassen, in Europa eine Stelle zu erhalten. Über die Mittelmeerroute wird sie nach Italien geschleust. Bereits auf der Reise wird sie mehrfach sexuell ausgebeutet. Am Zielort angekommen, wird ihr der Pass abgenommen, ausserdem werden ihr nun enorm hohe Schlepperkosten in Rechnung gestellt. Assi Adou muss anschaffen gehen, eine Weigerung ist quasi ausgeschlossen. Die junge Frau wird fast täglich bedroht und geschlagen. Auch ihre Familie im Heimatland wird unter Druck gesetzt. Nach mehreren Monaten gelingt Assi Adou die Flucht in die Schweiz. Hier beantragt sie Asyl.
Raffaella Massara führt die ersten Beratungsgespräche mit der jungen Frau und verweist sie bald an die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). Die Sachverhaltsabklärung bei mutmasslichen Opfern von Menschenhandel sei sehr anspruchsvoll, sagt Anwältin Massara. «Den Rechtsberatern respektive dem Staatssekretariat für Migration wird es in der Regel ohne Beizug von Fachpersonen nicht gelingen, den für das Asylverfahren relevanten Sachverhalt zu erstellen.»
«Gravierende Mängel»
Eine solche institutionalisierte Zusammenarbeit mit spezialisierten Opferschutzorganisationen findet beim Staatssekretariat für Migration (SEM) derzeit nicht statt. Sie werde aber geprüft, sagt SEM-Sprecher Lukas Rieder. Überdies werde den speziellen Bedürfnissen von besonders verletzlichen Asylsuchenden, wie etwa potenziellen Opfern von Menschenhandel, grosse Beachtung geschenkt und bei entsprechenden konkreten Hinweisen umgehend reagiert.
Ein Untersuchungsbericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) widerspricht dieser Einschätzung. Die Kommission hat in den beiden vergangenen Jahren verschiedene Asylzentren besucht und dabei gravierende Mängel festgestellt. In allen besuchten Unterkünften mangle es an einem strukturierten Vorgehen zur Identifikation der Opfer von Menschenhandel, heisst es etwa im Bericht.
Die RBS Bern und die FIZ haben deshalb vor einem Jahr das gemeinsame Projekt «Zugang zum Recht» ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Mehr Betroffene sollen erkannt, ihr Zugang zu einem spezialisierten Opferschutz ermöglicht sowie ihr Rechtsschutz gesichert werden. Im Rahmen des Projekts konnten bisher 22 Fälle direkt von der RBS Bern zugewiesen werden. In 12 weiteren Fällen haben die beiden Organisationen eng zusammengearbeitet. Nicht nur die Identifizierung mutmasslicher Opfer ist aber ein Problem. Ebenso schwerwiegend seien die fehlenden Opferschutzmassnahmen im Asylbereich, sagt Lina Rasheed, Juristin und Beraterin bei der FIZ. Laut einer Statistik der FIZ hat sich die Anzahl der Betroffenen aus dem Asylbereich in den letzten drei Jahren mehr als verdoppelt. Auch Sakita Assi Adou zählt zu ihnen.
Belastende Untersuchungen
Kann eine dieser Frauen ihren ZuhälterInnen entkommen, ist die Gefahr, wieder ausgebeutet oder gehandelt zu werden, sehr hoch. Die Fotos der vermissten Frauen würden verschickt, die Frauen sehr gezielt gesucht, sagt Rasheed. «Viele Opfer sind deshalb isoliert. Sie haben Angst, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Selbst ein Kirchenbesuch kann eine Gefahr darstellen. Denn dort sind möglicherweise die ‹Madams›, angesehene, seriös auftretende Zuhälterinnen.» Die ausgebeuteten Frauen müssten deshalb geschützt werden.
Und hier liegt das Problem: Während ausserhalb des Asylverfahrens das Opferschutzgesetz greift und die Frauen etwa in einer Schutzunterkunft untergebracht werden sowie medizinische wie auch psychologische Betreuung erhalten, haben Asylbewerberinnen gemäss Opferhilfegesetz nur begrenzt Anspruch auf diese Leistungen. Besonders problematisch ist die Situation für Frauen wie Sakita Assi Adou, die nicht in der Schweiz selbst ausgebeutet wurden und also auch über keine für die Schweizer Strafbehörden relevanten Informationen verfügen. Dann entfällt die Opferhilfe vollständig.
«Das steht im Widerspruch zur Konvention des Europarats gegen Menschenhandel», sagt Rasheed. Die Konvention besagt, dass die Behörden bei Verdacht auf Menschenhandel unabhängig vom Tatort dazu verpflichtet sind, Opferschutzmassnahmen einzuleiten. Dazu gehört etwa auch die Unterbringung in geschlechtergetrennten Unterkünften. Laut der FIZ würden viele Unterkünfte diesen Anforderungen nicht genügen.
Weiter seien auch die von der Konvention des Europarats gegen Menschenhandel geforderten Massnahmen zur Unterstützung der Opfer bei ihrer körperlichen und psychischen Erholung teilweise nicht gegeben. Benötigt eine Klientin in einer Zürcher Asylunterkunft etwa psychiatrische Betreuung, müsse sie zunächst zum Gesundheitsdienst in der Asylunterkunft, von dort werde sie zum Ambulatorium Kanonengasse weitergeleitet, das wiederum eine Überweisung an einen Psychiater veranlasse, sagt die FIZ-Beraterin. In dieser Zeit habe sich die Person also bereits dreimal von unterschiedlichen Personen untersuchen lassen und genauso oft ihre Geschichte erzählen müssen. Das sei gerade für schwer traumatisierte Menschen sehr belastend.
Kritik am Verfahren kommt auch von Organisationen, die für die Rechtsvertretung in den Testbetrieben mandatiert waren. Im Pilotbetrieb Boudry seien den RechtsvertreterInnen in Bezug auf medizinische Abklärungen teils grosse Hürden gestellt worden, sagt Beat von Wattenwyl, Mitarbeiter der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und ehemaliger Projektleiter des Testbetriebs Zürich. So habe das SEM den RechtsvertreterInnen etwa untersagt, einen regelmässigen Austausch mit Ärztinnen und Psychiatern zu unterhalten, um sich über den Gesundheitszustand ihrer KlientInnen zu informieren. «Das ist nicht vertretbar», sagt von Wattenwyl. «Besonders im beschleunigten Verfahren muss ein rascher und vollständiger Austausch von Informationen stattfinden.» Ansonsten könnten die RechtsvertreterInnen ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen. Dies könne wiederum ernsthafte Konsequenzen für den Entscheid beziehungsweise das Schicksal der Betroffenen haben.
Das Oberste Gericht widerspricht
«Die verkürzten Behandlungsfristen sind eine Herausforderung», bestätigt auch Anwältin Raffaela Massara von der RBS Bern. Bei mutmasslichen Opfern von Menschenhandel müsse bei Bedarf von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, sie ins erweiterte Verfahren zu überführen, damit die Opfer mehr Zeit erhalten. Im nationalen Verfahren funktioniere das teilweise, bei Dublin-Fällen kaum.
Die FIZ-Mitarbeiterinnen bringt das in eine paradoxe Situation. «Wir müssen versuchen, diese Frauen innert kürzester Zeit zu beraten», sagt Rasheed. Am wichtigsten sei dabei, Vertrauen aufzubauen. Die betroffenen Frauen müssten aber zuallererst körperlich und psychisch dazu in der Lage und auch bereit sein, Risiken für sich und möglicherweise auch ihre Familien einzugehen. «Die meisten Opfer stehen unter enormem Stress. Oftmals haben sie Mühe, ihre Geschichte kohärent zu erzählen. Diese Frauen brauchen in erster Linie Zeit», sagt Rasheed. «Und die können wir ihnen nicht geben.» Ihr Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung oder gar Asyl sei aufgrund der Rechtspraxis in der Schweiz quasi chancenlos.
Die beiden NGOs versuchen trotzdem immer wieder, die Überführung ins erweiterte Verfahren zu erwirken. So wie zuletzt Mitte Februar in einem gemeinsamen Fall mit der Opferberatungsstelle Winterthur, als das Bundesgericht die Beschwerde einer Frau aus Kenia guthiess, die in der Schweiz Opfer von Menschenhandel geworden war und bei der das Migrationsamt Zürich aufgrund des negativen Asylentscheids eine Kurzaufenthaltsbewilligung für die Dauer des Strafverfahrens verweigert hatte. Die Frau sollte nach Italien ausgeschafft werden und von dort für die Schweizer Strafverfolgungsbehörden verfügbar sein. Diesem Entscheid widersprach nun das Oberste Gericht: Opfer von Menschenhandel hätten Anspruch auf eine Kurzaufenthaltsbewilligung in der Schweiz, soweit ihre Anwesenheit für die Dauer eines Strafverfahrens erforderlich sei.
«Das Urteil ist wichtig, weil die Weisung des SEM, das Dublin-Abkommen prioritär zu behandeln, nun keine Zukunft mehr hat», sagt Massara, die die Beschwerdeführerin juristisch vertreten hat. Den Opferschutz stärke das Urteil aber nur begrenzt. «Die Regelung kommt nur zur Anwendung, sofern der Tatort der Ausbeutung in der Schweiz liegt und das Opfer kooperationsbereit sowie einvernahmefähig ist. Dies ist aber nicht immer der Fall.»
So etwa bei Sakita Assi Adou. Sie erhielt keinerlei Opferschutz. Nachdem ihre Wegweisung nach Italien vom SEM bestätigt wurde, verschwand die junge Frau.
Lukratives Geschäft
Das Geschäft mit Menschenhandel ist profitabel. Laut Schätzungen der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, beträgt der jährliche Umsatz des Menschenhandels etwa 32 Milliarden US-Dollar weltweit, ein Grossteil davon stammt aus dem Verkauf von Sex.
Die Zahlen des Bundes nehmen sich dagegen bescheiden aus. 108 Meldungen von Verdacht auf Menschenhandel verzeichnete das Bundesamt für Migration im letzten Jahr, im Vergleich zu den Vorjahren ein neuer Höchststand. Die jährlich steigenden Fallzahlen zeigten zwar, dass Betroffene mittlerweile besser identifiziert würden, sagt die FIZ. Dennoch gehen der Bund wie auch verschiedene Opferschutzorganisationen von einer viel höheren Dunkelziffer aus.
Die meisten Menschenhandelsopfer sind Frauen. Betroffen sind aber auch Transgenderpersonen und Männer.