Globale Gesundheit: Doch nur Lippenbekenntnisse?
Die nächsten Monate werden für die Weltgesundheitsorganisation wegweisend sein: Entweder wird sie gestärkt, und Arzneimittel werden künftig weltweit gerechter verteilt – oder es geht weiterhin vor allem um den Profit der Pharmakonzerne.

Wird ein künftiger Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus schnell allen BewohnerInnen dieser Erde zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung stehen? Die Antwort auf diese Frage wird nicht nur über die Gesundheit und möglicherweise Leben und Tod von vielen Millionen Menschen entscheiden – sondern auch über die künftige Relevanz der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
In den nächsten Monaten erfolgen wichtige Weichenstellungen, möglicherweise auch auf der von Costa Rica vorgeschlagenen Covid-19-Technologieplattform, die am Freitag startet und darauf abzielt, die Zugangsbarrieren zu wirksamen Impfstoffen, Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten zu beseitigen.
«Globales öffentliches Gut»
Bereits letzte Woche stuften viele RegierungsvertreterInnen in ihren Reden per Videokonferenz auf der WHO-Generalversammlung künftige Covid-19-Impfstoffe als «globales öffentliches Gut» ein – das impliziert Erschwinglichkeit und freien Zugang. Noch optimistischer klingt die Coronaresolution, die die 194 Mitgliedsstaaten anschliessend fast einstimmig verabschiedeten. Sie unterstreicht die Bedeutung der multilateralen Zusammenarbeit unter dem Dach der Vereinten Nationen. Und sie betont die Schlüsselrolle der WHO als Koordinatorin der Krise sowie ihre Verantwortung dafür, einen gerechten Zugang und eine gerechte Verteilung aller wesentlichen Gesundheitstechnologien und -produkte zur Bekämpfung des Virus zu sichern.
In den zentralen Passagen der Resolution wird überdies ausdrücklich auf die Möglichkeit verwiesen, die Patente grosser Pharmakonzerne zu umgehen, die 2001 von der Welthandelsorganisation (WTO) geschaffen worden war. Damals beschloss die WTO Ausnahmemöglichkeiten zum 1995 vereinbarten Trips-Abkommen, in dem die fünf Sitzländer der weltgrössten Pharmakonzerne – USA, Schweiz, Grossbritannien, Deutschland, Frankreich – noch den ausnahmslosen Patentschutz für die teuren, für viele Menschen in ärmeren Ländern unerschwinglichen Medikamente dieser Konzerne gegen den Widerstand Indiens, Südafrikas und anderer «Schwellenländer» durchgesetzt hatten.
Nach den 2001 beschlossenen Ausnahmeregeln können Regierungen in gesundheitlichen Notlagen Zwangslizenzen für Medikamente erteilen und im eigenen Land preiswerte Generika nicht nur für die eigene Bevölkerung, sondern auch für den Export produzieren lassen. Allerdings: Die USA hatten diese zentrale Passage in der Coronaresolution abgelehnt und daher als einziges Land bei der Schlussabstimmung nicht zugestimmt. Die Trump-Regierung will so die Profitinteressen des weltgrössten Pharmakonzerns, Pfizer, schützen, für den Fall, dass dieser den Wettlauf um einen Coronaimpfstoff gewinnen sollte.
Alles doch nur freiwillig
Bereits Anfang Mai endete die von der EU-Kommission veranstaltete Geberkonferenz mit einer ähnlich positiv klingenden Absichtserklärung wie jener der WHO. Die TeilnehmerInnen – darunter die Schweiz, aber auch Pharmakonzerne und die Stiftung von Bill und Melinda Gates – sagten 7,4 Milliarden Euro für die Entwicklung von Coronaimpfstoffen zu.
Medico International, Médecins Sans Frontières und andere nichtstaatliche Organisationen kritisierten allerdings, dass sowohl die Erklärung der Geberkonferenz wie auch die WHO-Resolution lediglich die «freiwillige» Bündelung von Patenten in einem Pool fordern. Notwendig seien aber «verbindliche Konzepte» und für die Konzerne «verpflichtende Mechanismen».
Es bleibt abzuwarten, inwieweit die europäischen Regierungen in den kommenden Monaten dem proklamierten Ziel eines weltweiten, gerechten Zugangs zu Coronaimpfstoffen tatsächlich Vorrang geben – vor dem Schutz der Patentrechte und Profitinteressen europäischer Pharmakonzerne wie Roche, Novartis, Glaxo Smith Kline oder Sanofi in Konkurrenz zu Pfizer und anderen US-Konzernen.
Und letztlich würde eine global gerechte Verteilung von Coronaimpfstoffen unter Koordination der WHO die Organisation zwar stärken, aber nicht ausreichen, um sie auch für künftige Herausforderungen handlungsfähig zu machen. Erstens hatten die Missinformationen der chinesischen Regierung – zumindest in den ersten Wochen nach Ausbruch des Coronavirus Ende November 2019 – erneut unterstrichen, was bereits während der Vogelgrippe (2005), der Schweinegrippe (2009) und der Ebolaepidemie (2014) deutlich geworden war: die Notwendigkeit ständiger WHO-BeobachterInnen in allen Mitgliedsländern mit weitreichenden Kompetenzen zur Informationsbeschaffung – nicht nur bei den Regierungen, sondern auch bei regierungsunabhängigen AkteurInnen im Gesundheitsbereich.
Zweitens müssen die 194 Mitgliedsstaaten endlich ihre 1993 eingefrorenen Pflichtbeiträge an die WHO entsperren und deutlich erhöhen. Nur so kann die Organisation befreit werden aus der finanz-, gesundheits- und demokratiepolitisch höchst problematischen Abhängigkeit von einzelnen Regierungen, Pharmakonzernen, Stiftungen und anderen privatwirtschaftlichen AkteurInnen, deren «freiwillige», aber stets interessengeleitete und zweckgebundene Zahlungen inzwischen über achtzig Prozent des WHO-Budgets ausmachen.