Kino: Im Schutzanzug raus aus der Quarantäne

Nr. 24 –

Sachte zurück zum Herdentrieb? Nach drei Monaten sind die Kinos wieder offen. Den passendsten Film dazu hat die Tessinerin Klaudia Reynicke parat.

Draussen ists ihr zu gefährlich: Barbara Giordano in «Love Me Tender». Still: First Hand Films

Da stehen sie wie von Daniel Koch persönlich in die Landschaft gesetzt, jedes für sich im gebotenen Abstand: Social Distancing auf der Weide. «Chö-med! Hei, hei, hei!» Auf den Ruf der Bäuerin heben die Kühe und Rinder alle zugleich den Kopf, und dann trotten sie gemächlich herüber, der Kamera entgegen. Was getrennt war, kommt zusammen, die einzelnen Tiere scharen sich wieder zur kleinen Herde. Nur eine einzige Einstellung, aber unsere prekäre Gegenwart im Zeichen von Corona verdichtet sich darin zum tierischen Zeitbild: Sehnsucht nach Gemeinschaft, Abstandsregeln werden gelockert.

Eingefangen hat dieses tröstliche Bild der Westschweizer Regisseur Germinal Roaux. «Revoir le printemps» heisst sein Kurzfilm, den er binnen knapp zweier Wochen während des Lockdowns realisiert hat. Zwei Produzenten und eine Produzentin aus allen drei Landesteilen hatten dazu aufgerufen, die SRG beteiligte sich als Koproduzentin, umstandslos zogen auch der Bund und die Westschweizer Filmförderung mit. 33 Kurzfilme fürs Netz sind so entstanden, eine ganze «Lockdown Collection», die dieser Tage in Basel noch im Kino zu sehen ist.

Die Aktion ist denkwürdig, von den Filmen selber sind es nur wenige, die für das notgedrungen Improvisierte, Tagebuchartige auch eine künstlerisch überzeugende Form finden. Aber das ist ja bei grösseren Namen nicht anders, wenn man sich etwa auf Youtube die kurze Hommage von Spike Lee an seine Heimatstadt im Corona-Lockdown anschaut: Impressionen, so beliebig zusammengeflickt, als habe das mal eben ein Praktikant gedreht und montiert, und Frank Sinatra singt dazu «New York, New York», das passt schliesslich immer.

Gar nicht gespenstisch

Wie man der Krise etwas Bleibendes abringt, das auf sehr persönliche Weise den Ausnahmezustand einfängt und zugleich doch für sich steht, das zeigt eben Germinal Roaux mit seinem Frühlingsgedicht in Schwarzweiss. Hier sieht man nicht einfach eine mehr oder weniger gut gelöste Hausaufgabe aus dem Lockdown, das hier ist: Kino. Zwar navigiert Roaux in seiner Naturlyrik immer wieder an der Grenze zum pastoralen Kitsch, vom schlafenden Lamm zu barfüssigen Kindern im Wald, von der Aussaat zum säugenden Kalb. Aber seine Bilder, gefilmt mit dem Handy, sind von einer bezaubernden Sinnlichkeit, die unbedingt auf die grosse Leinwand drängt.

Und hier, im dunklen Saal, dürfen wir uns jetzt endlich wieder zum Publikum scharen, wie das Rindvieh bei Roaux, wenn auch weiterhin auf Abstand: «Chö-med! Hei, hei, hei!» Bleibt die Frage, wie schnell sich die Menschen wieder daheim fühlen im Kino. Eine Reporterin von «Zeit Online» wurde letzte Woche ganz schwermütig, als sie an den ersten Tagen nach der Wiedereröffnung einen Augenschein in einem Hamburger Multiplex nahm: «Der einsamste Ort der Welt», titelte sie.

In Zürich dagegen sah das am ersten Wochenende gar nicht gespenstisch aus: das Publikumsaufkommen erfreulich, aber schön mit Abstand. Und wer immer noch etwas ängstlich ist, kann ja eine Empfehlung des britischen Kritikers Neil Young beherzigen, der auf Twitter riet: «Je weniger Publikum, umso sicherer.» Klingt etwas zynisch, aber gemeint war das als Plädoyer für Filme, die sowieso etwas unter dem Radar laufen und auch unter normalen Umständen nicht gerade viele Leute anziehen. Spezielle Gewächse also wie «Love Me Tender» der Tessiner Regisseurin Klaudia Reynicke.

Superheldin wirft mit Eiern

«Love Me Tender» lief letzten Sommer schon in Locarno, als niemand ahnen konnte, wie sehr dieses verschrobene zeitgenössische Märchen unseren Alltag im Ausnahmezustand vorwegnehmen sollte. Jetzt kann man sich gerade keinen passenderen Film für die Wiedereröffnung der Kinos nach dem Lockdown vorstellen. Als Chronik einer Befreiung aus der geistigen Quarantäne wirkt das jedenfalls plötzlich ungemein vertraut, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen: Die junge Frau in «Love Me Tender» dürfte nämlich schon raus, aber sie kann nicht. Sie traut sich nicht, weil die Eltern sie in einer übersteigerten Angst vor der Aussenwelt grossgezogen haben. Eine Kindfrau im Turnkleid, tigert diese Seconda (Barbara Giordano) nun unter Überdruck durch die elterliche Wohnung. Als die Mutter stirbt und der alte Vater dann einfach türmt, versumpft die erwachsene Tochter erst recht – bis sie sich, gepanzert mit einem signalblauen Ganzkörperdress, endlich doch nach draussen wagt.

Elend und Slapstick liegen in diesem Film so nah beieinander, dass sie manchmal kaum mehr zu unterscheiden sind. Da gibts den Geldeintreiber, der bald immer wüstere Beschimpfungen auf Secondas Beantworter hinterlässt, wobei sein Telefonterror in eine so skurrile wie einseitige Romanze mündet. Und später einmal sitzt die Protagonistin wie eine neurotische Superheldin auf einem Baum und schmeisst rohe Eier auf ihren Vater. Das alles ist manchmal etwas forciert in seiner Verschrobenheit, auf den bizarren Humor muss man sich auch erst einstimmen.

Aber es passiert selten genug, dass sich ein Schweizer Film so konsequent einer so eigenwillig abgedrehten Figur verschreibt. Und dass sich auf Dauer gröbere Macken einschleichen, wenn man nicht mehr raus kann, das wissen wir ja inzwischen auch aus eigener Erfahrung.

«Love Me Tender» läuft jetzt im Kino. Die 33 Kurzfilme der «Lockdown Collection» laufen ab 11. Juni 2020 in Basel im Kultkino, im Netz findet man sie via www.turnusfilm.com.