Literatur: Prekäre Idyllen von unterwegs

Nr. 24 –

77 Jahre jung ist er inzwischen, der unverwüstliche «literarische Alltagspraktiker», wie er sich einmal genannt hat, Franz Hohler aus Oerlikon, der Beiläufiges und Unscheinbares zu Geschichten formt, der verschmitzt das erzählerische Potenzial des Alltags auslotet und dabei lakonische Pointen mit subtiler Poesie und politischer Reflexion verknüpft.

Dies gilt auch für Hohlers neuen Band «Fahrplanmässiger Aufenthalt». Die gut vierzig kurzen Prosastücke handeln häufig von kleineren und grösseren Reisen des Autors, bleiben dabei aber nie privat, sondern verbinden Gesellschaftliches und Historisches mit dem Einzelmoment, den der Erzähler einfängt. So etwa in der Titelgeschichte, die den Autor bei einem Bahnhalt in Schwäbisch-Hall unvermittelt mit der Realität eines Konzentrationslagers der Nazis vor 75 Jahren konfrontiert.

Neugier und Empathie sind der Antrieb für Hohlers Schreiben, überraschende Blickwinkel und souveräne sprachliche Verknappung seine formalen Qualitäten. Das nimmt die Lesenden sofort gefangen, sei es bei einem Gang durch Oerlikon an einem Sonntagabend oder durchs immer noch kriegsversehrte Sarajevo. Zu den gelungensten Geschichten zählen jene, die ins Fantastisch-Surreale ausgreifen, wenn etwa dem Erzähler und Alpinisten auf einem einsamen Bergsee plötzlich ein Schlauchboot «übervoll mit dunkelhäutigen Menschen» entgegenfährt («Nach Europa») oder wenn sich ein städtisches Hallenbad zum Meer mit blutrotem Sonnenuntergang weitet.

Dazu schlägt Hohler oft komische Funken aus Alltäglichstem und schont sich dabei selber nicht, wenn er zum Beispiel in einer Sternennacht in den Bergen im Licht seiner Sparlampe plötzlich innehält: «Dann drehe ich mich um und zucke zusammen. Auf der ansteigenden Wiese vor dem Haus steht ein riesiger schwarzer Mann. Er muss mich die ganze Zeit beobachtet haben. Es dauert eine halbe Sekunde, bis ich merke, dass es mein eigener Schatten ist. Der Schreck dauert länger.» Weit länger als die Lektürezeit ist auch der Nachhall von Hohlers Texten.

Franz Hohler: Fahrplanmässiger Aufenthalt. Kurzprosa. Luchterhand Verlag. München 2020. 112 Seiten. 28 Franken