Sexarbeit: Die Krise im Milieu hält an
Fast drei Monate lang durften SexarbeiterInnen wegen der Coronapandemie nicht arbeiten. Getan haben es viele trotzdem – weil sie kaum eine andere Wahl hatten. Unterwegs im Zürcher Langstrassenquartier.
6. Juni: Die «neue Normalität» an der Zürcher Langstrasse sieht an diesem Samstagabend der alten Normalität zum Verwechseln ähnlich: Menschenmassen drängen sich vor Bars, Autos hupen auf der Strasse, Polizisten intervenieren zwischen vollgedröhnten Streithähnen. «Eine katastrophale Nacht», sagt Ajana*, 33, die anders als die meisten nicht zum Vergnügen draussen steht. «Bis 6 Uhr habe ich gearbeitet, aber nur 400 Franken gemacht.» An einem Samstag lägen sonst bis zu 1000 Franken drin, unter der Woche 300 bis 500 pro Tag. Doch egal, wie mies es läuft: Wichtig sei, dass man lächle. Alles andere ruiniere das Geschäft.
Einen Monat zuvor, in einer erst kürzlich eingerichteten Einzimmerwohnung: Ajana ist mit Felia*, 26, bei Mira*, einer Transfrau, zu Besuch. Die Wohnung ist voller Rauch und Sprüche, die so derb sind wie die Umstände, denen sie entspringen. «Möchtest du eine Schwangere ficken?», fragt Mira. «Oder willst du die teuerste Variante? Ich ficke euch alle.» Alle lachen, und alle sind sich einig: Felia sollte jetzt eigentlich nicht hier sein. Die schwangere Frau bräuchte die Hilfe ihrer Mutter, es ist schliesslich ihr erstes Kind. Erst kurz vor dem Shutdown ist sie aus Bulgarien in die Schweiz gekommen. «Zum schlechtesten Zeitpunkt», sagt sie, die schon damals nur noch Oralsex anbot.
Geld für die Familie in Bulgarien
«Ein Kind ist ein Geschenk Gottes», sagt Ajana, die selbst einen dreijährigen Sohn hat, obwohl sie ihn eigentlich nie zur Welt bringen wollte. Jede Woche schickt sie 300 bis 400 Franken an ihre Mutter und ihr Kind. Hin und wieder legt sie weitere 1000 oder 2000 drauf, die ihr Mann mit anderen Frauen verprasst. Für ihr Zimmer in Zürich braucht sie täglich zwischen 70 und 130 Franken, egal ob Pandemie oder nicht. Felia dagegen mietet jeweils nur ein Bett, das ist günstiger: 50 Franken pro Tag, 1500 pro Monat. Neben ihrem Bett steht ein weiteres im Zimmer, dazwischen ein Vorhang. Hat sie Kundenbesuch, zieht sie den Vorhang einfach zu.
Wenn Felia zurück nach Bulgarien reisen wird, wird sie sieben Einkaufstaschen bei sich haben, gefüllt mit Brei, Windeln, Babysachen. Manches davon wird sie für ihr Kind brauchen, den Rest verschenken. Unten, in ihrem Land, sei jede Unterstützung gefragt.
Die Taschen und deren Inhalt hat sie von Schwester Ariane bekommen. Seit Mitte März steht die Nonne Tag für Tag um 17 Uhr an der gleichen Kreuzung an der Langstrasse. Mit dem Shutdown wurde der Partybezirk zum Sammelbecken der Vergessenen. Drogenabhängige, Obdachlose, Sexarbeitende: Schwester Ariane bezeichnet alle von ihnen als «Freunde», versorgt sie mit dem Überlebenswichtigsten: Essen, Hygieneartikel, einem offenen Ohr. Ihr Aufgabenbereich beginnt dort, wo offizielle Stellenbeschriebe enden. Sie spricht von starken Menschen, die unter der Last ihrer Biografien und der Umstände einknicken. Und von einem Bordell, in dem schon während des Verbots wieder gearbeitet wurde.
Wie ein Damoklesschwert
31 Vergehen gegen das Sexarbeitsverbot hat die Zürcher Stadtpolizei während des Shutdowns registriert. Das Strafmass: bis zu drei Jahre Gefängnis. Viele der Frauen, die in der Schweiz blieben, hatten es nicht rechtzeitig über die Grenze geschafft. Manche, besonders Transgender und Romnija, waren auch geblieben, weil es ihnen hier weniger schlecht geht – trotz Verbot. In Bulgarien hat die Regierung ganze Romasiedlungen abgeriegelt. Führende Politiker bezeichneten sie als «potenzielle Infektionsnester».
«Das Arbeitsverbot hing wie ein Damoklesschwert über den Sexarbeitenden», sagt Ursula Kocher, die Leiterin von Flora Dora, der städtischen Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen. Montags bis freitags, jeweils nachmittags, ist ihr zweiköpfiges Team auf der Strasse unterwegs. Das sexuelle Verlangen lasse sich nicht verbieten, sagt sie, ebenso wenig wie die Nachfrage nach dessen Befriedigung. Ajana erzählt, sie habe während des Shutdowns etwa zehn Kunden pro Woche gehabt, vor allem Stammkunden. «Hast du kein Geld, arbeitest du eben.» Vielen Kolleginnen sei es ähnlich ergangen. Um die Frauen vor der gefährlichen Arbeit zu bewahren, bezahlten diverse Anlaufstellen Nothilfen aus. Ein schweizweiter Notfonds erhielt allein von der Glückskette 300 000 Franken; viele Fachstellen haben zudem eigene Notfonds eingerichtet.
Die meisten Frauen, die auf der Strasse arbeiten, tun das ohne Aufenthaltsstatus. Sie haben eine Neunzig-Tage-Meldebestätigung, vergleichbar mit Touristinnen oder Saisonarbeitern, die zum Spargelstechen in die Schweiz kommen. Im Gegensatz zu jenen mit Aufenthaltsstatus haben sie kein Anrecht auf Sozialhilfe. Doch selbst wenn dem so wäre, würden wohl nicht alle davon Gebrauch machen: Wer Sozialhilfe bezieht, kann seinen Aufenthaltsstatus verlieren – seit dem 1. Januar 2019 sogar die bislang als sicher geltende Niederlassungsbewilligung C. Die Migrationsämter haben zwar die Anweisung, während der Coronakrise kulanter zu sein, doch auf der Strasse scheint das nur bedingt angekommen zu sein. «Viele verzichten auf Sozialhilfe, weil sie Angst haben», sagt Schwester Ariane.
Auch Ajana hat Nothilfegelder bezogen, insgesamt knapp 2000 Franken. Um gratis zu essen, hätte sie bloss um die Ecke gehen und sich bei Schwester Ariane in die Schlange stellen müssen. Doch sie sagt, es gebe ärmere Leute, die das nötiger hätten.
«Ich bin überzeugt, dass während des Verbots keine einzige Frau eine Anzeige machen wird – egal was ihr widerfährt», sagt Grazia Aurora während des Shutdowns. Die aufsuchende Sozialarbeiterin beim Gynäkologischen Ambulatorium besucht Sexarbeiterinnen in ihren Wohnungen, trifft sie auf einen Kaffee, bekommt mit, was in deren Leben passiert. Sie erzählt von einer Frau, die zu Beginn der Pandemie von einem Freier ausgeraubt wurde. Bei der Polizei gemeldet habe sie sich nie.
Ein Arbeitsverbot würde in erster Linie bewirken, dass die Frauen im Versteckten und illegal arbeiteten, sagt Ursula Kocher. Sexarbeiterinnen hätten zudem von einer höheren Bereitschaft der Freier zu riskanteren Praktiken erzählt, ergänzt Silvia Arnold, Ärztin beim Gynäkologischen Ambulatorium. «Auch vermehrt von gewaltbereiten Kunden.»
Schläge, Raube, Drohungen
Empfängt Ajana einen Freier, lässt sie die Tür einen Spalt offen. Sie hat das Blut im Gesicht ihrer Kollegin gesehen. Erinnert sich an die Schläge, die Raube, die Todesdrohungen – und daran, wie ihr Vater sie zweimal an fremde Männer verkauft hatte und Zuhälter sie einen Monat lang in einem Wiener Bordell eingesperrt hielten. In ihrem Zimmer hat sie nur wenige persönliche Gegenstände. So etwa eine Knoblauchknolle hinter der Tür für mehr Glück, «Zigeunersache» – und unter dem Bett einen Stock für den Notfall.
Etwa fünf Prozent der SexarbeiterInnen in der Schweiz schaffen gemäss einer Studie aus dem Jahr 2015 auf der Strasse an. Vieles deutet darauf hin, dass vor allem dort Zwangs- und Ausbeutungssituationen zu finden sind. «Das ist unsere vulnerabelste Zielgruppe», sagt Ursula Kocher. Strassensexarbeit habe ein schlechtes Image, keine Lobby und bringe keine Anerkennung. Rund 200 Bordell-, Salon- und Strassensexarbeiterinnen wurden während des Shutdowns allein von den Beratungsstellen in Zürich betreut.
Ajana sagt, neunzig Prozent der Kunden würden sie behandeln wie einen Hund. «Sie bezahlen mich, ficken mich und verschwinden wieder, ohne sich zu verabschieden.» Obwohl sie es nur schlecht ertrage, lange in einem Raum zu sein, bleibe sie jeweils einmal in der Woche den ganzen Tag in ihrem Zimmer, um über ihr Leben nachzudenken. Danach sei sie nicht mehr in der Lage, ein Lächeln aufzusetzen. Sie befürchtet, ihr Sohn könnte werden wie die Kunden. «Ich bin viel zu selten bei ihm.»
In einem dürften sich Schwester Ariane und Thomas Jordan, der Präsident der Schweizerischen Nationalbank, einig sein: Die Krise ist noch nicht vorbei. Schwester Ariane spricht von einer neuen Welle der Armut, Jordan von einer Rezession, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben habe. Wie sich eine solche auf die Sexarbeitenden auswirken könnte, lässt sich bei einem Blick nach Griechenland erahnen. Sechs Jahre lang hat der Athener Soziologieprofessor Grigoris Lazos untersucht, wie die dortige Schuldenkrise die Sexarbeit beeinflusst. Die Ergebnisse in Kurzform: mehr Sexarbeitende, auch Einheimische, mehr Prekarität – und auf weniger als die Hälfte sinkende Preise. «Es werden wahrscheinlich noch mehr Frauen und Männer in die Prostitution gehen», sagt Schwester Ariane an der Langstrasse.
Bei angeblichen Freunden
Die Regeln, an die sich SexarbeiterInnen nach der Jahrhundertpandemie halten müssen, sind klar: keine «gesichtsnahen Dienstleistungen», zwischen den Kunden fünfzehn Minuten lüften, anale Praktiken nur mit Handschuhen, Mundschutz empfohlen, desinfizieren, desinfizieren, desinfizieren. Ajana arbeitet nach Möglichkeit nicht im Bett, wäscht die Bettwäsche täglich, putzt das Zimmer ebenso oft mit Putzmittel und Javelwasser. Auf einer Kommode steht Desinfektionsmittel griffbereit. Irgendwo liegen Handschuhe und Mundschutze. Vielleicht liege es an den Regeln und der Pandemie, dass die erste Nacht nach dem Arbeitsverbot kaum Kunden gebracht habe, vermutet sie: «Mit Mundschutz lässt sich nicht arbeiten.»
Die Situation der meisten Frauen sei noch immer sehr angespannt bis prekär, sagt Silvia Arnold von der Gynäkologischen Sprechstunde. Hinzu komme: Viele Frauen seien verschwunden. «Manche kamen wohl bei angeblichen Freunden unter.» Es bestehe die Gefahr, dass sie dort in ein Abhängigkeitsverhältnis gerieten. Und wo die Gefahr von Abhängigkeit besteht, besteht auch die von Ausbeutung. Erst nach und nach werde sich zeigen, wer wo gewesen und wie es ihnen dort ergangen sei. Der grosse Ansturm wird nach der Grenzöffnung am 15. Juni erwartet. Zwei Dinge sind jedoch schon jetzt klar. Erstens: Je mehr Illegalität, desto gefährlicher die Situation für die Frauen. Zweitens: Die Nothilfe für Sexarbeitende bleibt bestehen, sie sind darauf angewiesen.
Mit der Grenzöffnung, sagt Ajana, kämen auch die Frauen wieder, die die Preise noch weiter drücken. Zum Preis, für den Ajana einen Blowjob verkauft, bekämen Kunden bei diesen alles – selbst ohne Kondom. Immer wieder streite sie sich deshalb mit ihnen. Immer wieder bekomme sie danach Besuch von Zuhältern, die ihr und ihrer Familie mit dem Tod drohten. Doch Angst habe sie nur vor Gott.
Ajana möchte in der Schweiz bleiben, aus der Sexarbeit aussteigen, einen Weg finden, auf dem sie sich selbst akzeptieren kann – «Putzen zum Beispiel» – und dann ihren Sohn in die Schweiz holen. «Vor kurzem», erzählt sie, «hat er ein Spielzeugflugzeug geschenkt bekommen. Er sagte, er suche bloss noch nach Batterien, um damit zu mir zu fliegen.»
* Namen geändert.