Desinformationskampagnen: «Proteste? Von Soros bezahlt!»

Nr. 26 –

Der britische Autor Peter Pomerantsev über Propaganda – und was wir aus den neunziger Jahren in Russland lernen können.

WOZ: Peter Pomerantsev, in Ihrem neuen Buch geht es darum, wie Demokratien durch Desinformationskampagnen auf Social Media unter Druck gesetzt werden. Es trägt aber den Titel «Das ist keine Propaganda. Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird». Warum?
Peter Pomerantsev: Inspiriert haben mich dazu die Bilder des belgischen Malers René Magritte. Eines davon zeigt eine Pfeife, Magritte nennt das Bild «Dies ist keine Pfeife». Ich denke, er wollte mit diesen Bildern ausdrücken, wie Begriffe und ihre Bedeutung auseinandergerissen oder relativiert werden können. Auch wir leben heute in einer Welt, in der alte Wörter ihre Bedeutung verloren haben, wie «Westen», «Europa» oder «Demokratie». Was heisst es heute noch, rechts oder links zu sein? Oder ein US-amerikanischer Konservativer? Es gibt nicht mehr diese Stabilität der Begriffe, von der wir noch im 20. Jahrhundert ausgegangen sind.

Inwiefern trifft das auf das Wort «Propaganda» zu?
In meinem Buch geht es darum, wie Manipulatoren versuchen, Begriffe umzudeuten. Heute sind es nicht nur Staaten, die Propaganda verbreiten können, sondern praktisch jede Person mit einem Internetzugang. Das hat solche Ausmasse angenommen, dass jeder diesen Begriff für die eigenen Zwecke gebraucht. Propaganda steht heute nur noch dafür, was der jeweilige Sprecher will, dass es bedeutet. Das Wort hat somit seine Bedeutung verloren.

Sie schreiben: «Verschwörungstheorien treten an die Stelle von Ideologie.» Was meinen Sie damit?
Verschwörungstheorien hat es natürlich schon immer gegeben. Aber früher haben sie sich meist in eine Ideologie eingefügt, wie bei den Nationalsozialisten oder den Kommunisten. Heute ist das nicht mehr so. Autoritäre Politiker wie Donald Trump oder Wladimir Putin deuten jeden geringen Widerstand gegen ihre Politik zu einer grossen Verschwörung um. Strassenproteste? Von George Soros bezahlt! Kritik? Die dekadenten Liberalen wollen mich stürzen! Ob Trump oder Putin nun selbst an diese Verschwörungen glauben oder nicht: Es ist eine bequeme Weltsicht und ein effizientes Machtinstrument.

Ein Umstand, der vor allem autoritären Herrschern in die Hände spielt?
Wenn Sie an Verschwörungstheorien glauben, leben Sie in einer düsteren, mysteriösen Welt. Der Weg zur Wahrheit ist Ihnen versperrt, weil überall Verschwörungen lauern. Sie können sich auf nichts mehr einen Reim machen. Und wenn es keine Möglichkeit gibt, zur Wahrheit vorzudringen, gibt es auch nichts, wofür es sich lohnt zu kämpfen. Letztlich wird das zu einem Instrument, um die Massen zu kontrollieren: Wenn Sie selbst nichts ändern können, dann brauchen Sie eben einen Herrscher wie Putin, Erdogan oder Trump, der Sie mit starker Hand durch dieses dunkle, konspirative Labyrinth führt.

Gerade in der Coronapandemie scheinen Verschwörungstheorien wieder Hochkonjunktur zu haben.
Wir leben zweifellos in einer Zeit der Verunsicherung und der Veränderungen. Wenn sich die Menschen hilflos fühlen, dann wenden sie sich Verschwörungstheorien zu. Interessant ist, dass es dabei nicht um Wissen, sondern um Gruppenbildung geht. Verschwörungstheorien sind Identitätsmarker und bilden neue Gemeinschaften, während alte Gruppenidentitäten verloren gegangen sind. Es gibt so viele Akteure, die Desinformation verbreiten, vom US-Präsidenten bis hin zu Unternehmern, die Produkte verkaufen wollen, seien es vermeintliche Coronaheilmittel oder Fake-Covid-19-Tests.

Sehen Sie neue Tendenzen in der Coronakrise?
Der grösste Trend ist die Politisierung von Gesundheitsinformationen. Die Ärzte waren immer Unberührbare, sie galten grossteils als die letzte Bastion des rationalen Diskurses, die über der Polarisierung in der Gesellschaft steht. Mit der Coronakrise wird das brüchig. Plötzlich werden sie als Teil eines politischen Spiels gesehen, als Akteure, die mit der Regierung unter einer Decke stecken. Das ist sehr gefährlich. Zugleich konnten wir am Höhepunkt der Pandemie aber auch den Trend beobachten, dass sich die Menschen vermehrt etablierten Institutionen und Medien zugewandt haben. Viele Regierungen haben so hohe Zustimmungswerte wie noch nie.

Also alles gar nicht so schlimm?
In meinem Buch geht es um den Konflikt zwischen Identität und Realität, der Tod ist die ultimative, die letzte Realität. Wenn es um den Tod geht, stösst die Desinformation an ihre Grenzen, weil die Menschen nicht mehr nach Identität, sondern nach Fakten suchen. Für Post-Truth-Populisten sind das keine guten Zeiten. Aber das ist nur eine Momentaufnahme. Dieser Trend wird nicht ewig anhalten. Wenn die Pandemie irgendwann vorbei ist, werden wir immer noch unter einer massiven Wirtschaftskrise leiden. Es wird viel Zorn in der Gesellschaft geben, und umso anfälliger werden die Menschen für Manipulationen sein. Es kann noch richtig übel werden.

Sie haben als TV-Produzent in Russland gearbeitet und 2014 mit «Nichts ist wahr und alles ist möglich» ein Buch über die Propagandaindustrie in Russland geschrieben, noch lange vor der Fake-News-Debatte in den USA. Ist Russland da eine Art Avantgarde?
Wir leben heute in einer Welt, in der die Ideologien und die Zukunftsvorstellungen verpufft sind. Das sind Prozesse, die wir so ähnlich auch in den neunziger Jahren in Russland gesehen haben: Der Kommunismus war gescheitert, aber schnell wurde auch die Utopie des demokratischen Kapitalismus entzaubert. In diesem Klima gab es eine Abkehr vom faktischen Diskurs, Spin-Doktoren haben eine neue Idee entwickelt, die Politik der Mehrheit im Gegensatz zur Minderheit, die Idee der «vielen» gegen die «wenigen». Im Westen gibt es ähnliche Prozesse, aber der Kollaps verläuft schleichend.

Inwiefern?
Die globale Finanzkrise 2008 spielt hier eine grosse Rolle, der Glaube an den ständigen Fortschritt ist uns abhandengekommen, und wir haben heute auch im Westen eine Generation, die nicht mehr an eine bessere Zukunft glaubt. Ausserdem erleben wir heute eine ähnliche nostalgische Sehnsucht nach den alten Zeiten, wie wir sie in den neunziger Jahren in Russland gesehen haben. Damals kam die Nostalgie in die russische Politik, als der Glaube an eine glorreiche Zukunft verschwand. Russland von seinen Knien zu erheben, war ein Slogan von Populisten wie Wladimir Schirinowski, und er wurde später von Putin übernommen, ein Vorläufer von Trumps «Make America Great Again».

Was lehrt uns das russische Beispiel?
Putin hat es verstanden, die Polarisierung für sich zu nutzen. Er hat die liberale Opposition vom Rest des Landes abgetrennt. Er hat nicht versucht, alles zu kontrollieren, sondern er hat gesagt: Seht her, das ist die liberale Opposition, mit ihren Minderheitenrechten und liberalen Vorstellungen, sie ist gegen das Volk; ich aber bin für euch, für das Volk, die Mehrheitsbevölkerung. Das hat er sehr effektiv gemacht, ohne dass die Opposition realisiert hätte, was hier gespielt wird. So ist sie in diese Framing-Falle getappt. Das sollte uns eine Warnung sein, Trump macht das mit seinen Gegnern ähnlich. So ist Putin zu einem Pionier einer neuen Generation autoritärer Herrscher geworden, die gegen die eigene Bevölkerung in erster Linie eher mit Propaganda vorgehen als mit Gewalt.

Gegen die Propaganda

Peter Pomerantsev (43) wurde in Kiew als Sohn sowjetischer DissidentInnen geboren. Er war zehn Monate alt, als seine Familie mit ihm nach Wien, München und später London floh. 2001 zog Pomerantsev nach Moskau und arbeitete neun Jahre lang als TV-Produzent für den staatsnahen Fernsehsender TNT. Zurzeit ist er Gastdozent an der Londoner School of Economics.