Sozialhilfe: «Diese widerliche Inszenierung von Wohltätigkeit»

Nr. 45 –

In der Coronakrise offenbaren sich krasse Mängel im schweizerischen System der sozialen Sicherheit. Zeit für eine allgemeine Existenzsicherung: Ergänzungsleistungen für alle, die es nötig haben, findet Véréna Keller, emeritierte Professorin für soziale Arbeit.

«Das Grundübel ist, dass Sozialhilfe mit Zwang und Diskriminierung verbunden ist»: Véréna Keller im Genfer Stadthaus, dem Sitz des Kantonsparlaments.

WOZ: Frau Keller, jetzt, da die Sozialdienste nach acht Monaten Coronakrise wohl überrannt werden …
Véréna Keller: Eben nicht! Am Anfang sind die Fallzahlen leicht gestiegen, sanken dann aber schnell wieder ungefähr auf das Niveau von 2019. Das zeigt ein Monitoring der Skos, der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe.

Obwohl die Arbeitslosigkeit enorm stieg und viel ungeschützte Armut sichtbar wurde?
Der Hauptgrund liegt darin, dass die Sozialhilfe hochgradig entwürdigend, bürokratisch und unfreundlich ist. Ich dachte: Jetzt, in einer solchen Krise, wird die Sozialhilfe als unterstes Netz besonders wichtig, trifft Krisenmassnahmen, erleichtert den Zugang und erweitert die Leistungen. So wie man das anderswo ja gemacht hat, insbesondere in der Arbeitslosen- und Erwerbsausfallversicherung sowie für Selbstständige. Der schöne Slogan «schnell und unbürokratisch» wäre in der Sozialhilfe besonders wichtig gewesen.

Was hätte das konkret geheissen?
Man hätte die Kontrollen auf ein absolutes Minimum beschränken und den Leuten einen etwas höheren Betrag auszahlen können. Der Jura ist meines Wissens aber der einzige Kanton, der in dieser Zeit eine höhere Pauschale gewährte, auch mit dem Ziel einer Vereinfachung für die Sozialdienste. Andernorts mussten die Leute meist wie vor der Krise alle möglichen Anträge ausfüllen, Angaben zur persönlichen Situation machen und Belege vorweisen. Dabei sind viele Leute darunter, etwa Raumpflegerinnen, die nicht jeden Monat einen Lohnausweis haben, manchmal nicht mal einen Vertrag.

Wie hat die Sozialhilfe in dieser Zeit informiert?
Auf den Webseiten, die ich während des Lockdowns konsultiert habe, stand so ungefähr: Haben Sie bitte Geduld, wir sind im Coronamodus. Dann kommt eine Liste, und ich muss herausfinden, zu welchem Sozialzentrum ich gehöre, ein telefonisches Rendezvous abmachen, aber die Leitung ist lange besetzt – und dann die Unterlagen elektronisch übermitteln. Wenn ich nun aber nicht alle Unterlagen aus der Schublade ziehen und sie schon gar nicht einscannen kann, was mache ich dann?

Aufgeben?
Exakt. Und genau das erklärt, weshalb so wenig Leute Sozialhilfe beantragen. Nach dem Lockdown habe ich zwar erfahren, dass einige Sozialdienste gewisse Erleichterungen gewährten und manchmal Leistungen «sur l’honneur», auf Ehrenwort, sprachen. Nur stand das auf keiner Webseite und keinem Flugblatt. Als hätten die Verantwortlichen Angst gehabt, es würden zu viele Leute kommen und sie müssten ihnen vertrauen und dann öffentlich dafür geradestehen. Und noch etwas zeigt sich in dieser Krise.

Was?
Diese widerliche Inszenierung von Wohltätigkeit. Im August hatten wir mitten in Genf eine Ausstellung über die Lebensmittelverteilungen während der Coronakrise, wo sich private Wohltäterinnen feiern liessen. Es gibt diesen schönen Satz, der Pestalozzi zugeschrieben wird: «Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.» Das ist diese Wohltätigkeit, mit der man bestimmten Menschengruppen den Überfluss der Normalbürger schenkt – und das noch als Solidarität darstellt. Denen, die es dringend benötigen, gibt man kein Geld – sondern stellt sie in Schlangen, macht Fotos von ihnen und bringt das immer wieder in die Zeitungen.

Gab es keine Bemühungen, etwas unbürokratischer zu helfen?
Nicht wirklich, weder hier in Genf noch anderswo. Klar, die Lage war extrem. Man musste auf Homeoffice umstellen, das Personal schützen, sich auf neue Bedürfnisse einstellen, und niemand wusste, wie es weitergehen würde. Das Gesundheitswesen, die Arbeitslosenversicherung, ja auch die Schulen haben das aber in Rekordzeit geschafft – warum war die Sozialhilfe dazu nicht in der Lage?

Gewisse Kantone haben doch Gelder gesprochen, um die neue und auch die vorbestehende, sichtbar gewordene Not etwas zu lindern.
Ja, aber das sind überall kurzfristige, bescheidene Sondermassnahmen ausserhalb und unter der Sozialhilfe. In Genf hat der zuständige Regierungsrat ein Gesetz durchgebracht, mit dem Leute, die nach heutigem Usus von der Sozialhilfe ausgeschlossen sind, zwei Monate lang Unterstützung erhalten hätten. Doch dann haben die beiden rechtsextremen Parteien das Referendum ergriffen. Jetzt sind die zwei Monate längst vergangen. Ausserdem bauen viele Gemeinden ihre Notschlafstellen aus und unterstützen die Lebensmittelverteilungen von Wohltätigkeitsorganisationen. So überlebenswichtig das für viele im Moment ist – ist es das, was die Schweiz an Sozialpolitik zu bieten hat?

Und die Tausenden, die jede Woche Schlange stehen?
Befragungen zeigen, dass ein Grossteil von ihnen Anspruch auf Hilfeleistungen vom Kanton geltend machen könnte, es aber aus diversen Gründen nicht tut. Das zeigt einmal mehr: Die soziale Absicherung erreicht längst nicht alle, für die sie gedacht ist. Wissen Sie, was der neueste Hit ist?

Nein.
Jetzt, wo man überall Masken tragen muss, hat man in einigen Kantonen den Leuten, die Sozialhilfe beziehen, hundert Franken dafür gegeben. Das zeigt doch eklatant, dass das Geld von der Sozialhilfe nicht reicht. Aber selbst dafür macht man wieder ein Büro auf. In der Waadt muss man einen Beleg bringen, damit geht es vom Sozialarbeiter zu einem weiteren Dienst, dort muss man zur rechten Zeit erscheinen – und kriegt eine Schachtel mit Masken für einen Monat. Und im nächsten Monat das gleiche Prozedere. So im Stil: Die Armen, die haben nichts anderes zu tun. Jeder Normalbürger würde einen empörten Brief schreiben. Aber die Betroffenen schämen sich und bleiben still. Und da ein grosser Teil jener, die ihre Jobs aufgrund der Coronakrise verloren haben, Ausländerinnen sind, verzichten viele auf Sozialhilfe – aus absolut berechtigter Angst: Wegen eines Sozialhilfebezugs können sie ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren. Obwohl das Staatssekretariat für Migration den Kantonen «empfiehlt», dass ihnen infolge der Pandemie keine zusätzlichen Nachteile erwachsen sollen. Aber wer weiss schon, wie diese Empfehlung umgesetzt wird? Letztlich sind das alles Folgen eines Grundübels.

Das worin besteht?
Darin, dass Sozialhilfe mit Zwang und Diskriminierung verbunden ist.

Wie ist es dazu gekommen?
Lassen Sie mich etwas ausholen: Die ersten kantonalen Gesetze über die Fürsorge wurden in der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Fürsorge wurde zunehmend vom Staat, von den Heimat- oder Wohngemeinden, übernommen. Sie war damals das einzige Sicherheitsnetz für Menschen in Armut, vor allem Kinder, Witwen, Kranke und Alte, aber auch Arbeitslose. Mit der Einführung von allgemeinen Sozialversicherungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren immer weniger soziale Gruppen auf Sozialhilfe angewiesen. Diese Entwicklung ist nicht abgeschlossen, jüngstes Beispiel ist die Einführung der Übergangsrente für ältere Arbeitslose.

Und wann kam die Sozialarbeit ins Spiel?
Relativ spät, so ab den siebziger Jahren.

War das nicht ein Fortschritt?
Einerseits ja: Man wollte die Sozialhilfe besser auf die individuellen Bedürfnisse ausrichten. Andererseits war soziale Arbeit von Anfang an auch ein Erziehungs- und Kontrollinstrument. Idealerweise wäre der Gang zum Sozialarbeiter freiwillig. Für Sozialhilfebeziehende aber ist er das nicht. Dabei wäre es gemäss Bundesverfassung die Grundaufgabe der Sozialhilfe, allen Hilfsbedürftigen ein menschenwürdiges Leben zu garantieren, und das ist primär die Existenzsicherung. Ob die Menschen später wieder ohne Sozialhilfe auskommen können und was es dafür braucht, ist erst die zweite Ebene. Zuerst aber geht es darum, zu klären: Wer ist hilfsbedürftig? Das ist eine komplizierte Frage. Darum gibt es diese uralte Stereotypisierung.

Die da wäre?
Ältere Menschen und sich konform verhaltende Mütter gelten tendenziell als «gute Arme» – und Junge, bei denen man fürchtet, dass sie bis 65 in der Sozialhilfe bleiben, oder auch Ausländer als «schlechte Arme». Es geht darum, dass all jene, die als arbeitsfähig eingestuft werden, auch wirklich arbeiten gehen. «Arbeit» meint in diesem Zusammenhang immer nur «Lohnarbeit».

Und nun delegiert man diese Abklärung an die Sozialarbeitenden?
Salopp gesagt: Man gibt ihnen einen Prügel. Schliesslich steht in den Skos-Richtlinien: Niemand darf bessergestellt sein, als wenn er oder sie arbeiten würde. So ist es einfach, auf Leute zu zeigen, die Sozialhilfe beziehen – statt mit den Mindestlöhnen raufzugehen und die Lohnarbeit so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich ist. Sozialarbeitende geraten somit in ein Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Kontrolle.

Wie liesse sich das auflösen?
Zuerst: Man weiss heute, dass der Arbeitsmarkt die grosse Mehrheit der Klientinnen und Klienten nicht aufnehmen wird. Viele sind Kinder, in Ausbildung oder haben gesundheitliche Einschränkungen. Und notabene leistet rund ein Viertel von ihnen ohnehin schon Lohnarbeit – mit Tieflöhnen und in prekären Jobs. Da wäre es die Pflicht der Sozialarbeiter, den Leuten klar zu sagen, dass Hilfe in Not ein Grundrecht ist. Aus Untersuchungen weiss man aber, dass sie der individuellen Situation der Leute nicht immer Rechnung tragen.

Warum?
Zum einen, weil sie mit viel zu vielen Fällen überlastet sind – zum anderen, weil der politische Druck auf die Sozialhilfe immer grösser wird. Die Vorgaben sind extrem: Manche Politiker meinen, man müsse nur genügend Druck aufsetzen und die Hilfeleistungen senken. Die Sozialhilfe selber integriert diesen Druck oft – und gibt ihn nach unten weiter. Im Kanton Bern erhalten Sozialdienste einen Bonus, wenn ihre Aufwendungen unter dem kantonalen Schnitt liegen – und einen Malus, wenn sie höher sind.

Ist dieses Spannungsverhältnis in der Ausbildung ein Thema?
Gewiss. Das kritische Hinterfragen der eigenen Rolle ist ein zentraler Bestandteil. Das Problem ist, dass die dreijährige Bachelorausbildung viel zu kurz ist für einen derart vielfältigen Beruf: Sozialhilfe, soziokulturelle Animation, Kindesschutz, Schul- oder Heimsozialarbeit – in all diesen und vielen weiteren Feldern müssen Fachpersonen der sozialen Arbeit kompetent sein. Dafür bräuchte es mindestens eine Masterausbildung: zuerst den Bachelor in allgemeiner sozialer Arbeit – dann Spezialisierungen in der Masterausbildung. In Stellenanzeigen liest man aber oft: Vorausgesetzt wird ein Diplom in sozialer Arbeit – oder eine «gleichwertige» oder «ähnliche» Ausbildung. Das heisst, dass Lehrer, Psychologinnen oder Soziologen ohne Ausbildung in sozialer Arbeit angestellt werden. Bei all deren gutem Willen: Es fehlt ihnen an Wissen und Können. Wenn ich zur Ärztin gehe, kann ich auch davon ausgehen, dass sie ihr Fach erlernt hat.

Angesichts all dessen: Bräuchte es da nicht ein grundlegend neues Konzept der Sozialhilfe?
Doch. Und es gibt ja Ideen. Ueli Tecklenburg und Ruth Gurny haben im Denknetz einen interessanten Vorschlag entworfen: Man müsste die bisherige Sozialhilfe in eine allgemeine Existenzsicherung überführen nach der Logik der Ergänzungsleistungen – und damit auch mit dieser elenden Kategorisierung der Armen je nach Grund ihrer Bedürftigkeit aufhören: Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Krankheit, Papierlosigkeit, Flucht [vgl. «Existenzsicherung für alle» im Anschluss an diesen Text]. Die jetzige Sozialhilfe ist aufwendig, ungerecht, selektiv und kompliziert. Nach dem Vorschlag des Denknetzes sollen alle, die belegen können, dass sie zu wenig Einkommen haben, EL erhalten.

Wie sähe das konkret aus?
Eine Frau, die mit einem Lohn von 2000 Franken ihre drei Kinder nicht ernähren kann, ginge zum Amt, und dieses würde ihr während eines Jahres den ihr zustehenden Betrag überweisen – so wie die EL für AHV- und IV-Bezügerinnen. Übrigens: In den sechziger Jahren, als die EL eingeführt wurden, hat der Kanton Bern, fortschrittlich wie er damals noch war, gesagt: Wir haben Rechtsgleichheit, und wenn IV- und AHV-Beziehende EL kriegen, müssen und wollen wir das auf alle ausweiten. Genau so funktioniert ja auch die kürzlich beschlossene Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose. Die neue Sozialhilfe würde also nicht unter, sondern neben den Versicherungen stehen. Sozialhilfe ergänzt ja schon heute oft ungenügende Einkünfte. Im Denknetzmodell müssten jene Leute, die dazu in der Lage sind, zwar weiter Arbeit suchen – aber mit weniger Zwang. Und man würde endlich anerkennen, dass es nicht für alle gute Jobs gibt und Integration auch ausserhalb der Lohnarbeit möglich ist.

Bräuchte es auch einen Ausbau in der sozialen, medizinischen und psychologischen Beratung?
Grundsätzlich müsste man aus meiner Sicht die finanzielle Existenzsicherung von der Beratung trennen. Eines der Elende der Sozialhilfe ist ja eben, dass man meint, man könne alles unter einen Hut bringen. Gerade dadurch aber gerät man in dieses Dilemma von Zwang und Hilfe. Was gewährleistet sein sollte, ist eine Grundsicherung ohne diesen übertriebenen Kontrollapparat und diese Paranoia vor möglichem «Missbrauch». Das würde schon zu einer enormen Entspannung führen. Die Frage ist allenfalls, wie man Beratungsangebote zugänglicher, also demokratischer, macht. In Genf und in den anderen grossen Städten haben wir schon heute eine Vielzahl von hochkompetenten Beratungszentren, jedes für ein Spezialproblem. Weit sinnvoller wäre es, all diese Zentren in polyvalente Dienste zusammenzulegen.

Müssten solche Angebote nicht niederschwelliger sein?
Was heisst denn niederschwellig? Es scheint mir manchmal, dahinter stecke ein verborgener paternalistischer Anspruch, wie wenn alle Leute psychologische, sozialarbeiterische oder pädagogische Begleitung bräuchten und man sie manchmal dazu zwingen müsste. Mit Niederschwelligkeit kann ausserdem eine gewisse Entprofessionalisierung einhergehen. Es sind dann eben oft Freiwillige oder wenig ausgebildetes Personal, das sich in gesonderten Einrichtungen – etwa bei der Essensverteilung oder in Notunterkünften – um «die Schwächsten» und «Prekärsten» kümmert und minimale Leistungen verteilt. Meine Vorstellung von demokratisierter Hilfe ist anders.

Wie denn?
Eher materialistisch und egalitär: Zwingend nötig sind günstiger Wohnraum für alle, ein existenzsicherndes Grundeinkommen sowie kostenlose medizinische Pflege. Das ist niederschwellig! Vergleichen Sie doch mal die Behandlung einer Person, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, mit mir als Versicherter: Wenn ich einen Wasserschaden habe, kommt es niemandem in den Sinn, mir eine psychologische Beratung vorzuschlagen. Und auch meine Pensionskasse verpflichtet mich nicht dazu, über meine allfälligen Ängste im Alter zu reden. Wenn ich Hilfe möchte, hole ich sie mir als freie Bürgerin. Im Gegensatz dazu müssen sich die Armen beraten lassen, und das bedeutet eben oft: sich unterordnen, kontrollieren, normalisieren und moralisieren lassen. Damit wird Armut individualisiert. Dabei ist sie ein eminent politisches Problem.

Véréna Keller

Die 68-jährige Sozialarbeiterin und Erziehungswissenschaftlerin ist emeritierte Professorin und Fachbereichsleiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit in Lausanne und ehemalige Vizepräsidentin von Avenir Social, dem Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz. Sie lebt in Genf. Die Neuauflage ihrer «Chronologie des Umbaus der Sozialhilfe 2000 bis 2020» erscheint Anfang 2021 auf der Website von Avenir Social.

Studie aus Genf : Lebensmittelhilfe zeigt Armut

In Genf wurden im Frühling an sechs Samstagen insgesamt 16 000 Lebensmittelpakete verteilt. Mehrere Tausend Menschen standen dafür bis zu drei Stunden Schlange. Gemäss einer Studie der Universität Genf nahmen im Lockdown rund 7500 Personen die Lebensmittelabgabe der Hilfsorganisation «Colis du cœur» in Anspruch, doppelt so viele wie vor der Krise. Davon waren 230 bereit, Auskunft zu geben, zwei Drittel davon Frauen. 55 Prozent hatten eine Aufenthaltsbewilligung, 45 Prozent hatten eine solche beantragt oder sind Sans-Papiers. Hatten vor Ausbruch der Krise 59 Prozent der Befragten eine Arbeit, so waren es im September noch 35 Prozent. Schon vor dem Lockdown mussten zwei Drittel mit weniger als 2000 Franken im Monat auskommen. Besonders betroffen sind Personen ohne Arbeitsvertrag, ohne Wohnung und ohne Aufenthaltsbewilligung. Bei den Sans-Papiers sank der Anteil derer mit festen Jobs von 76,1 auf 41,5 Prozent. Eine Krankenversicherung leistet sich nur die Hälfte der Befragten, bei den Arbeitslosen gar nur ein Fünftel.

Die Studie zeigt, dass 70 Prozent der Betroffenen aus Unkenntnis, Stolz oder aus Angst vor dem Verlust ihrer Aufenthaltsbewilligung auf öffentliche Hilfe verzichten, wenngleich der Genfer Staatsrat und das Staatssekretariat für Migration beteuerten, dass Menschen, die aufgrund der Krise Sozialhilfe in Anspruch nehmen, keine Nichterneuerung der Aufenthaltsbewilligung zu befürchten hätten. Nicht zuletzt die plötzlich sichtbare Armut hat die Genfer Stimmenden Ende September dazu bewogen, einem Mindeststundenlohn von 23 Franken zuzustimmen.

Adrian Riklin

Der Vorschlag vom Denknetz : Existenzsicherung für alle

Ruth Gurny, Soziologin, und Ueli Tecklenburg, Soziologe und ehemaliger Skos-Geschäftsführer, haben im «Caritas-Jahrbuch 2020» einen Vorschlag für eine grundlegende Neuausrichtung der Sozialhilfe publiziert. Das Modell wurde vom sozialkritischen Thinktank Denknetz erarbeitet. Es ist nicht zuletzt eine Antwort auf die von der SVP lancierten Angriffe auf die Sozialhilfe: So hat diese Partei mit Unterstützung weiterer politischer Kreise durchgesetzt, dass Personen ohne Schweizer Pass nach längerem Sozialhilfebezug das Aufenthaltsrecht entzogen werden kann. Auch will sie die Höhe des Grundbedarfs stetig weiter senken, die Betroffenen entrechten und die Verantwortung und Finanzierung generell den Gemeinden überlassen.

Gurny und Tecklenburg plädieren für eine bedarfsabhängige Existenzsicherung für alle. Diese orientiert sich am Modell der bestehenden Ergänzungsleistungen und würde die heutige Sozialhilfe ersetzen. Zwei Grundsätze stehen im Zentrum: Die Menschenrechte müssen für alle voll gelten und die Angebote anstelle von Kontrolle und Gängelung effektive Hilfe für eine eigenständige Lebensführung auf freiwilliger Basis bieten. Das Modell ist also nicht mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu verwechseln: Wenn das Total der anrechenbaren Einkommen eines Haushalts die anerkannten Ausgaben (Lebensbedarf, Mietkosten sowie medizinische Grundversorgung) nicht deckt, wird das Einkommen entsprechend ergänzt, unabhängig vom Grund für das tiefe Einkommen.

Regionale Arbeitsvermittlungszentren, IV-Stellen und Sozialdienste würden zu polyvalenten Diensten zusammengelegt. Für die berufliche Integration orientieren sich die AutorInnen an Programmen der Waadt, die anstelle von Sozialhilfeleistungen auf Stipendien setzt. Für Menschen, die freiwillig darauf verzichten, Erwerbsarbeit zu leisten, würde ein Modell «Alternativ» eingeführt: Dabei würden die Ansätze um zwanzig Prozent gekürzt; auch könnte dieses Geld nur bezogen werden, wenn das Vermögen unterhalb der heutigen EL-Freigrenze liegt, und müsste nach Möglichkeit zurückbezahlt werden. Damit die Existenzsicherung nicht zum Instrument für eine Subventionierung der Arbeitgeber verkommt, müsste parallel dazu ein ausreichend hoher Mindestlohn eingeführt werden.

Ausgehend von maximal 400 000 Personen, die pro Jahr neu eine Existenzsicherungsleistung von geschätzten 4000 Franken bezögen, würde der Mehraufwand laut Gurny/Tecklenburg maximal 2,3 Milliarden Franken betragen: 1 bis 1,5 Prozent des Gesamtaufwands für Sozialleistungen.

Adrian Riklin

«Sozialalmanach. Eine Sozialhilfe für die Zukunft. Caritas-Jahrbuch 2020 zur sozialen Lage der Schweiz». Caritas-Verlag. Luzern 2020.