Globaler Süden: Lockern, wenn die Kurve steigt
Der Verlauf der Coronapandemie folgt der Logik der Globalisierung. Schon jetzt gehören die Ärmsten zu den grössten VerliererInnen – dabei steht der Peak im Globalen Süden erst noch bevor.
Auf den ersten Blick wirkt es widersprüchlich. Viele Länder des Globalen Südens sind bislang noch verhältnismässig schwach von der Coronapandemie erfasst worden. Und trotzdem sind die Menschen, die dort leben, überdurchschnittlich stark davon betroffen – nicht zuletzt aufgrund der länderspezifischen Massnahmen gegen die Verbreitung des Virus.
Warum ist das so? Weshalb nehmen in vielen ärmeren Ländern die Fallzahlen erst jetzt exponentiell zu? Und was hat das mit Ländern wie der Schweiz zu tun?
Neben der Tatsache, dass das Coronavirus auf der ganzen Welt die Gesundheit von Milliarden Menschen gefährdet, ist diese Pandemie auch ein gigantisches unfreiwilliges Experiment: Sie offenbart, wie Globalisierung funktioniert – und welche Rolle dabei globale und innerstaatliche Ungleichheiten spielen.
Das imperiale Virus
Die weltweite Verbreitung des Virus folgte ziemlich genau dem Muster, nach dem sich einst die kapitalistische Produktionsweise in der Welt verbreitet hat. Es lohnt sich, die marxistisch orientierte Dependenztheorie in Erinnerung zu rufen: Demnach entstand in den Zeiten des europäischen Imperialismus eine internationale Arbeitsteilung, die ein (industrialisiertes) Zentrum und eine (ausgebeutete) Peripherie voneinander abhängig machte. Investitionen fliessen in die eine Richtung (zum Beispiel nach Ghana), Rohstoffe und andere Erzeugnisse billiger Arbeitskraft fliessen zurück (zum Beispiel in die Schweiz). Schwellenländer wie etwa Südafrika, Brasilien, Indien oder China weisen Charakteristiken eines Zentrums wie auch der Peripherie auf.
Von einem der neueren Zentren der Weltwirtschaft in China gelangte das Coronavirus zuerst in andere asiatische Zentren wie Japan und Südkorea, dann ins klassische Zentrum Europa und ins modernere Zentrum USA. In der afrikanischen Peripherie hingegen fürchtete man sich längere Zeit umsonst vor dem Erreger aus China. Im Januar erwarteten verschiedene ExpertInnen jeden Moment eine Art Explosion von Covid-19-Erkrankungen in den Ländern südlich der Sahara – insbesondere in solchen, die eine enge Beziehung zu China pflegen. So gab es etwa in Kenias Medien eine Welle der Entrüstung, weil selbst im Februar noch Passagierflugzeuge aus stark betroffenen chinesischen Provinzen direkt nach Nairobi flogen.
Doch die ersten Covid-Erkrankten kamen nicht aus China auf den afrikanischen Kontinent – sondern aus Europa. Sowohl in Afrika wie im «Westen» überschätzte man die Rolle Chinas: Zwar ist China in den letzten Jahrzehnten tatsächlich für viele Länder zu einem der wichtigsten Investoren und Handelspartner geworden, mit regen menschlichen Kontakten und vielen Flugverbindungen. Doch der direkte Austausch ist noch immer sehr viel geringer als jener mit Europa. Die durch den Imperialismus errichtete Dependenz zwischen Europa und Afrika wirkt fort – auch im vermeintlich chinesisch geprägten Coronazeitalter.
Selbsthilfe der Armen
Dann gab es die nächste Überraschung. Nach den ersten nachgewiesenen Covid-19-Fällen kam es in Afrika nicht zu einer explosionsartigen Verbreitung des Virus. Die meisten Regierungen ergriffen frühzeitig Massnahmen zur Eindämmung – Distanzregeln in Bussen, Schulschliessungen, bald auch abendliche Ausgangssperren oder gar Lockdowns. Und sie setzten die Rezepte aus Europa nicht nur deutlich rascher um, sondern auch rigoroser.
In Kenia zum Beispiel fürchtet der grösste Teil der Bevölkerung bis heute die Staatsgewalt sehr viel mehr als das Virus selbst. Verständlicherweise, wurden doch nur schon in den ersten zehn Tagen der nächtlichen Ausgangssperre mindestens zehn Menschen durch Polizisten getötet. Indirekt gab es noch viel mehr Opfer – zum Beispiel jene Hochschwangere mit Komplikationen, die starb, weil sie und ihr Partner sich nicht getrauten, nachts in die Notaufnahme zu gehen.
Gewalt und Willkür durch Sicherheitskräfte gehören in vielen Ländern des Globalen Südens seit Generationen zum Alltag. Wie einst die Kolonialherren verteidigen seit der Unabhängigkeit die Regierungs- und Wirtschaftseliten ihre Privilegien gegenüber der Bevölkerung.
Deswegen wurden die Massnahmen in Ländern wie Kenia, Südafrika oder Indien nicht auf die Bedürfnisse der ärmeren Schichten abgestimmt. Wenn ganze Stadtviertel abgeriegelt sind und niemand mehr auf die Strasse darf, geraten viele in existenzielle Not, weil sie zum Überleben jeden einzelnen Tag Geld verdienen müssen.
Anstatt auf den Staat verlassen sich die BewohnerInnen armer Stadtteile auf sich selbst und ihre NachbarInnen. Fehlt es an sanitären Anlagen, tüfteln findige SchülerInnen an einer kontaktlosen, solarbetriebenen Handwaschanlage, die sich einfach und günstig bauen lässt. Überall entstanden schnell Gesichtsmaskenmanufakturen. In vielen Slums der Welt gibt es ein hohes Bewusstsein für Hygieneregeln, da schon zuvor ansteckende Krankheiten bekämpft werden mussten. In Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro keine wirksamen Schutzmassnahmen ergriffen hat, übernehmen Nachbarschaftsinitiativen in den Armenvierteln von São Paulo und Rio de Janeiro diese Aufgabe.
Doch die Oberschichten in der Peripherie, wie auch die Zentren der Weltwirtschaft, sind auf die Armen angewiesen: als billige Arbeitskräfte. Coronarestriktionen mögen Leben retten, aber sie drosseln die Wirtschaftsleistung drastisch. So kommt es, dass einige Regierungen im Globalen Süden bereits dabei sind, Massnahmen zu lockern, obwohl der Peak noch nicht erreicht ist. Nun steigen die Ansteckungskurven dort teils fast so stark wie vor einigen Monaten in Europa. Drei Viertel aller neu registrierten Covid-19-Fälle finden sich im Globalen Süden.
Doppelt so viele Hungernde?
Auch in reichen Ländern mit minimalem Sozialstaat sind die ärmsten Bevölkerungsteile am heftigsten von den gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden der Pandemie betroffen. In den Ländern der Peripherie aber sind die Konsequenzen noch einmal drastischer: Das Welternährungsprogramm der Uno schätzt, dass sich die Zahl der Hungernden in der Welt aufgrund der Pandemie verdoppeln wird. Und EntwicklungswissenschaftlerInnen befürchten, dass bis zu 400 Millionen Menschen wieder in die extreme Armut zurückfallen könnten.
Aber auch kurzfristig, in den globalen gesundheitspolitischen Verteilungskämpfen, haben die Länder der Peripherie einen strukturellen Nachteil. Während ein Land wie die USA unverblümt die Weltgesundheitsorganisation erpressen und die eigenen Spitäler mit Respiratoren ausrüsten kann, müssen finanzschwache Länder darauf hoffen, dass die «internationale Gemeinschaft» sich ihrer erbarmt. Noch ist unklar, ob sie Zugang zu günstigen Impfstoffen erhalten und ob sich ihre StaatsbürgerInnen gratis impfen lassen können.
Bei allem Realitätssinn: Ein kleiner Hoffnungsschimmer lässt sich auch in dieser Krise ausmachen. Immerhin wird auch neoliberalen Wirtschaftsführern und Politikerinnen wieder einmal vor Augen geführt, wie sehr ihr Profit und ihr Wohlstand von den Menschen abhängen, die anderswo leben und arbeiten. Denn die globale Wirtschaft wird erst dann wieder in Gang kommen und vor einer erneuten Coronawelle gefeit sein, wenn das Virus überall auf der Welt gleichermassen besiegt ist.