Zweite Welle: Allgemeine Gereiztheit
Freiheit. Die grosse. Als Mitte Juni der Bundesrat die jüngsten Lockerungsschritte bekannt gab, lag sie in der Luft. Feierlich verkündete Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga das Ende der ausserordentlichen Lage. Sie ist nur noch besonders. Der Bundesrat hob die Sperrstunde und das Demonstrationsverbot auf. Veranstaltungen mit bis zu tausend Personen sind wieder möglich, die Abstandsregeln von 2 auf 1,5 Meter geschrumpft. Zunächst nicht einmal eine Maskenpflicht hatte der Bundesrat beschlossen: Er beschwor die Selbstverantwortung.
Das passt zur Kommunikationsstrategie von Gesundheitsminister Alain Berset, der in der Krise immer wieder der «verantwortungsbewussten» Bevölkerung dankte. Nun also soll diese belohnt werden für die Mühen der letzten Wochen. Endlich wieder in den Club – oder ans Schützenfest. Endlich wieder schwitzen in der Flussbadi und vielleicht schon bald wieder jubeln im Fussballstadion. Dass vor allem die Wirtschaft auf die rasante Öffnung gedrängt hatte, tat der Botschaft keinen Abbruch: Die Bevölkerung hat sich die Normalität verdient – genug der Entbehrungen, der Ausnahmezustand ist abgesagt.
Und nun das: Das Freiheitsgefühl will sich nicht so recht einstellen. Im Land macht sich zunehmend Verunsicherung breit. Gereiztheit gar und Gekeife. Das liegt nicht nur an den seit den Lockerungen wieder markant steigenden Fallzahlen, sondern in erster Linie an der Krux mit der Selbstverantwortung und der Freiheit. Am aussagekräftigsten ist dabei eine durch das Marktforschungsinstitut Marketagent durchgeführte Umfrage: Sie zeigt, dass zwei Drittel der Befragten eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr befürworten. Und das, obwohl freiwillig kaum jemand eine Maske trug. Ein krasser Widerspruch? Nein. Eher ein zutiefst menschliches Paradox. Masken entfalten ihre präventive Wirkung nur dann, wenn sie möglichst alle tragen. Ohne Maskenpflicht lebt jeder Einzelne im Glauben, dass er selbst nicht viel bewirken könne. Es ist wohl diese gefühlte Handlungsunfähigkeit, die verhindert, dass Menschen jene Verantwortung übernehmen, die sie eigentlich befürworten. Manchmal machen eben gerade Regeln frei – zu tun, was man tun möchte. Ab Montag nun gilt doch eine Maskenpflicht im ÖV: Der Bundesrat hat am Mittwoch dem öffentlichen Druck nachgegeben.
In der Coronakrise agiert die Schweiz mit der altbekannten Selbstgefälligkeit: mit dem Gefühl, dass sich hier alles etwas besser regeln lasse als rundherum. Mit dem Selbstverständnis, dass die ganz grosse Erschütterung ausbleiben würde. Und doch legt diese seltsame zweite Coronaphase posttraumatische Dünnhäutigkeiten offen. Das zeigt sich etwa in der nervösen Debatte um den Zürcher «Superspreader», jenen Gast, der vor anderthalb Wochen im Zürcher Flamingo-Club fünf weitere Gäste ansteckte. Der «Tages-Anzeiger» deckte irgendwann nach Bekanntwerden der Ansteckungen auf: «Infizierte zogen von einem Club in den anderen.» Klingt so, als hätten die PartygängerInnen bewusst ihre Viren quer durch Zürich geschleudert. Moralisierend geht es auch auf Twitter zu. Manch einer wünscht hier dem «ganzen Partyvolk» Corona an den Hals. Auch das ein Paradox: Was erlaubt ist, schützt einen nicht davor, zum Sündenbock zu werden. Überhaupt: Die Gehässigkeiten nehmen zu. So reklamiert Natalie Rickli, Zürcher Gesundheitsdirektorin jener Partei, die seit Beginn der Krise gegen alle Massnahmen opponierte, das Bundesamt für Gesundheit habe die Kantone nicht ausreichend über die Ansteckungsgefahren in Clubs aufgeklärt.
Das Virus ist längst nicht verschwunden. Das Leben kehrt zurück, aber damit auch eine zunehmende Konfusion. Die Marketagent-Umfrage förderte noch ein Ergebnis zutage: Die Mehrheit der Befragten wolle wieder einen Sicherheitsabstand von 2 Metern. Ein Soziologe erklärte das so: Der Bundesrat setzte die Menschen mit der 1,5-Meter-Grenze dem Druck aus, sich locker zu geben. Es ist eben nicht so einfach, das mit der Freiheit.