Corona-Lockerungen: Wer trainiert, ist kein schlechter Mensch

Nr. 16 –

Seit Montag sind die Fitnesszentren im Land wieder geöffnet. Das sorgt wegen der Ansteckungsgefahr für viel Empörung. Dabei ist die Kritik vor allem überheblich.

Zu unrecht verpönt: Die Ansteckungsgefahr in Fitnessstudios mit Schutzkonzepten ist geringer als in Einkaufsläden oder Büros.

«Ihr könnt mich schon fotografieren, aber vielleicht solltet ihr in drei Wochen noch mal kommen, wenn ich wieder mehr Masse aufgebaut habe», sagt der Mittzwanziger lachend und legt sich zurück auf die Hantelbank, nur um dann noch schnell nachzuschieben: «Aber siebzig Prozent ist ja eh nur Ernährung, und gegessen habe ich die letzten Monate genug.»

Der junge Mann scherzt, entlarvt gleichzeitig aber auch, an was viele Menschen denken, wenn von Fitnessstudios die Rede ist: Abnehmen oder Bodybuilding. «Selbstoptimierung» heisst das dann im linksbürgerlichen Bildungsjargon etwas herablassend.

Vor ein paar Tagen titelte das Newsportal «Watson» in einem Beitrag zur Wiedereröffnung der Gyms spöttisch: «Ich kann nur noch 60 statt 90 kg drücken». «Das bestätigt genau die Vorurteile all jener, die im individuellen Kraftsport ohnehin etwas Ordinäres sehen», sagt Lukas Kurz, der eigentlich anders heisst und heute zu seinem ersten Training seit vier Monaten erschienen ist. «Unter gewissen Bedingungen, das heisst mit praktikablen Schutzkonzepten und deren Einhaltung durch die Sportler, finde ich es politisch vertretbar, die Fitnesszentren zu öffnen.»

Kognitive Dissonanz

Tatsächlich haben bisher mehrere voneinander unabhängige Studien aufgezeigt, dass die Ansteckungsgefahr in Fitnessstudios mit Schutzkonzepten geringer ist als etwa in Einkaufsläden oder Büros. Aber es ist eine Gratwanderung, wie so vieles in der Pandemie: Ende März schlossen die Behörden in Québec ein Fitnessstudio, nachdem dort Schutzmassnahmen missachtet worden waren und es zu einem Massenausbruch mit über 200 Infizierten gekommen war.

In dem Fitnessstudio einer günstigen, mittelgrossen Schweizer Kette im Zürcher Kreis 5, in dem auch Lukas Kurz trainiert, ist an diesem Montagnachmittag ordentlich Betrieb. Den «Neujahrseffekt» nennt Kurz das, bevor er wieder seine Kopfhörer aufsetzt und mit dem Aufwärmen beginnt. Tatsächlich erinnert die Menschenmenge etwas an den Jahresbeginn, nur dass es keine neuen KundInnen sind, die sich heute hier tummeln, sondern all jene, die von der Schliessung der Fitnesszentren letzten Dezember und der damit einhergehenden Sistierung ihrer Jahresabos betroffen waren.

Die Schutzkonzepte für die wiedereröffneten Fitnesszentren sind streng. Eine wiederkehrende Durchsage erinnert an die überall geltende Maskenpflicht. Die Geräte stehen weiter auseinander als sonst, die Personenzahl ist limitiert, desinfiziert werden die Geräte nach jeder Benutzung auch ohne Pandemie, jetzt hängen zusätzliche Sprühflaschen bereit.

Nebst dem Geruch von Schweiss und Desinfektionsmittel liegt an diesem Nachmittag aber vor allem eines in der Luft: kognitive Dissonanz. «Meiner Meinung nach wird generell zu früh gelockert», sagt die Besucherin, die sich als Sandra Josef vorstellt, und führt aus: «Ich befürchte, dass die Fitnesszentren sowieso bald wieder werden schliessen müssen.» Dennoch ist die Kraftsportlerin hier, denn Gewichtheben sei zu Hause nicht möglich. Schon wenige Tage nach der Schliessung der Fitnesszentren waren Hanteln und Gewichtsscheiben schweizweit teilweise wochenlang ausverkauft, die Preise horrend – und eine Garage hat auch nicht jeder. Für Sandra Josef kommt hinzu, dass ihr Abo mit der Öffnung automatisch weiterläuft; eine freiwillige Sistierung ist nicht möglich. Dass sie sich mit ihrem Besuch in der breiten Bevölkerung dennoch nicht unbedingt beliebt macht, ist der jungen Frau bewusst.

Viele Fitnessstudios sind in den letzten Monaten eingegangen, die Lobby ist, im Vergleich mit jener im Detailhandel oder in der Gastronomie, schwach aufgestellt und wenig vernetzt. Weil der lautstarke Öffnungsdruck vonseiten der BetreiberInnen mehrheitlich ausblieb, wird die gesellschaftliche Verantwortung nun auf die BesucherInnen abgewälzt: Es sei egoistisch, während einer Pandemie und vor allem während steigender Fallzahlen «ins Fitness» zu gehen. Stattdessen sollte mensch nach der Achtstundenschicht lieber ein Buch lesen und spazieren gehen. Und sonst gibts ja den in jeder Kommentarspalte zum Thema zu Tode zitierten Vitaparcours im Wald oder Pilatesvideos für zu Hause – ungefragte Ratschläge, an denen sich erkennen lässt, dass hier vor allem all jene zu Wort kommen, in deren Wahrnehmung Fitnessstudios allein dazu da sind, Egozentrikerinnen, Instagram-Mädchen und eitlen Muskelprotzen eine Bühne zu bieten – also all jenen, von denen man ohnehin wenig Solidarität erwartet.

Auch die psychische Gesundheit zählt

Der Diskurs um die Wiedereröffnung der Fitnessstudios und die Empörung darüber sind entlarvend für das simple Verständnis der Psyche-Körper-Dualität, wie es gerade im linksbürgerlichen Milieu stark verankert ist. Wobei «Körper» mit ästhetischem Bodybuilding oder Abnehmen assoziiert wird und die Psyche mit intellektuell konnotiertem und scheinbar pandemiekonformerem Freizeitverhalten. Wie lässt sich – die Sympathie für die Kulturschaffenden gänzlich ausgeklammert – denn sonst erklären, dass die Wiedereröffnung von Kultur- und Kunstbetrieben im Gegensatz dazu fast durchgängig wohlwollend kommentiert wurde, obwohl dort doch auch fleissig geatmet, geredet, gesungen und sich bewegt wird?

Auch die Gewichtheberin und Trainerin Désirée Janoud ist sich bewusst, dass die Fitnesszentren – Orte des individuellen Vergnügens – als etwas gelten, was man lieber zu spät als zu früh wieder öffnen sollte: «Ich finde jedoch nicht, dass sich persönliche Interessen und gesellschaftliche Notwendigkeiten zwingend gegenseitig ausschliessen müssen.» Gesamtgesellschaftlich sei es momentan wichtig, im Namen der Gesundheit die Ausbreitung des Virus in Schach zu halten, daran lässt Janoud keinen Zweifel, fügt aber hinzu: «Wenn ich bedenke, welchen unglaublichen Stellenwert die Worthülse ‹Selfcare› gerade im Verlauf des letzten Jahres bekommen hat, verstehe ich nicht, was verwerflich daran ist, diese ‹Selfcare› an körperliche Leistungssteigerung und Fitness zu binden.» Zumal nachgewiesen sei, dass Sport auf die Psyche, besonders etwa bei Depressionen, einen positiven Effekt habe.

Auch die polemische Kritik, bei Fitnessbesuchen gehe es nur um Selbstoptimierung, lässt Janoud so nicht gelten: «Wenn ich einen Teil meiner Freizeit darauf verwenden würde, in meinem Beruf weiterzukommen, würde auch niemand von dieser bösen Selbstoptimierung reden.» Sich nach der Schule oder Arbeit beim Sport zu erholen, schaffe hingegen keinen wirtschaftlichen Mehrwert: «Wenn sogenannte Selbstoptimierung meiner persönlichen, nicht kapitalisierbaren Erholung dient, ist das plötzlich etwas Verwerfliches.» Für manche heisst diese Erholung eben Gewichtheben, Bodybuilding oder Crossfit. Für andere Joggen oder Wandern.

Mittlerweile hat sich das Studio im Zürcher Kreis 5 gefüllt. Was sich im Gespräch mit den regelmässigen BesucherInnen ergibt, lässt sich leicht als Egoismus abtun. Überraschend oft ist es aber die durchaus reflektierte Erkenntnis, dass etwas politisch falsch sein kann und sich dennoch individuell richtig anfühlt, vor allem aber, dass Individualsport für die meisten hier den stärksten alltäglichen Ausgleich darstellt, den sie gerade jetzt brauchen.