Coronalockerungen: Wer hat da wie Einfluss genommen?

Nr. 26 –

WissenschaftlerInnen kritisieren die jüngsten Öffnungsschritte in der Coronapandemie. Eine Frage steht im Raum: Opfert die Schweiz den Gesundheitsschutz wirtschaftlichen Interessen?

Leere Berner Bahnhofshalle im Lockdown: Ob sich die SBB deswegen beim Bundesrat für starke Lockerungen eingesetzt hat, kommentiert sie nicht. Foto: Annette Boutellier, Lunax

Einige Hassmails habe er bekommen und ganz viel Zuspruch. So rekapituliert Matthias Egger, Epidemiologe an der Universität Bern und Leiter der Science Task Force, die letzten Tage. Egger, der mit sechzig weiteren WissenschaftlerInnen den Bundesrat während der Pandemie beratend begleitet, hatte nach den jüngsten Öffnungsschritten Alarm geschlagen. «Für die jüngsten Lockerungen sind wir noch nicht bereit», sagte er gegenüber der «NZZ am Sonntag». Von einer «besorgniserregend tiefen Rückverfolgungsrate» der Infektionsketten sprach er im SRF-«Rendez-vous». Und in der «SonntagsZeitung» zeigte er sich «erstaunt über die Grenzöffnungen ohne detailliertes Schutzkonzept».

In den letzten Wochen schienen Wissenschaft und Politik einen gemeinsamen Weg zu gehen. Jetzt klaffen die Schlüsse aus den Analysen davon, was zu tun und was zu unterlassen sei, auseinander. Letzten Freitag beendete der Bundesrat die «ausserordentliche Lage», er gestattet neu Demonstrationen mit unbeschränkter TeilnehmerInnenzahl, erlaubt Veranstaltungen bis tausend Personen, er setzt Polizeistunde und Restriktionen beim Restaurantbesuch ausser Kraft – und nimmt sogar seine Empfehlung zurück, wenn möglich zu Hause zu arbeiten und nicht im Büro.

Egger sagt, die vorherigen Öffnungsschritte seien in einer guten Kadenz erfolgt. Dieser jüngste nun komme aber zu früh, weil unklar sei, wie sich die letzten Lockerungen auswirkten. Er sagt auch: «Zum ersten Mal verspüre ich ein Unbehagen.» Egger kritisiert, dass unter dem Eindruck der tiefen Fallzahlen «die wirtschaftlichen Interessen sehr stark gewichtet worden sind». Die Gefahr, die er sieht: dass die Fallzahlen stark ansteigen und die Pandemie wieder ausser Kontrolle gerät.

Verhandelt wird im Stillen

Wie gross der Druck aus der Wirtschaft war, bleibt unklar. Die SBB, interessiert an vielen PendlerInnen, reagiert nicht auf eine Anfrage. Economiesuisse, der wichtigste Wirtschaftsverband, dessen Präsident Heinz Karrer über einen direkten Zugang zum Bundesrat verfügt, verneint eine Einflussnahme. Chefökonom Rudolf Minsch sagt: «Wir haben die letzten Lockerungsschritte nicht gefordert und entsprechend auch keine Position dazu in den Gremien gefasst.» Entscheidend für den Verband seien frühere Öffnungsschritte gewesen.

Tatsächlich ist es kaum nachverfolgbar, welche Kreise wie Einfluss genommen haben. Das Bundesamt für Gesundheit geht auf eine entsprechende Anfrage nicht ein und begründet sämtliche Lockerungen mit den «aktuell tiefen Fallzahlen»; Gesundheitsminister Alain Berset spricht von einer «politischen Entscheidung». Er liefert keine Herleitung, keine Erörterung der Interessen. Verhandelt wird im Stillen, entschieden ebenso. Selbst der Krisenstab des Bundes, in dessen Runde Einschätzungen der Bundesämter und beigezogener Kreise einfliessen, wusste im Detail nichts von diesen Lockerungsmassnahmen. «Ich war sehr überrascht, dass der Bundesrat die Empfehlung fürs Homeoffice wieder zurücknimmt», sagt ein Mitglied des Krisenstabs. Besprochen worden sei das nie.

Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbands Travail Suisse, hat kein einseitiges Powerplay der Wirtschaft bemerkt. Wüthrich sitzt mit Arbeitgebervertretern regelmässig in kleiner Runde mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin zusammen. Einige Tage vor neuen bundesrätlichen Massnahmen wurden die Sozialpartner häufig informiert und konnten Stellung beziehen. Wüthrich sagt, er habe den Bund meist als resistent gegenüber Wünschen der Branchenverbände erlebt: «Der Gewerbeverband ist früh mit unsäglichen Forderungen aufgefallen – und damit stets abgeblitzt.» Die Tourismusbranche mit Gastro- und ÖV-Verbänden sei hingegen vom Bundesrat zu zwei runden Tischen empfangen worden und habe starken Druck gemacht.

Blindes Vertrauen?

Transparenz ist kein Merkmal der Schweizer Krisenbewältigung. Trotz der vielen gemischten Ausschüsse und Spezialgremien liegen die Entscheidungswege im Dunkeln. Und der Bundesrat scheint wieder zunehmend auf blindes Vertrauen zu bauen – und weniger auf eine informierte Bevölkerung.

Epidemiologe Matthias Egger ist auch deshalb an die Medien gelangt. Er wollte aufrütteln, wollte die Öffentlichkeit über die Unstimmigkeiten in Kenntnis setzen. Tatsächlich gibt es solche auch innerhalb der Science Task Force. Marcel Tanner, Epidemiologe und ehemaliger langjähriger Direktor des Tropeninstituts, sagt: «Wir müssen uns öffnen, auch wenn noch nicht alle Systeme perfekt sind.» Er habe das auch schon erlebt, als er gegen den Ebolaausbruch in Westafrika ankämpfte: «Egal wie schwierig die Lage ist: Die Menschen brauchen eine Perspektive. Der gemeinsame Ausblick erzeugt ein Miteinander und Solidarität, was für das Einhalten der Schutzmassnahmen wichtig ist.» Tanner sagt, man müsse die Öffnungsschritte als gesellschaftliche und auch wissenschaftliche Herausforderung betrachten, nicht als einen Kampf der Interessen: «Unbehagen ist eine schlechte Leitlinie im Leben.»