Die zweite Welle: Bereits im Blindflug?
Noch Ende September schien die Lage stabil, nun explodieren die Coronazahlen. Die Taskforce des Bundes beschwichtigt. Aber der Eindruck der Konzeptlosigkeit verfestigt sich.
Ein bisschen ist es gerade so, als würden zwei Züge aufeinander zurasen. Da ist einerseits die stark steigende Infektionskurve. Andererseits ist da das Lockerungsprogramm, das der Bundesrat im Frühsommer unter dem Eindruck der Entspannung vorangetrieben hat. Zuletzt folgte Anfang Oktober die Wiedererlaubnis von Grossanlässen – just in einem Moment, in dem die Zahlen der Neuinfektionen explodieren.
Die Eskalation kam schnell: Noch Mitte September sanken die Zahlen nach dem konstanten Anstieg über den Sommer leicht und schienen sich bei rund 400 Ansteckungen am Tag zu stabilisieren. Epidemiologe Marcel Salathé, Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce, die den Bund berät, sagte Ende September: «Es sieht gerade wirklich, wirklich gut aus.»
Gestern Mittwoch dann meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2823 Neuansteckungen, so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie im März. Und auch die Rate der positiven Tests, die viel über die Dunkelziffer aussagt, steigt jeden Tag, am Mittwoch lag sie bei 13,6 Prozent.
War bislang Schweden Europas Ausnahme, richten sich die Augen nun plötzlich auf die Schweiz: Selbst in den vielgescholtenen USA gibt es kaum Bundesstaaten mit so lockeren Bestimmungen bei ähnlich steiler Ansteckungskurve. Wie konnte es so weit kommen? Und bremst der Bundesrat nun den Lockerungszug?
PR-Schlacht ums Tracing
Die Grundstrategie zur Eindämmung des Coronavirus lag seit dem Ende des Lockdowns im Mai bei der Unterbrechung von Ansteckungsketten. Testen, tracen, isolieren, lautete das Motto. Kombiniert mit den kantonal unterschiedlich strengen Massnahmen wie Maskenpflicht oder Zutrittsbegrenzungen für Clubs und Bars sollte die Lage unter Kontrolle gehalten werden.
Für Andreas Cerny, Epidemiologe an der Universität Bern, ist diese Strategie gescheitert. Die Fehlentwicklung sei schon Ende Juni eingeleitet worden: «Als sich Alain Berset in die Ferien verabschiedete.» Cerny kritisiert, dass sich der Bundesrat nach dem Lockdown zu stark von der Wirtschaft habe unter Druck setzen lassen. «Wir Epidemiologen haben immer gewarnt, dass man nach einem Lockerungsschritt vier Wochen beobachten muss, wie sich die Lage entwickelt.» In einer Pandemie müsse langfristig gedacht werden, «das wurde versäumt». Laut Cerny führte das dazu, dass sich die Zahlen zu lange auf zu hohem Niveau entwickeln konnten. Das habe die Tracing-Systeme der Kantone an ihre Grenzen gebracht. Dass die Ansteckungen dann innert weniger Tage derart stiegen, kann sich Cerny nur damit erklären, dass die TracerInnen die Kontrolle verloren hätten. «Das passiert, wenn wir die Ketten nicht mehr unterbrechen.»
Da mutet es seltsam an, wenn Taskforce-Leiter Martin Ackermann genau das Gegenteil sagt: Die zweite Welle sei noch nicht da, solange das Tracing noch funktioniere. Gegenüber SRF erklärte Ackermann: «Sonst wäre das der Blindflug.»
Vieles spricht dafür, dass dieser bereits begonnen hat: Der Kanton Zürich etwa lieferte sich Anfang Woche eine PR-Schlacht mit den Medien. Dies nachdem die «SonntagsZeitung» vermeldet hatte, dass der bevölkerungsreichste Kanton nicht mehr in der Lage sei, alle Kontaktpersonen zu informieren. Die Kommunikationsabteilung postulierte daraufhin: Das stimme nicht, man habe das Tracing vollständig im Griff.
Zweifelhaft erscheint das, weil den Medien – auch der WOZ – gegenteilige Geschichten bekannt sind. Etwa von positiv Getesteten, die nach einer Meldung ans Tracing-Team zwei Tage warteten, bis dieses die Daten von Kontaktpersonen aufnahm. Am Montag meldete der Kanton Schwyz seine Überlastung an – ein Kanton mit stark steigenden Zahlen, der bis Dienstag weder eine Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen noch eine Publikumsbeschränkung für Bars und Clubs kannte. Angesteckte müssen im Kanton Schwyz ihre Kontakte bis auf Weiteres selber informieren. Der zuständige Kantonsarzt beantwortet eine Anfrage dazu bis Redaktionsschluss nicht.
Der Kanton Waadt wiederum vermeldete bereits Ende September, dass künftig nur noch die nächsten Angehörigen in Quarantäne geschickt würden. Das war faktisch die Aufgabe des Tracings. Wer auf die dortige Tracing-Hotline anruft, hängt erst mal zwei Stunden in der Warteschleife. Die freundliche Tracerin, die schliesslich abnimmt, sagt: «Ja, wir haben gerade sehr viele Fälle.» Mehr könne sie nicht sagen. Die zuständige Gesundheitsdirektion schreibt auf Nachfrage, sie habe inzwischen das Tracing-Personal um zwanzig Personen aufgestockt und rekrutiere weitere MitarbeiterInnen.
Die Standardantwort des BAG
Besorgniserregender ist in diesen Tagen, wie ratlos das BAG und der Bundesrat erscheinen. Einen Überblick über die Tracing-Situation hat das BAG nicht, wegen unzureichender Daten aus den Kantonen. Auf Nachfrage schreibt das BAG: Das liege daran, dass noch nicht alle Kantone das entsprechende IT-System implementiert hätten.
Konkret arbeiten gemäss BAG derzeit nur elf Kantone mit einem zentralen System, in das Informationen eingetragen werden, die wichtige Rückschlüsse zulassen – etwa darauf, wie hoch die Quote der Angesteckten ist, die sich bei einem positiven Test bereits in Quarantäne befinden. Ausgerechnet Ansteckungsspitzenreiter wie Zürich, die Waadt und Genf liefern offenbar noch keine Daten. Wie ist so etwas gut vier Monate nach dem Start der Tracing-Strategie möglich? Das BAG schreibt lediglich: Die Kantone hätten aufgrund der hohen Arbeitslast «Mühe, den IT-Prozess und die zusätzlichen Fragen zu integrieren». Das BAG erwarte aber, dass sich die Probleme in den nächsten Wochen lösten.
Der Bund scheint in der Lockerungsphase stecken geblieben zu sein. Die Kompetenzen lägen nun bei den Kantonen, lautet die Standardantwort auf die Frage, wie man der zweiten Welle begegnen wolle. Auf die Nachfrage, ob ein Konzept für eine so rasche Ausbreitung vorhanden sei, schreibt das BAG: «Wir sind daran, das Winterszenario zu konsolidieren, und werden in den nächsten Wochen darüber informieren.»
Was aber heisst das für die Menschen, um deren Schutz es bei all den Massnahmen vor allem geht: Risiko- und Hochrisikopersonen? Noch ist kein markanter Anstieg der Einweisungen in Intensivstationen und der Covid-19-bedingten Todesfälle zu verzeichnen. Doch seit einigen Tagen steigen die Hospitalisationszahlen, im Spital Schwyz schlagen die ÄrztInnen schon Alarm. Zudem müssen, nachdem bis vor kurzem vor allem Zwanzig- bis Vierzigjährige hospitalisiert wurden, zunehmend auch wieder über Sechzigjährige medizinisch behandelt werden. Die Gefahr, dass das Virus bald wieder vermehrt über Angehörige oder Pflegende auf Risikopersonen überspringt, wird jeden Tag grösser.
Die Lage in den Altersheimen
Das stellt die Alters- und Pflegeheime erneut vor grosse Herausforderungen. Sind sie gerüstet für die steigenden Zahlen und die kalte Jahreszeit? «Die erste Welle kam schockartig – wir waren nicht darauf vorbereitet», räumt Markus Leser, Geschäftsleitungsmitglied des Branchenverbands Curaviva Schweiz, ein. «Doch seit dem Lockdown haben wir viel gelernt.» Inzwischen stehe genug Schutzmaterial zur Verfügung, und es seien Schutzkonzepte ausgearbeitet worden. Hilfreich sei auch, dass Testresultate heute schneller vorlägen. «Stand jetzt weiss man spätestens innert 48 Stunden das Resultat.» Schnelltests würden zurzeit noch evaluiert, doch Leser hofft auf einen baldigen Einsatz.
Generelle Besuchsverbote, wie sie im Lockdown über weite Strecken verfügt wurden, wolle man auf keinen Fall nochmals erleben, sagt er: «Hoher Schutz vor Corona, ja – aber nicht auf Kosten der Psyche.» Im Angesicht der zweiten Welle stellt sich erneut die ethische Grundfrage: Wie schützen wir die Rechte derer, die am stärksten gefährdet sind?
Bereits häufen sich die Meldungen von Altersheimen, in denen wieder zunehmend Covid-19-Infektionen festgestellt werden. Einzelne Heime mit mehreren Infektionen haben wieder vorübergehende Besuchsverbote verfügt; andere betroffene Heime haben sich so einrichten können, dass Besuche auch unter diesen Umständen möglich sind – im Rahmen erhöhter Schutzmassnahmen. Hier immerhin scheinen die Verantwortlichen Lehren aus der ersten Welle gezogen zu haben – als Tausende von Menschen bis zu zwei Monate in Heimen eingesperrt waren und keine Angehörigen mehr treffen konnten.