Kulturgeschichte: Heisse Sommernächte mit Schnegeln
Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte der Bekämpfung tierischer Schädlinge. Ob diese echt sind oder eingebildet: eine kleine Rückschau – und eine Hommage an zwei angebliche Nützlinge, die grossen Egelschnecken.
Der Tiger ist verschwunden. Nachdem ich ihn einfing, eine Nacht lang einsperrte und er am andern Tag fotografiert werden konnte, haben wir ihn noch ein einziges Mal gesehen. Er kroch ein Mäuerchen hoch zum Kräuterbeet und verschwand. Das ist jetzt ein paar Wochen her. Der Tiger ist nachtaktiv, angeblich hat er einen Radius von zehn Metern.
Der Schwarze ist wieder da. Er hat sogar Gesellschaft bekommen, einen zweiten Schwarzen. Doch als der Fotograf aus Zürich anreiste, wollte der Schwarze sich partout nicht zeigen. Wahrscheinlich war das Wetter zu trocken. Häufiger als der Tiger kriecht der Schwarze auch in der Dämmerung oder am hellen Tag durch den Garten, aber nur, wenn es feucht ist oder regnet. Wir müssen dann aufpassen, dass wir vor der Haustür nicht auf ihn treten.
Der Tigerschnegel heisst Limax maximus. Der Schwarze Schnegel heisst Limax cinereoniger. Sie gehören zu den grossen Egelschnecken. Einmal berührte ich im Dunkeln mit dem blossen Fuss einen Tiger, ich schreckte zurück und zerstampfte darauf mit dem anderen Fuss einen Schwarzen. Tigerschnegel und Schwarzer Schnegel galten früher als verschieden gezeichnete Exemplare derselben Art. Ein deutscher Forscher versuchte vor hundert Jahren, sie miteinander zu kreuzen, indem er immer wieder ein Paar zusammen über Nacht in eine Kiste setzte. Doch am nächsten Morgen hatte der Tiger den Schwarzen regelmässig aufgefressen. Oder zumindest angebissen. Das war, noch bevor man DNA-Tests kannte.
In älteren zoologischen Werken werden Tigerschnegel und Schwarze Schnegel zu den Schadschnecken gezählt. Als schädlich gelten Schnecken, wenn sie in Feld und Garten jene Pflanzen fressen, die der Mensch für eigene Zwecke anbaut. Als unsere Vorfahren anfingen, sich von der Landwirtschaft zu ernähren, wurden die Schnecken zu ihren ärgsten Feinden. Heutige Bäuerinnen und Gärtner haben diese Feindschaft geerbt, und die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte der Schädlingsbekämpfung. Ein Grossteil unserer pflanzlichen Nahrung käme ohne den ständigen Vernichtungskrieg gegen Schnecken und viele andere Lebewesen gar nie auf den Tisch.
Aus dem Werk «Vollständige Naturgeschichte der Ackerschnecke» von Johann Carl Leuchs, Nürnberg 1820:
«Dieses Buch beschäftigt sich mit Mord und Vertilgung. So wie es im Kriege erlaubt ist, selbst höhere Wesen zu tödten, wenn sie sich dem Wohl von Millionen feindlich gegenüberstellen, so wird es dem Bebauer der Erde oft zur Nothwendigkeit und zur Pflicht, Tausende von Geschöpfen der immer schaffenden Natur zu vertilgen, die mehr von dieser Erde haben wollen, als er ihnen einräumen kann.»
Neuere Texte bezeichnen den Tigerschnegel und den Schwarzen Schnegel als nützliche Tiere. Die ungebrochene Verwendung der Begriffe «Nützling» und «Schädling» bleibt trotz ökologischer Bedenken geläufig. Der Schwarze Schnegel fresse die Gelege von anderen Schnecken, heisst es, und verhindere damit ihre Ausbreitung. Der Tiger fresse nicht allein die Gelege, sondern jage sogar erwachsene Schnecken. Gleichzeitig wird den beiden nachgesagt, dass sie Pflanzen erst dann verzehren, wenn diese ohnehin welk oder faulig sind.
1820 schrieb Johann Carl Leuchs:
«Der Mensch hat das Gleichgewicht in der Schöpfung aufgehoben, das mitten im Wogen aller Kräfte sich erhielt; er hat ein Gebäude aufgeführt, so wie es ihm nützlich war, und nur durch Mord aller der Geschöpfe, die nicht zum Zweck desselben gehören, kann er es vom Untergange retten. (…) Er musste Thiere tödten, die ihm Schaden bringen konnten, um für sich, und für die ihm Nutzen gewährenden Unterhalt zu haben. Bären, Wölfe, Füchse, Marder, Igel, Dachse, Vögel jeder Art sind selten geworden, und lautlos stehen ganze Fluren in Gegenden, wo die Cultur hoch gestiegen ist.»
Unser Tiger verschwand Ende Mai. Nachdem der Fotograf mit ihm fertig war, stellte ich den Behälter, in dem ich ihn aufbewahrt hatte, geöffnet vor die Tür. Damit er sich davonmachen konnte.
Der systematische Kampf gegen tierisches Ungeziefer ist in Europa seit der Aufklärung dokumentiert. Es brauchte dazu die Wissenschaft; der Feind musste identifiziert, seine Lebensweise einigermassen verstanden werden, damit man ihn vernichten konnte. 1752 veröffentlicht der sächsische Naturforscher Jacob Christian Schäffer die «Nachricht von einer schädlichen Baumraupe» und weist darauf hin, dass es nicht einfach eine Strafe Gottes sei, wenn ganze Landstriche von Schmetterlingslarven kahl gefressen würden. 1771 gibt die Naturforschende Gesellschaft Zürich ein Traktat heraus mit dem Titel «Erinnerung an den L. Landmann, wie er die anscheinende Hoffnung eines gesegneten Obst-Wachses vor der drohenden Verheerung der Laub- oder Meyen-Käfer einiger Massen sichern und das besorgende Uebel vermindern könne».
Darin wird der «liebe Landmann» aufgefordert, endlich etwas gegen die Maikäfer zu unternehmen, denn das Unglück sei abwendbar: «Lege die Hände nicht in den Schoss, und sage: Ich will Gott walten lassen.» Die Maikäfer seien wie Räuberbanden, deren Überfälle niemand für Gottes Wille halte, und wenn ein Haus brenne, dann versuche man doch, dieses schnellstmöglich zu löschen. Bei den Maikäfern bleibe der Bauer jedoch untätig, heisst es in dem Traktat, und nehme damit auch das Treiben der Maikäferlarven – der Engerlinge – in den Folgejahren in Kauf:
«Erinnere dich des Schadens, den diese Würmer an allen Arten von Gewächsen verursachen können: Denke sonderheitlich an das 1769ste Jahr zurük – und erzittere dann über den Schaden, der dir auch in könftigen Jahren daher entstehen muss.»
Fünf von insgesamt sieben Seiten braucht die Zürcher Naturforschende Gesellschaft 1771, um die Bauern mit eindringlichen Worten zu motivieren, die Maikäfer überhaupt zu bekämpfen. Zwei Seiten sind der Praxis gewidmet, die zwar recht hilflos wirkt, aber noch bis weit ins 20. Jahrhundert genau dieselbe bleiben wird: Wenn die Maikäfer ausfliegen und die Bäume leerfressen, dann lege man Tücher unter die Bäume und schüttle die Tiere frühmorgens herunter, um sie danach in Säcke abzufüllen, zu verbrennen oder mit kochendem Wasser zu übergiessen. Jede Familie müsse – nach Grösse des Haushalts, nach Land- und Viehbesitz – eine bestimmte Menge von Maikäfern bei der Gemeinde abliefern, und zwar frühzeitig, noch bevor die Käferweibchen ihre Eier legten. Denn die Engerlinge im Boden könne man später fast nicht mehr bekämpfen, «die Käfer hingegen kann man ohne Schaden ab allen Bäumen schütteln».
1787 erscheint in Leipzig eine «Geschichte einiger, den Menschen, Thieren, Oekonomie und Gärtnerey schädlichen Insekten nebst den besten Mitteln gegen dieselben». Es ist die bearbeitete und mit zahlreichen Kommentaren versehene Übersetzung des Buchs «Histoire des insectes nuisibles à l’homme», das der Franzose Pierre-Joseph Buc’hoz sechs Jahre zuvor in Paris herausgegeben hat. Interessanterweise handelt Buc’hoz unter den «schädlichen Insekten» auch die Schnecken ab, jene mit Gehäuse (französisch limaçons) genauso wie jene ohne (limaces), während der deutsche Übersetzer diese Tiere in einer Fussnote zu den «eigentlichen Würmern» zählt.
In alten Zeiten, so schreibt Buc’hoz, habe man geglaubt, die Schnecken «erzeugten sich aus der Erde, aus stehenden Wassern oder aus dem Thau». Dieser Irrtum sei allerdings längst widerlegt und auf den Umstand zurückzuführen, dass man die «Liebesgeschäffte» der Schnecken früher nicht verstand: Landschnecken sind meistens Zwitter. Jedes Tier kann sich mit jedem anderen Exemplar seiner Gattung vermehren. Über viele Abschnitte und Fussnoten hinweg erörtern Buc’hoz und sein deutscher Übersetzer, der Naturforscher Johann August Ephraim Goeze, ferner die Frage, ob die Fühler der Schnecken zugleich ihre Augen seien oder vielleicht sogar Fernrohre (sie sind hier unterschiedlicher Meinung), bevor sie zum Thema der Bekämpfung übergehen: Gegen Schnecken helfen laut diesem Buch aus dem späten 18. Jahrhundert zunächst die natürlichen Fressfeinde: Vögel, Eidechsen, Schildkröten und Frösche. Schnecken werden getötet, indem man sie mit Öl beträufelt oder sie im Wasser ersäuft. Auch Salz, Salpeter und Zucker sind tödlich. Gegen Schneckenplagen auf den Feldern soll der Boden mit ungelöschtem Kalk und Kaminruss bestreut oder mit einer Lauge aus Talg und Seife geflutet werden. Eine Mischung stark riechender Substanzen wird empfohlen: Mistjauche mit Stinkasant oder Teufelsdreck (ein Doldenblütler), Knoblauch und zerstossenen Lorbeerblättern: Die vermischte Brühe lasse man drei Tage stehen und spritze sie dann mit einem Strohwisch auf die Tiere: «Sie sterben augenblicklich oder verlassen wenigstens die Pflanzen.» Durch solche Methoden, schreiben Pierre-Joseph Buc’hoz und sein Kommentator J. A. E. Goeze, könnten die Schnecken zwar nicht ganz ausgerottet werden:
«Da die kleinsten Insekten ein Werk des Schöpfers sind: so werden alle menschlichen Kräfte nicht im Stande seyn, sie zu vernichten.»
Beherrschen könne man sie jedoch. Der Mensch sei berechtigt, «ihre Zahl zu vermindern».
Den ersten Schnegel wollte ich sofort töten. Es war in der Anfangszeit unseres ländlichen Gartens, wir säten Pflanzen, steckten Setzlinge in die Erde, und wenn wir das nächste Mal aus der Stadt zurückkamen, war von der Arbeit gar nichts mehr zu sehen – alles gefressen. Bald fingen wir an, die Schnecken einzusammeln. Wir zerschnitten sie mit der Gartenschere, bis wir merkten, dass Schnecken fürs Leben gern tote Schnecken fressen, und dass das Zerschneiden nur weitere Artgenossen anlockte. Jetzt froren wir sie ein. Bewaffnet mit einer Taschenlampe und einer Plastiktüte lasen wir die Tiere nachts aus den Gartenbeeten oder pflückten sie von den Blättern jener Kräuter, Stauden und Büsche, die sie am stärksten befielen. Den verschlossenen Sack legten wir ins Gefrierfach, und die steif gefrorenen Tiere warfen wir später in den Müll. Der Erfrierungstod, so sagten wir uns selber, ist weniger brutal als das Zerschneiden. Dieser Tod kann die Tiere auch im kalten Winter auf natürliche Weise ereilen; dabei schlafen sie einfach ein. Ob das nun wahr ist oder nicht, uns dünkte es die angenehmste Art, viele Dutzend Tiere umzubringen.
Als ich den ersten Schnegel einfrieren wollte, fiel mir plötzlich ein, dass ich ihn ja gar nicht kannte. Zwar hatte ich als Kind einmal einen Tigerschnegel gesehen: Auf der Kellertreppe des Elternhauses klebte er in einer dunklen Ecke – graue Farbe mit schwarzem Leopardenmuster. Vielleicht sah ich ihn später noch ein paarmal, aber danach vierzig Jahre lang nicht mehr. Bevor ich den Tiger aus dem eigenen Garten tötete, musste ich ihn doch zumindest einmal googeln.
Auf Englisch heissen die Tigerschnegel Leopard Slugs, auf Französisch Limaces léopard. Was die Grundfarbe betrifft, gibt es den Leopard in verschiedenen Variationen von Grau bis Braun, und in der Zeichnung sieht womöglich jedes Tier etwas anders aus. Getigert ist der Tigerschnegel, Limax maximus, aber nicht; der Schwarze Schnegel hingegen, Limax cinereoniger, trägt auf dem Rücken manchmal graue Streifen. Mit Längen zwischen dreizehn und zwanzig Zentimetern – beim Schwarzen Schnegel ist sogar von dreissig Zentimetern die Rede – gehören die beiden zu den grössten Nacktschnecken Europas. Auf dem vorderen Teil des Rückens, dem sogenannten Mantel, tragen sie eine kleine Platte unter der Haut, das ist der evolutionäre Rest ihres Gehäuses – und auf dem hinteren Teil einen sogenannten Kiel, einen kleinen Kamm, der beim Schwarzen besser zu erkennen ist als beim Tiger. Limax cinereoniger, wenn er einfarbig schwarz bleibt, wird häufig mit der Schwarzen Wegschnecke verwechselt, Arion ater. Ausser am Kiel und an der für Schnegel typischen, etwas nach hinten versetzten Lage des Atemlochs kann man den Schwarzen Schnegel aber auch an der Unterseite identifizieren, die farblich in drei Längsstreifen aufgeteilt ist.
1803 erscheint in Wien ein Buch mit dem Titel «Art und Weise alles Ungeziefer ohne Gift zu vertilgen», das Anleitungen zur Vernichtung oder Vertreibung einer grossen Zahl von Säugetieren, Insekten und Weichtieren enthält: «Mäuse, Ratzen, Wanzen, Flöhe, Fliegen, Läuse, Erdflöhe, Ameisen, Füchse, Hamster, Maulwürfe, Schnecken ohne Häuser, Kornwürmer, Raupen, Maulwurfsgrillen oder Ackerwerren und Motten» sollen vernichtet werden, ohne dass der Mensch sich selbst gefährdet, denn, so heisst es im Vorwort:
«Fast in einem jeden oft noch so kleinen Bezirke sind traurige Beyspiele vorhanden, wie oft durch das Aufstellen verschiedener Gift-Mittel Menschen und sonst andere nützliche Hausthiere um Leben und Gesundheit gekommen sind.»
Bei den Schnecken empfiehlt das Buch, sie mit zerstossenem Gips zu bestreuen, ausserdem zeitig anzusäen und den Boden gut zu bearbeiten, damit die Tiere keinen Unterschlupf finden. Zur Vertreibung zahlreicher Schädlinge wird erneut Gestank angeraten, Mistjauche vermischt mit Lorbeer, Knoblauch, Holunderblättern, Eberwurz: Auf den Kohl gespritzt, hält das die Schnecken fern. Für die Vertreibung und Vernichtung anderer Tiere sind stark riechende Pflanzenöle wie Terpentin oder Kampfer, auch Schwefel, Fischtran, Wagenschmiere und verrottende Heringe angezeigt.
Ähnliche Bücher und Ratgeber erscheinen ab dem frühen 19. Jahrhundert häufig, es gibt noch keine chemische Industrie, die sich auf Pestizide spezialisiert. In dieser Zeit werden auch die Vögel als anerkannte Feinde des Ungeziefers merklich seltener, immer wieder beklagen landwirtschaftliche Publikationen ein Vogelsterben; Nistkästen werden empfohlen, etwa für die schneckenvertilgenden Stare, und die Meisen soll man auch nicht mehr töten, sondern mithilfe von gefangenen Artgenossen in die Obstgärten locken, damit sie Insekten fressen.
Ebenfalls von Vögeln, aber aus Südamerika, kommen neuerdings abgebaute Exkremente übers Meer: der Guano, der die Schädlinge am Boden verätzt und die Felder zugleich düngt. In den «Bernischen Blättern für Landwirtschaft» wird im Mai 1856 den Bauern ein Rezept verraten, wie sie «auf einem Terrain sowohl die Regenwürmer als auch die Erdschnecken mit einem Schlag vernichten» können: Man locke die Schnecken mit einer Schicht Streue an, unter die sie sich verkriechen, breite dann schnell den Guano über sie aus, der sie verbrennt. Die Regenwürmer werden mit einem Trick aus dem Boden gejagt – ein Geräusch lässt sie glauben, dass sich ein Maulwurf nähert, worauf sie an der Oberfläche sofort verenden.
Dass Regenwürmer für den Pflanzenbau sehr hilfreich sind und der Boden ohne sie weniger fruchtbar wäre, soll in der Antike bereits bekannt gewesen sein. Im 19. Jahrhundert gelten sie jedoch als Wurzelfresser, und erst nachdem in den achtziger Jahren ein Bestseller von Charles Darwin, «Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer», auch auf Deutsch erscheint, kehrt diese Erkenntnis langsam, sehr langsam zurück.
Es ist nicht so, dass wir in unserem Garten besonders viel ernten würden. Das liegt aber auch daran, dass wir in der Stadt wohnen und der Garten zwei Stunden entfernt auf dem Land liegt. Meine Mutter, die gelernte Gärtnerin war, arbeitete während der Vegetationszeit jeden Tag mehrere Stunden in ihren Gemüsebeeten, mit deren Ernte sie zwei Kühltruhen füllte und die Familie wesentlich ernährte. Vor Jahren besassen wir einen Schrebergarten in der Stadt, auch dort gab es Schnecken, aber keine Schnegel, und als auf dem Gelände ein Gebäude errichtet wurde, musste die Verwaltung das Aushubmaterial als Sondermüll fortbringen lassen. Generationen von Kleingärtnern und Kleingärtnerinnen hatten den Boden komplett vergiftet.
Wir betreiben einen sehr nachlässigen Gartenbau, wir müssen nicht davon leben: Zwiebeln und Bohnen, meist auch Kartoffeln brauchen keine tägliche Pflege. Beeren, Kirschen und Nüsse ernten wir, falls uns die Vögel, die Marder oder Eichhörnchen etwas übrig lassen. Einmal waren wir so lange abwesend, dass die Kartoffeln verdorrten und schon Anfang Juli kein Kraut mehr trugen. Einmal war es so nass, dass die Schnecken sich unglaublich vermehrten und alles abfrassen, selbst den schärfsten Rucola und die Kapuzinerkresse, die man angeblich zur Schneckenabwehr pflanzt. Jede Nacht versuchten sie zudem, unseren jungen Maulbeerbaum zu entlauben.
Im Garten meiner Mutter gab es kaum gesunde Schnecken. Energisch wurden sie verfolgt. Und energisch wurde gejätet. Selbst als die Mutter gegen Ende schon sehr vergesslich war, stand sie noch zwischen ihren Beeten, und sobald irgendwo ein Unkraut hervorsah, hackte sie es mit einem langstieligen Kratzer weg. Nachdem meine Frau schon einige Jahre mit mir zusammenlebte, erfuhr sie eine merkwürdige Initiation: Mutter führte sie in den Garagenraum, in dem sie Chemikalien für den Garten aufbewahrte, und zeigte ihr dort ihre Gifte. Hier die Schneckenkörner, an denen es nie mangeln darf. Dort das Herbizid, von dem ein Körnchen auf das Blatt ausreicht, um die ganze Pflanze zu töten; aus Versehen hatte der verstorbene Vater damit einmal eine Ernte zerstört. Oder das Pirox, mit dem die Mutter ein Leben lang Blattläuse zu Tode stäubte.
Die ausschleimenden, beim Davonkriechen am Gift verreckenden und schliesslich verdorrten Schnecken waren im Garten meiner Kindheit alltäglich. Die Rezeptur für die Schneckenkörner hatte man einige Jahrzehnte früher durch einen Zufall entdeckt. 1920 entwickelte die Chemiefirma Lonza einen Trockenbrennstoff aus Metaldehyd, die handliche Meta-Tablette, die beim Kochen im Freien, im Militär oder beim Camping, sehr populär werden sollte. 1934 beobachtete jemand auf einem Campingplatz, dass Schnecken nach dem Kontakt mit einer zurückgelassenen Meta-Tablette starben. Schnell wurde ein Gemisch von Metaldehyd und Kleie zu den ersten Schneckenkörnern gepresst und patentiert. Aus Metaldehyd und verschiedenen Lockstoffen besteht bis heute ein grosser Teil der Schneckenkörner (ein neueres Präparat enthält Eisenphosphat, das weniger giftig sein soll), doch ist die Chemikalie inzwischen so dosiert, dass sie Nützlinge wie zum Beispiel Igel nicht mehr gefährdet, das steht zumindest auf der Verpackung. Man wirft die Körner ins Gemüse, die Bauern verteilen sie massenhaft auf den Feldern, doch vor Kindern und Haustieren sind sie gemäss Aufschrift strikt fernzuhalten.
Wenn wir Mitte Juli in unseren Garten auf dem Land zurückkehren, wird auch der alte Tiger wieder da sein. Oder vielleicht ein neuer. Wir werden Wasserschalen aufstellen, Topfuntersätze, damit die Schnegel in heissen Nächten die Möglichkeit haben, sich zu befeuchten. Schnecken sind stets auf Wasser angewiesen, sonst können sie den Schleimteppich nicht produzieren, auf dem sie sich fortbewegen. Manchmal taucht bei uns sogar ein weisser Schnegel auf, eine Variation des Tigerschnegels, der sich ins seichte Wasser legt und im Mondlicht zu phosphoreszieren scheint.
Vielleicht werden wir im Sommer Zeit haben, auch einmal anderen Nacktschnecken nachzusinnen. Der Spanischen Wegschnecke beispielsweise, Arion vulgaris, früher Arion lusitanicus, von der jahrzehntelang behauptet wurde, sie sei als invasive Art aus Spanien eingeschleppt worden, bis man mittels Gentests herausfand, dass sie in Spanien gar nicht vorkommt und bei uns wohl einheimisch ist. Die Spanische Wegschnecke hat sich sehr stark vermehrt, sie ist resistenter gegen Trockenheit und überhaupt zäher als andere Schnecken. In der Intensivlandwirtschaft richtet sie ungeheure Schäden an, selbst das EU-Parlament musste sich damit befassen. Auf ihrem Vormarsch verdrängt Arion vulgaris zudem eine andere Wegschnecke, Arion rufus, die einst häufig war. Zumindest im erwachsenen Zustand sind die beiden kaum voneinander zu unterscheiden: Um eine Spanische Wegschnecke einwandfrei zu identifizieren, muss man sie sezieren. Oder man beisst vielleicht hinein, denn angeblich schmeckt sie so bitter, dass die meisten Fressfeinde sie verschmähen.
Womöglich sehen wir in diesem Sommer aber endlich einem Schnegelpärchen bei der Fortpflanzung zu. Leute in unserem Bekanntenkreis waren Zeuginnen dieses Vorgangs, der in der Fachliteratur stets mit Begeisterung geschildert wird. Zwei Tiger verfolgen einander stundenlang, sie belecken sich gegenseitig die Schwanzspitzen bis zur höchsten Erregung, sie klettern gemeinsam eine Mauer oder Felswand hoch und seilen sich eng umschlungen an einem dicken Schleimfaden von einem Vorsprung ab, um in der Luft über unseren Köpfen gewaltige Genitalapparate – Penisse bis zu vier Zentimeter lang! – auszufahren und sich damit unterhalb ihrer verschlungenen Körper eine unglaubliche Viertelstunde lang zu paaren.
Übrigens muss auch der Tigerschnegel als Einwanderer gelten. Er stammt aus dem Mittelmeerraum und ist heute in gemässigten Zonen weltweit verbreitet. Nicht alle Forscherinnen und Forscher sind überzeugt, dass er im Garten wirklich nützlich ist.