250 Jahre Hegel: «Hegel liefert gewiss keine Anleitung zum seligen Leben»

Nr. 32 –

Ende August jährt sich der Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Mal. Der Stuttgarter Philosoph Sebastian Ostritsch hat zum Jubiläum eine Jubelschrift über den dunklen deutschen Meisterdenker veröffentlicht. Im Gespräch erklärt er, warum man vor Dialektik keine Angst haben muss, was Hegel von der Französischen Revolution hielt – und warum die Wahrheit immer konkret ist.

WOZ: Sebastian Ostritsch, Arthur Schopenhauer hat Hegel einmal als «platten, geistlosen, ekelhaft-widerlichen, unwissenden Scharlatan» bezeichnet. Und Schopenhauer ist mit seiner Verachtung nicht alleine …
Sebastian Ostritsch: Hegel wurde tatsächlich von vielen gehasst – exemplarisch dafür steht Schopenhauer. Auch bei Karl Popper, einem anderen bekannten Hegelkritiker, schwingt diese Auffassung Schopenhauers mit. Es gab bei vielen Kritikern von vornherein eine ablehnende Haltung, und Hegel wurde mit einer negativen Brille gelesen – und eben nicht maximal wohlwollend, wie man das sonst mit jedem anderen Text machen würde. Dementsprechend resultierte aus der Lektüre auch nichts Brauchbares.

Wie sieht es im akademischen Betrieb heute aus?
Heute wird Hegel zunehmend hoffähiger – auch in Schulen, die noch vor zehn oder zwanzig Jahren nichts mit ihm zu tun haben wollten, was vor allem für die angelsächsische Philosophie gilt. Diese ist wesentlich durch die analytische Sprachphilosophie geprägt, wo lange klar zu sein schien, dass Hegels Denken gegen die Grundgesetze der Logik verstösst und dass er deswegen ein Scharlatan im Sinne Schopenhauers ist. Jetzt aber gibt es auch von dieser Seite ein wachsendes Interesse an Hegel und Versuche, auf analytische Art und Weise einen Zugang zu ihm zu finden.

Sie haben Ihr Buch «Hegel. Der Weltphilosoph» betitelt. Was ist denn ein «Weltphilosoph»?
«Weltphilosoph» ist im doppelten Sinne zu verstehen: Einerseits steht «Welt» für das Ganze, was auf Hegel als einen Philosophen hinweist, der das Ganze dachte – gemäss dem Diktum «Das Wahre ist das Ganze». Tatsächlich ist Hegel ein Denker, der keinen Aspekt der Wirklichkeit ausser Acht lässt und alles in systematischer Verbindung zueinander zu denken versucht.

Und die andere Bedeutung?
Die spielt darauf an, dass Hegel ein Philosoph von Weltrang ist: Wenn man eine Top Five der Philosophie benennen müsste, dann wären das wohl Platon, Aristoteles, der heilige Thomas von Aquin, Kant und Hegel. Andere würden möglicherweise eine leicht abweichende Liste aufstellen, aber es ist sicher nicht falsch, Hegel mit diesen Denkern auf eine Stufe zu stellen. Zudem ist Hegel auch in Südamerika ungemein populär oder in China: Es gibt kaum einen Ort auf der Welt, wo Philosophie betrieben wird und Hegel nicht vorkommt. Und schliesslich spielt der Titel auf ein Werk von Karl Ludwig Michelet an, der zum 100. Geburtstag Hegels ein Buch geschrieben hat: «Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph. Eine Jubelschrift». Auch mein Buch ist eine Jubelschrift, vielleicht etwas ironisch gebrochen, aber es sollte ganz bewusst eine Feierschrift sein. Nur das mit dem «unwiderlegt» habe ich mich nicht mehr getraut.

Hegel ist in Stuttgart geboren, dann aber in Berlin als Professor zu Ruhm gekommen. Es gibt eine Anekdote, dass Hegels Berliner Studenten irritiert waren, weil er sehr geschwäbelt haben soll – und beispielsweise statt von «etwas» von «ebbes» gesprochen habe. Ist diese Geschichte verbrieft?
Dass Hegel schwäbelte, ist verbrieft: Es gibt viele Zeugnisse von Studenten aus dieser Zeit, dass Hegel schwer verständlich sprach und dass das auch mit seinem Dialekt zu tun hatte. Für die «Ebbes»-Anekdote habe ich keinen Originalbeleg gefunden und das dementsprechend auch im Buch vorsichtig formuliert.

Sie streichen das Schwäbischsprechen Hegels ausdrücklich hervor, weil das Schwäbische Wendungen aufweist, die dialektisch anmuten. Ihr Beispiel ist der Ausdruck «So isch no au wieder».
Zunächst habe ich das vor allem als populären Zugang betrachtet, dann aber gemerkt, dass da etwas dran ist, das über das Anekdotische hinausgeht. Der Germanist Heinz-Otto Burger hat in den dreissiger Jahren sogar ein Buch über den «schwäbischen Geist» geschrieben, in dem er die Verwandtschaft zwischen dem Schwäbischen und der dialektischen Denkweise herausarbeitet. Das «So isch no au wieder» sagt der Schwabe, um anzudeuten, dass eine Sache noch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden kann als aus der, aus der man sie bisher betrachtet hat. Ein Beispiel aus dem Fussball: Dort schimpft man ja gerne auf den FC Bayern, weil der Verein ja nur deswegen so erfolgreich sein soll, weil er so viel Geld hat. Dagegen könnte jemand einwenden, dass die Bayern nur deswegen so reich sind, weil sie so erfolgreich sind. Dann könnte der Schwabe das kommentieren mit: «So isch no au wieder!», also: «Diese Perspektive auf die Sache gibt es ja auch noch», was ausdrückt, dass die erste Betrachtungsweise einseitig war. Der Dialekt ist hier dialektisch, weil zugleich ein Sowohl-als-auch zum Ausdruck gebracht wird und ein Weder-noch. Weder bloss die eine noch bloss die andere Perspektive ist zu verabsolutieren, sondern beide sind als Perspektiven auf ein komplexes Ganzes zu verstehen.

Das verweist auch auf Hegels eigenwillige Verwendung der Begriffe «abstrakt» und «konkret».
Bei Hegel ist gerade die Betrachtungsweise abstrakt, die eine Perspektive einnimmt und diese für die einzige hält, also nicht reflektiert, dass es noch andere Perspektiven gibt. Ein Aspekt einer Sache wird also hervorgehoben und für das Ganze genommen. Das ist dann schlecht abstrakt gedacht, weil von der Reichhaltigkeit anderer Bestimmungen, die die Sache noch hat, abgesehen wird. Das Konkrete dagegen wäre eben das, was die verschiedenen Aspekte oder «Momente» zusammenschaut. Der echte Philosoph im Sinne Hegels denkt also deswegen konkret, weil er die Vielzahl der Aspekte zusammenschaut. Das ist eben das konkrete Ganze.

Schlecht abstrakt ist also ein Gedanke, der seine Abstraktheit nicht reflektiert?
Genau. Hegel hat nichts gegen Abstraktionen per se einzuwenden, solange klar ist, dass es sich um Abstraktionen handelt. Abstraktionen sind auch notwendig: Die Fähigkeit des abstrakten Denkens, also Dinge gewissermassen in Schubladen zu stecken, rechnet Hegel dem Verstand zu – und der Verstand ist notwendig für die Erkenntnis. Nur ist er eben nicht alles: Es ist gerade die Leistung der Vernunft, die Schubladen sozusagen wieder zu öffnen, um nachzusehen, wie sie zusammenhängen mit dem Ganzen des Möbelstücks. Wichtig dabei ist aber, dass es sich um Aspekte des Ganzen handelt und eben keine selbstständigen Teile, als die sie nur dann erscheinen, wenn man sie aus dem Gesamtzusammenhang herauslöst.

Gibt es ein Beispiel dafür, wie die Aspekte eines Ganzen zu denken wären?
Ein Beispiel wäre Hegels Kategorie des Werdens. Man kann sich klar machen, was «Werden» ist – oder auch konkreter: raumzeitliche Bewegung, eine besondere Art des Werdens –, wenn man analysiert, welche Aspekte im Werden enthalten sind, nämlich etwas zu sein und gleichzeitig noch nicht zu sein. Der Pfeil, der sich von A nach B bewegt, ist als sich Bewegender an einem bestimmten Punkt und ist zugleich nicht an einem bestimmten Punkt. Das sind Paradoxien, die schon in der Antike bekannt waren. Hegel zufolge müssen wir sehen, dass das Ursprüngliche eigentlich die Bewegung ist und erst wenn deren Aspekte herausgelöst und als feste Kategorien gegeneinandergestellt werden, sich die Widersprüche ergeben.

Was ist mit dem oft zitierten dialektischen Dreischritt von These–Antithese–Synthese – taugt der etwas?
In oberflächlichen Darstellungen findet man oft dieses Schema von These–Antithese–Synthese. Meist läuft das dann aber auf eine blosse Akzeptanz von Widersprüchen hinaus oder auf so etwas wie einen falschen Kompromiss. Das meint Hegel allerdings nicht. Er wendete sich immer wieder gegen die Vorstellung, dass Dialektik etwas Schablonenhaftes sein soll. Insofern ist der Dreischritt erst einmal irreführend. Dialektik besteht gerade darin, sich auf einen Begriff oder Gedanken einzulassen und ohne Vorannahmen konsequent zu Ende zu denken. Dann merkt man, dass der Begriff über sich selber hinausweist, und zwar insofern, als sich dieser Begriff gar nicht zu Ende denken lässt, ohne einen anderen, weiteren Begriff hinzuzunehmen, der zunächst als das Gegenteil des ersten Begriffs erscheint. So ist man plötzlich angehalten, beide Begriffe im Verhältnis zu denken, woraus sich dann ein weiterer Begriff ergibt. Das ist Dialektik: eine Selbstaufklärung des Denkens, bei der sich ein begriffliches Netzwerk entfaltet, das man aber implizit immer schon in Anspruch genommen hat.

Und eine solche Selbstaufklärung des Denkens darf nicht einfach Schablonen voraussetzen?
Genau. Wenn man aber erst einmal akzeptiert hat, dass es darum geht, sich auf die Eigenlogik eines Gedankens einzulassen, dann merkt man, dass sich tatsächlich eine Art Dreifaltigkeit des Denkens zeigt. So findet sich auch, wenn man Hegels Werke aufschlägt, immer wieder eine Dreiereinteilung. Die Selbstnegation eines Gedankens führt zu einem höheren Gedanken, in dem die gegensätzlichen Aspekte enthalten, also aufgehoben, sind, sodass man sagen könnte, das folgt dem Schema These–Antithese–Synthese. Insofern hat dieses Schema auch seine Berechtigung. Nur wenn man gleich damit anfängt, kommt man auf die falsche Spur: Man sollte sich erst auf den Gedanken selbst einlassen – und ob dieser sich dann über drei oder vier Schritte entfaltet, lässt sich gar nicht von vornherein sagen. Wenn sich am Ende eine bestimmte Struktur des Denkens zeigt, so ist das ein Ergebnis des Denkens und nicht etwas, das man von Anfang an unterstellen sollte.

Wenn man nun Hegel mit Immanuel Kant oder mit Friedrich Nietzsche oder auch Jean-Paul Sartre vergleicht, so ist es doch bei ihm viel schwieriger zu sagen, was aus der Lektüre seiner Texte für die Praxis folgen soll. Wenn ich Kant gelesen habe, dann kenne ich den Kategorischen Imperativ und habe damit eine Richtschnur für mein alltägliches Handeln. Die Lektüre Hegels aber hilft lebenspraktisch nicht weiter, oder?
Man sollte Hegel gar nicht so weit weg von Kant rücken. Trotzdem ist da etwas dran, was am konservativen Zug dieser Philosophie liegt – konservativ in dem Sinne, dass es Hegel nicht ums Verändern der Welt geht. Die hegelsche Philosophie ist, wenn man so will, die Antithese zu Marx’ berühmtem Ausspruch: «Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.» Hegel würde genau das Gegenteil sagen: Es kommt darauf an, als Philosoph die Welt zu begreifen. Zugleich meinte Hegel, dass es nicht die Aufgabe von Philosophen ist, irgendetwas zu verändern. Zudem glaubte er, dass das Vernünftige nicht etwas ist, auf das wir erst noch warten müssten, sondern dass auf ihre eigene Weise die Vernunft immer schon in jeder historischen Situation in irgendeinem Sinne wirkte.

Und wie ist hier der Philosoph gefragt?
Nach Hegel sollte der Philosoph in Bezug auf die Praxis aufdecken, wo dieses Vernünftige zu finden ist. Wo es noch nicht zu finden ist und wo es sich noch zeigen könnte, darüber kann der Philosoph nicht mehr sagen als jeder andere auch. Das ist aber ein sympathischer Zug Hegels, dass er sagt, dass es Selbstverständlichkeiten gibt, für die man gar keine Philosophen benötigt. Genau das würde ich auch einem entgegnen, der meint, er habe Kant gelesen und wisse nun, was zu tun ist: Wusste er denn vorher nicht, dass er niemanden umbringen und nicht lügen und stehlen soll? Das heisst aber nicht, dass es kein kritisches Potenzial bei Hegel gäbe: Dieses resultiert daraus, dass, indem man das Vernünftige im Gegenwärtigen erkennt, man zugleich sieht, wo Dinge noch unvernünftig oder wo sie unaufgelöst widersprüchlich sind. Aber Hegel liefert gewiss keine Anleitung zum seligen Leben.

Wenn man Hegels Epoche betrachtet: Er soll ja stets am 14. Juli auf den Sturm der Bastille, den Auftakt zur Französischen Revolution, angestossen haben.
Das ist auch belegt. Hegel war als Student begeistert von der Revolution. In der Forschung wird eher diskutiert, wie Hegel die Revolution dann später beurteilt hat. Ich persönlich sehe bei ihm – trotz aller Toasts – eine kritische Aufarbeitung der Revolution. Hegel war sich darüber im Klaren, dass die Französische Revolution enorm bedeutsam war, aber auch darüber, wie selbstzerstörerisch die Revolution letztlich war. Er hat in ihr eine Regellosigkeit identifiziert, die typisch ist für ein falsches Freiheitsverständnis. Und eine falsche Vorstellung von bloss abstrakter Gleichheit, die das Zum-Verschwinden-Bringen jeglicher Differenzen betreibt, weil diese per se als schlecht und ungerecht betrachtet werden. Hegel hat gesehen, dass der Revolutionsgedanke von Anfang an schwanger gegangen war mit diesem blutrünstigen Ausschalten aller Differenzen. Während Hegel aber lange in die Ecke des preussischen Staatsphilosophen gestellt wurde, gibt es inzwischen eine gegenläufige Tendenz, Hegel zu einem verkappten Linken zu machen – das ist er aber einfach nicht. Hegel lässt sich nicht in ein Lager pressen.

Lassen sich mit Hegel auch heute gängige Freiheitsauffassungen problematisieren?
Hegel wäre sicher ein Kritiker des liberalen Freiheitsbegriffs, liberal im klassischen Sinne, dass der Einzelne tun und lassen kann, was er will, solange er keinem anderen schadet. Für Hegel ist die freie Wahl zwar ein Moment von Freiheit, aber nicht die eigentliche Freiheit. Diese besteht für ihn vielmehr in einer Art Selbstverpflichtung oder im selbstgewollten Eingehen von Bindungen – und zwar an gemeinsame Projekte und andere Personen. Oder abstrakter: an bestimmte Werte und Institutionen. Freiheit ist also eigentlich, das Sittliche zu tun, denn das Sittliche besteht für Hegel gerade in einer vernünftigen Bindung an andere.

Was hat das denn mit Freiheit zu tun?
Hegel sagt, dass es sich dabei um Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung handelt: Indem man sich aus vernünftigen Gründen an etwas bindet, befreit man sich von den zufälligen Neigungen oder sozialen Einflüssen, die einen mal in die eine, mal in die andere Richtung lenken, die aber nicht Ausdruck des eigentlichen freien Selbst sind. Freiheit kann ja nicht darin bestehen, dass Naturdeterminanten in mir wirken und ich einfach derjenigen nachgehe, die am stärksten ist. Das wäre naiv, weil man damit nur das zum Zuge kommen liesse, was einen gerade am stärksten «anmacht».

Wie muss man sich eine solche selbstbestimmte Bindung vorstellen?
Für Hegel wären Freundschaften oder insbesondere auch die Ehe als Formen der Freiheit zu denken. Freiheit besteht also nicht darin, sich irgendeinen Partner auszusuchen, sondern liegt im In-der-Beziehung-Sein selbst. Hegels Formel dafür lautet: Bei sich selbst sein im Anderen. Der Andere wird dabei nicht als Einschränkung der eigenen Freiheit empfunden, sondern indem man im Verhältnis zum Anderen zu sich selbst kommt, fühlt man sich frei. Jede glückliche Partnerschaft dürfte das auch belegen. Auch hier halte ich Hegel für überzeugend, wobei es sich dabei schon um einen konservativen Zug bei ihm handelt.

Apropos konservativ: Wie war Hegels Verhältnis zu den preussischen Autoritäten seiner Zeit?
Hegel war Monarchist, aber den restaurativen Kräften in Preussen durchaus ein Dorn im Auge. Zugleich hatte er allerdings auch mächtige Freunde im Lager der reformorientierten Kräfte. Als Hegel ein Exemplar seiner «Rechtsphilosophie» an den preussischen Staatskanzler Hardenberg schickte, schrieb er ihm sinngemäss, dass hier eine grosse Übereinstimmung mit dem echten Preussen zu erkennen wäre – aber auch das, was noch zu erwarten sei von der Regierung. Damit deutete er an, dass sein Vernunftstaat das beschreibt, was Preussen sein könnte. Das belegt, dass Hegel kein blosser Verherrlicher des Bestehenden war.

Das klingt so, als habe er versucht, als Philosoph auch politisch zu wirken?
Auf eine sehr vorsichtige Art und Weise, ja. Hegel war kein Feigling, was man an seinem Einsatz für Studenten sieht, die der Demagogie bezichtigt und teilweise auch verhaftet wurden. Für diese hat er sich eingesetzt, teilweise sogar mit seinem Privatvermögen gebürgt. Ein Feigling hätte den Kontakt zu den Beschuldigten gekappt.

Trotzdem bleibt der Charakter Hegels ein bisschen diffus: Anfangs erscheint er sehr bieder, später in Berlin treibt er sich dann in der Bohème herum und ist mit Opernstars befreundet.
Auf den ersten Blick ist Hegel tatsächlich ein Langweiler, aber sein Leben war ein Leben der Umwege – und auch sein Charakter war umweghaft. Hegel weiss lange nicht so recht, was er eigentlich will, er braucht viel Zeit für seine Entwicklung. Das gilt aber genauso für sein Denken: Bei ihm geht es nie mit einer knalligen These los, sondern man muss sich durch seine Bücher quälen, und erst am Ende merkt man, warum der ganze Prozess notwendig war. Auch Hegels Persönlichkeit war unheimlich tief, er war ein Charakter, der sich erst selbst durch seine Lebensgeschichte durcharbeiten musste, und erst über die ganzen Umwege zeigte sich dann, wer er überhaupt war. Es ist gerade dieses tiefgründig Umweghafte, was mitunter als phlegmatisch erscheint. Hegel ist einer, der erst auf den zweiten Blick seinen Charme entfaltet. Dafür dann aber bleibend.

Wie sieht es denn mit Hegels Beziehung zur Schweiz aus?

Es gibt einen schönen Sammelband «Hegel in der Schweiz». Seine Zeit in der Schweiz war tatsächlich eine sehr wichtige Phase für ihn …

Aber auch eine sehr traurige, er hat doch ziemlich unter seinem Hauslehrerdasein in Bern gelitten?
Ja, es ist auch die Zeit, über die er später einmal rückblickend andeutete, etwas erlebt zu haben, was man heute als Depression bezeichnen würde, weil er sich isoliert fühlte und befürchtete, in einer Sackgasse gelandet zu sein, weit ab vom eigentlichen philosophischen Geschehen. Sein Freund aus Studientagen, der Dichter Friedrich Hölderlin, war zu der Zeit zwar auch Hauslehrer in der Provinz, konnte aber etwa nach Jena, wo auch Johann Gottlieb Fichte lehrte, und sein anderer Freund Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war sowieso schon ein Star, während Hegel in der Schweiz sass, in Tschugg auf einem Landgut, wo er auch die Funktion eines Hausverwalters ausüben musste. Das war deprimierend für ihn.

Sebastian Ostritsch Foto: Marc Alter

Vom Berner Ort Tschugg aus hat man immerhin einen schönen Blick auf die Alpen …
Auch der Schweizer Natur und den Bergen hat er nichts abgewinnen können, was vielleicht wiederum ein interessanter Hinweis auf die Begrenztheit Hegels ist. Als er die Alpen sieht, meint er, dass die Berge tot und kalt und total undialektisch seien. Erst als er bei einer Wanderung einen Wasserfall entdeckt, sagt er, das habe etwas Lebendiges, wo die Dinge sich verändern und zugleich gleich bleiben. Das tote Gestein lässt ihn völlig kalt, da stellt sich bei ihm keinerlei Gefühl von Erhabenheit ein. Dazu sind ihm die politischen Umstände der Familie, bei der er arbeitet, eher fremd: Es handelt sich um eine wohlhabende Patrizierfamilie aus Bern. Aber zumindest profitiert er sehr von der grossen Bibliothek, die ihm dort zur Verfügung steht, und er ist wahnsinnig produktiv in der Rezeption, er liest unglaublich viel Kant und auch vieles zur Ökonomie, sodass er in der Schweiz viele Wissensrückstände im Vergleich zu Schelling aufholen kann. Gleichwohl ist er gottfroh, als er wieder wegkann nach Frankfurt und in die Nähe von Hölderlin.

Der Hegelianer

Sebastian Ostritsch studierte Philosophie sowie allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten Stuttgart und Paris-Nanterre. Seine Doktorarbeit schrieb er über «Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik». Heute forscht und lehrt der 36-Jährige am Institut für Philosophie der Uni Stuttgart – unter anderem zur Ethik der Computerspiele. In Heidelberg arbeitet er zudem an seiner Habilitation zum Thema «Ewigkeit».

Seine Biografie «Hegel. Der Weltphilosoph» erschien im Frühjahr im Propyläenverlag. Ostritsch zeichnet darin vor allem die entscheidenden Denkentwicklungen und -figuren Hegels nach.