Die Suizidrate in Schweizer Untersuchungsgefängnissen ist erschreckend hoch.

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Spazierhof im ­Zentralgefängnis der JVA Lenzburg
Spazierhof im ­Zentralgefängnis der JVA Lenzburg. Foto: Ursula Häne

«Ich träume, dass sich meine Zelle mit Wasser füllt. Es ist wie in der ‹Titanic›, das Wasser steigt immer höher. Ich drücke den Alarmknopf, aber nichts geschieht. Ich schreie, aber niemand hört mich», erzählt ein ehemaliger Gefangener über seine Zeit in der Untersuchungshaft. Er habe oft an Suizid gedacht. Warum er es am Ende nicht getan hat, kann er nicht sagen. Aber dieses Gefühl der totalen Fremdbestimmung wird er nicht mehr vergessen. Die Verhaftung ist eine Zäsur, auf die kaum jemand vorbereitet ist. Von einer Minute auf die andere existiert das alte Leben nicht mehr. Man weiss nicht, was als Nächstes passiert.

«Um 7 Uhr geht das grelle Deckenlicht an», erinnert sich ein anderer ehemaliger Untersuchungsgefangener. «Ein Aufseher schiebt Kaffee oder Tee durch die Luke, der Zellennachbar setzt sich nach einer Zigarette auf die Toilette und verrichtet sein Morgengeschäft. Es stinkt. Wir reden nicht miteinander, sitzen Tag für Tag 23 Stunden in der düsteren, stickigen Zelle. Darin: ein Stockbett, ein Metall-WC, TV, Radio, ein Tisch mit Stuhl – dazu ein Fenster, das sich nicht öffnen lässt.» Das Weiss der Wände fresse einen auf: «Komplette Leere. Aussichtslosigkeit. Arbeit oder Beschäftigungsprogramme gibt es keine. Man grübelt in der Vergangenheit und versucht, die negativen Gedanken an die Zukunft zu vermeiden. Beim Hofgang am Nachmittag laufen wir eine Stunde lang in einem vergitterten Innenhof im Kreis. Es ist wie im Zoo. Man denkt unweigerlich, es wäre das Beste, man macht Schluss.»

Einer, der das getan hat, ist Raphael Kiener. Seine Eltern können sich noch gut an den Tag erinnern: Früh am Morgen entdeckten sie auf ihren Handys verpasste Anrufe vom Inselspital Bern. «Wir wussten gleich, dass etwas nicht stimmt. Als wir zurückriefen, sagte man uns, es sei etwas passiert, wir sollten vorbeikommen. Als wir im Spital ankamen, war Raphi bereits hirntot.» So haben Ernestine Kiener und Sebastian Birrer am 5. August 2019 vom Suizid ihres Sohnes erfahren. Raphael Kiener hatte sich in der Nacht in der Station Etoine in Bern, einer Spezialabteilung für Gefangene mit psychischen Erkrankungen, im Alter von 25 Jahren erhängt. Zwei Tage später war er tot.

Raphi, wie ihn alle nannten, hatte psychische Probleme. Kurz nachdem er das Gymnasium abgebrochen hatte, kam er das erste Mal in eine psychiatrische Klinik. Er erhielt die Diagnose paranoide Schizophrenie, der Arzt verschrieb ihm Psychopharmaka, wenig später wurde er wieder entlassen. Danach verlief sein Leben unruhig, er sprang von Job zu Job, kiffte und konsumierte Alkohol. Wenn er zu viel trank, wurde er manchmal aggressiv, konnte sich danach oft nicht an sein Verhalten erinnern. Raphi habe aber nicht ständig in der Psychose gelebt, sagt Sebastian Birrer, der zu jener Zeit noch als Hausarzt tätig war.

Im Sommer 2018 kommt es in der Berner Reitschule zu einem Zwischenfall. Kiener trinkt zu viel und attackiert einen anderen Besucher mit einer Flasche. Die Polizei verhaftet ihn. Auch diesmal kann er sich nicht an den Vorfall erinnern (siehe WOZ Nr. 32/20). Im Januar 2019 gerät er erneut in Konflikt mit der Polizei und wird verhaftet.

Eingangsbereich Haus B im Zentralgefängnis der JVA Lenzburg
Eingangsbereich Haus B im Zentralgefängnis der JVA Lenzburg. Foto: Ursula Häne

Eigentlich sei ihr Sohn zu jener Zeit psychisch stabil gewesen und habe Medikamente genommen, sagt Sebastian Birrer. «Wir hatten damals keine Ahnung, was die U-Haft für einen psychisch kranken Menschen bedeutet. Naiverweise dachten wir erst noch, dass ihm der geregelte Alltag im Gefängnis guttun könnte.» Doch die Bedingungen im Regionalgefängnis Bern waren hart: 23 Stunden Zelleneinschluss, kein Fernseher, keine Beschäftigungs programme, wenig Besuch, keine Telefonate und keine psychiatrische Betreuung. Die Eltern fragen sich bis heute, wie es sein konnte, dass ihr Sohn trotz seiner Diagnose, die der Gefängnisverwaltung und der Staatsanwaltschaft bekannt war, keine psychiatrische Betreuung erhielt.

Von allen Kontakten abgeschnitten

Noch in Einzelhaft wird dem jungen Mann das Gutachten ausgehändigt, das ein forensischer Psychiater im Auftrag der Staatsanwaltschaft über ihn verfasst hat. Dieses empfiehlt eine mehrjährige therapeutische Massnahme, bis auf Weiteres hochgesichert. Raphael Kiener weiss genau, dass das die «kleine Verwahrung» bedeutet und er so schnell nicht mehr freikommen würde. Das Gutachten liest er einsam in seiner Zelle. Die Angst vor der jahrelangen Gefangenschaft muss ihn verrückt gemacht haben. Niemand ist da, der ihm helfen könnte, das Gutachten einzuordnen.

«Er hat keinen Ausweg mehr gesehen und fiel in eine Psychose», erzählt seine Mutter Ernestine Kiener. «Dort hat Raphi auch noch erfahren, dass seine Wohnung aufgelöst wurde und er bis zum Verhandlungsbeginn im Oktober, mehrere Monate, im Gefängnis bleiben muss. Das verschlechterte seine psychische Situation weiter.»

Im Juli 2019 wird Raphael Kiener, ohne dass die Eltern oder sein Anwalt informiert werden, in die Station Etoine verlegt. Als die Eltern ihn dort besuchen, erzählt er von einem Suizidversuch. «Wir waren überrascht, Raphi war zuvor nie suizidal», sagt Sebastian Birrer. Der zuständige Assistenzarzt, den er daraufhin kontaktiert, sagt, er dürfe ihm keine Auskunft geben. «Das ist doch ein fertiger Bullshit», fährt ihn der sonst stets höfliche Birrer an. Auch Jahre später kann er nicht nachvollziehen, was damals abgelaufen ist. Die Eltern wollen helfen, erhalten aber das Gefühl vermittelt, dass ihre Hilfe nicht erwünscht sei und man sie auf Distanz halten wolle. Doch genau diese Distanz zu ihrem Sohn sei das Problem gewesen, sagt Sebastian Birrer. «Aufgrund seiner Erkrankung wäre es wichtig gewesen, dass er im Austausch mit seinem sozialen Umfeld hätte stehen können. Stattdessen wurde er von allen Kontakten abgeschnitten, das Besuchsregime war eine absolute Katastrophe.» In U-Haft ist der Kontakt zu Angehörigen und Bekannten besonders restriktiv geregelt. Das wird mit der sogenannten Kollusionsgefahr begründet: Die Inhaftierten sollen die Ermittlungen nicht durch mögliche Absprachen manipulieren können. Raphaels Besuchszeit sei auf eine Stunde pro Woche beschränkt worden, sagt Ernestine Kiener. Zudem seien Besuche nur nachmittags unter der Woche erlaubt gewesen, für erwerbstätige Personen nahezu unmöglich.

«Wir mussten bis zu fünfzehn Minuten draussen warten, bis wir hineingelassen wurden, selbst wenn es sehr kalt war. Nachdem wir die Metalldetektoren passiert hatten, setzten wir uns in eine enge Kabine. Vor uns die Trennscheibe und das Mikrofon», erinnert sich Ernestine Kiener. «Wir warteten, bis Raphi auf der anderen Seite der Scheibe Platz nahm. Die Tonqualität war schlecht, und wir hielten die Ohren ganz nah an den Lautsprecher, um etwas zu verstehen. Es spielten sich Szenen wie im Film ab, unsere Hände suchten die Berührung an der Glasscheibe.» «Entmenschlicht» sei die Situation gewesen, und sie hätten sich hilflos gefühlt. «Wir verstanden nicht, wieso wir unseren Sohn nicht umarmen durften; niemand erklärte uns, wo bei Raphi die Kollusionsgefahr bestehen soll.» Ausser den wenigen Treffen im Besucherraum und einem unter Aufsicht hatten die Eltern keinen Kontakt zu ihrem Sohn. Telefongespräche erlaubte die Staatsanwaltschaft nicht. Auch hier lautete die Begründung: Kollusionsgefahr.

Fehlender politischer Wille

Erst seit zwanzig Jahren werden in der Schweiz Suizide in Haft überhaupt erfasst. 163 Menschen haben sich seit 2003 in hiesigen Gefängnissen umgebracht, 96 davon in U-Haft. Eine Studie der Universität Lausanne ergab kürzlich, dass das Suizidrisiko in Schweizer Gefängnissen viermal höher ist als im europäischen Durchschnitt.

Die Diskussion um Suizid in Schweizer Strafanstalten ist nicht neu. 2011 reichte der inzwischen verstorbene grüne Nationalrat Daniel Vischer eine Interpellation zum Thema ein: «In letzter Zeit häufen sich Meldungen über Todesfälle, insbesondere Suizide und Suizidversuche, in Haftanstalten in der Schweiz», schrieb er darin. Überdies gebe es Hinweise, dass Straffällige mit psychischen Störungen, die früher mit der notwendigen Intensität behandelt worden seien, oft nicht mehr psychiatrisch hospitalisiert, sondern in Gefängnissen untergebracht und nur minimal ärztlich versorgt würden. Der Bundesrat sah keinen Handlungsbedarf, und im Parlament wurde die Interpellation später «unbehandelt abgeschrieben».

Die Menschenrechtsorganisation humanrights.ch dokumentiert seit einigen Jahren Todesfälle in Haft und berät auch betroffene Angehörige wie die Eltern von Raphael Kiener. Livia Schmid, die die Beratungsstelle Freiheitsentzug von humanrights.ch leitet, vermutet: «Jeden Tag gibt es in Schweizer Gefängnissen Suizidversuche, von denen wir nie erfahren.» Sie fordert, dass künftig auch Suizidversuche erfasst werden. Die hohe Suizidrate stehe sinnbildlich für die vielseitigen Probleme der U-Haft. Wenn Menschen 23 Stunden in einer Zelle eingesperrt seien, richte das viel Schaden an. «Für eine effektive Suizidprävention», so Schmid, «bräuchte es längere Zellenöffnungszeiten, ein besseres Angebot an Beschäftigungsprogrammen und mehr Kontakt zu Angehörigen.»

Leena Hässig ist forensische Psychologin und arbeitete in den letzten dreissig Jahren in vielen Schweizer Gefängnissen. Wie würde aus ihrer Perspektive eine humanere U-Haft aussehen? Ihre erste und einfachste Lösung: «Fenster, die sich öffnen lassen: So dringen Geräusche des Alltags in die Zelle – seien es der Wind, Vögel oder die Stimmen anderer Gefangener.» Damit aber sei es nicht getan: «Es bräuchte eine grundlegende Reform der U-Haft, doch dazu fehlten bislang das Geld und der politische Wille.»

In den Kantonen Zürich und Bern laufen seit einem Jahr Modellversuche, die die Situation von Gefangenen verbessern sollen. Erklärtes Ziel: «die Ressourcen der inhaftierten Personen zu schützen», «schädliche Auswirkungen der Haft möglichst zu verhindern» und der «Unschuldsvermutung besser Rechnung zu tragen».

Die Untersuchungshaft beginnt in diesen beiden Kantonen neu mit einem Eintrittsgespräch. Dabei soll der Sozialdienst herausfinden, in welcher Lebenssituation ein Gefangener steckt: Menschen notabene, die das Delikt, das man ihnen gerade vorwirft, vielleicht gar nicht begangen haben, womöglich also unschuldig sind – und trotzdem das Risiko tragen müssen, während der U-Haft die Wohnung oder die Arbeit zu verlieren. Der Sozialdienst soll neu helfen, in der ersten Phase die akuten Probleme aufzufangen, damit die betroffenen Personen, wenn sie aus der U-Haft entlassen werden, überhaupt noch die Möglichkeit haben, in ihr altes Leben zurückzukehren. Hässig begrüsst das Eintrittsgespräch und die aktive Unterstützung durch den Sozialdienst: «Die ersten drei Tage sind die gefährlichsten, was einen möglichen Suizid angeht. In dieser Zeit braucht es intensivere Betreuung, als das bisher der Fall war. Ausserdem müsste die Einzelhaft abgeschafft werden: Gruppenvollzug sollte die Norm sein, denn die Inhaftierten brauchen sozialen Austausch.»

Der Modellversuch hat sich denn auch zum Ziel gesetzt, dass Gefangene acht Stunden täglich ausserhalb ihrer Zelle verbringen können. Aktuell ist das aber noch nicht in allen beteiligten Gefängnissen der Fall. Das bestätigt auch das Tagebuch eines Untersuchungsgefangenen in einem Zürcher Gefängnis, der für humanrights.ch seine Zellenöffnungszeiten dokumentiert. In einer Maiwoche dieses Jahres verbrachte er demnach pro Tag durchschnittlich bloss drei Stunden und 26 Minuten ausserhalb der Zelle. In dieser Zeit muss der Gefangene drei Mahlzeiten abholen; die restliche Zeit steht ihm für Sport, Hofgang, Duschen und die Reinigung seiner Zelle zur Verfügung.

Laut Angaben der Berner Justizdirektion gibt es in den meisten Gefängnissen ein Gym, eine Bibliothek, Bildungsangebote sowie Seelsorge. Auf freiwilliger Basis bestünde auch die Möglichkeit für bezahltes Arbeiten. Weil das Angebot dafür nicht ausreiche, könnten aber nicht alle beschäftigt werden, die gerne arbeiten würden.

Mitarbeitende, die am Modellversuch beteiligt sind, absolvieren eine fünftägige Ausbildung im ehemaligen Gefängnis Meilen, das heute als Schulungszentrum dient. Ob fünf Tage Crashkurs ausreichen, um die U-Haft menschenfreundlicher zu machen? Bei der Berner Justizdirektion heisst es dazu auf Nachfrage, dass der Kurs mit Weiterbildungen ergänzt werde, um den Ansprüchen des Modellversuchs langfristig gerecht zu werden.

Rigides Besuchsregime

Das Projekt sieht auch vor, den Kontakt zwischen Inhaftierten und ihren Angehörigen zu vereinfachen. Doch die Massnahmen dazu sind bescheiden: Zehn Minuten pro Woche dürfen Inhaftierte laut der Berner Justizdirektion telefonieren – wenn keine Kollusionsgefahr besteht und von der Verfahrensleitung eine entsprechende Bewilligung erteilt wurde. Das Besuchsregime bleibt auch im Rahmen des Modellversuchs unverändert streng: So haben Gefangene weiterhin ein wöchentliches Besuchskontingent von nur einer Stunde – sofern keine Kollusionsgefahr besteht.

Bei der Beratungsstelle von humanrights.ch haben sich schon diverse Angehörige gemeldet, die sich beklagten, dass die Staatsanwaltschaften die Besuchserlaubnisse unter dem Vorwand der Kollusionsgefahr auch im Rahmen des Modellversuchs noch immer oft nur verzögert erteilten, sagt Livia Schmid. «Ausserdem haben Angehörige von Gefangenen berichtet, Staatsanwält:innen würden sie despektierlich behandeln, wenn sie um eine Besuchserlaubnis anfragten.» Den Staatsanwaltschaften Bern und Zürich sind keine entsprechenden Fälle bekannt.

Ernestine Kiener und Sebastian Birrer sehen positive Aspekte am Modellversuch, bleiben aber skeptisch: «Jetzt untersucht man drei Jahre lang Faktoren, die wissenschaftlich längst bekannt sind, und weiss gleich viel wie zuvor», konstatiert Kiener. Fünf Jahre nach dem Suizid ihres Sohns kämpfen die Eltern weiterhin für die Aufarbeitung seines Todes und eine grundlegende Veränderung der Untersuchungshaft. «Das sind wir Raphi schuldig», sagt Birrer.

Beratung bei Suizidgedanken

Haben Sie selbst Suizidgedanken? Oder sind um jemanden besorgt? In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen da sind.

Für Erwachsene: Die Dargebotene Hand, Telefon 143.

Für Kinder und Jugendliche (gratis und anonym): Telefon 147 und www.147.ch (betrieben von Pro Juventute).

Weitere Adressen und Infos: www.reden-kann-retten.ch.

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