Menschenrechte: Mit Klagen lässt sich das System verändern

Nr. 18 –

Bislang bleiben viele Fälle von Menschenrechtsverletzungen ungestraft. Humanrights.ch will das mit einer neuen Anlaufstelle und strategischen Prozessführungen ändern.

Bis zu dreissig Menschen sterben jedes Jahr in Schweizer Hafteinrichtungen. Auch das will die Anlaufstelle für strategische Prozessführung ändern: Blick aus einer Zelle im Gefängnis Pöschwies in Regensdorf ZH. Foto: Ursula Häne

Raphi Kiener erhängte sich im August 2019 in einer Psychiatrie im Kanton Bern. Trotz einer diagnostizierten paranoiden Schizophrenie war der 25-Jährige vorher während rund sechs Monaten in Untersuchungshaft im Regionalgefängnis Bern eingesperrt, 23 Stunden pro Tag, Besuche durfte er nur hinter einer Trennscheibe empfangen (siehe WOZ Nr. 32/2020 ). Aktuell untersucht die Staatsanwaltschaft, ob der Staat seine Fürsorgepflicht und somit Menschenrechte verletzt hat.

Zehn bis dreissig Menschen sterben jedes Jahr in Schweizer Hafteinrichtungen – fast die Hälfte davon durch Suizid. Dafür, dass diese Zahl nicht weiter steigt, soll die Untersuchung des Falls von Raphi Kiener sorgen. Ein Gerichtsurteil zu seinem Einzelfall soll bewirken, dass sich die Bedingungen in den Schweizer Haftanstalten verbessern.

Dieser Mission angenommen hat sich eine von der Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch im vergangenen Jahr gegründete Anlaufstelle für strategische Prozessführung. Der Fall von Raphi Kiener ist der erste, den sie begleitet. Bewusst ausgewählte Einzelfälle sollen – begleitet von Kampagnen in der Öffentlichkeit – Leitentscheide von oftmals internationalen Gerichten wie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg erwirken, die die Rechtspraxis verändern oder Gesetzgebungsprozesse auslösen und so die Rechtsstellung vieler Menschen verbessern.

Stellvertretend für viele

In den USA führen seit über hundert Jahren mehrere Organisationen strategische Prozesse. Bekannt ist etwa die American Civil Liberties Union, der es unter anderem zu verdanken ist, dass Schwangerschaftsabbrüche legalisiert und die Rassentrennung an Schulen aufgehoben wurde. In der Schweiz sind es bislang meist einzelne AnwältInnen, die strategische Prozesse führen – häufig unentgeltlich.

Mit der neuen Anlaufstelle in Bern sollen diese Anstrengungen gebündelt werden. Seit letzten Dezember ist sie offen, aktuell sind fünf Fachleute involviert. Pro Jahr beträgt das Budget 100 000 Franken, ein grosser Teil der Arbeit erfolgt ehrenamtlich.

Nicht alle Fälle von Menschenrechtsverletzungen eignen sich jedoch für eine strategische Aufarbeitung: «Primär müssen die Betroffenen oder ihre Angehörigen dazu bereit und psychisch stabil genug sein, um während mehrerer Monate im Rampenlicht zu stehen und auch zugunsten von anderen zu kämpfen», sagt Marianne Aeberhard, Geschäftsleiterin von Humanrights.ch. Zudem brauche es auf Menschenrechte spezialisierte AnwältInnen, die erfahren mit Verfahren vor internationalen Gerichten seien und nicht jede einzelne Arbeitsminute verrechneten. Ausserdem müsse der Sachverhalt stellvertretend für andere stehen, dürfe also kein Einzelfall sein.

Beim Fall von Raphi K. stimmen die Bedingungen. «Die Eltern sind bereit, nötigenfalls bis nach Strassburg zu gehen», sagt Aeberhard. Und mit Philip Stolkin hat sich ein erfahrener Rechtsvertreter des Falls angenommen. Stolkin hat 2014 gemeinsam mit dem Anwalt David Husmann einen Fall vor den EGMR gebracht, der mustergültig zeigt, was strategische Prozessführung bewirken kann: Hans Moor hatte jahrzehntelang bei der heutigen General Electric Turbinen montiert, kam dabei mit Asbest in Berührung und starb 58-jährig an Lungenkrebs. Bereits vor seinem Tod klagte er gegen seine ehemalige Arbeitgeberin wegen mangelnder Schutzvorkehrungen. Sämtliche Gerichte in der Schweiz sagten, der Fall sei verjährt, weil der Kontakt mit Asbest zu lange zurückliege. Renate Howald Moor zog für ihren verstorbenen Mann den Fall an den EGMR. Dieser urteilte: Die Schweiz hat Moors Recht auf ein faires Verfahren verletzt; durch die starre Interpretation der Verjährungsfrist habe er keinen effektiven Zugang zum Gericht gehabt (siehe WOZ Nr. 1/2018 ). Nach dem Strassburger Urteil verlängerte das Parlament die Verjährungsfrist bei Personenschäden von zehn auf zwanzig Jahre. Auch wurde daraufhin die Stiftung Entschädigungsfonds für Asbestopfer gegründet.

Fälle aus sämtlichen Rechtsbereichen

Durch die neue Anlaufstelle dürften künftig mehr Fälle aus der Schweiz vor dem EGMR landen. Laut Stolkin ist das umso wichtiger, als Urteile des Bundesgerichts, vor allem der sozialrechtlichen Kammern, oft politisch gefällt würden und «meist an die Comedyshows von Monty Python erinnern». Da sei es zwingend, an internationale Instanzen gelangen zu können. So hat Stolkin bereits vier Mal vor dem EGMR gewonnen – als Einzelkämpfer.

Die Anlaufstelle will Fälle aus sämtlichen Rechtsbereichen abdecken. Der Basler Rechtsprofessor Markus Schefer sieht darin – obwohl er die Arbeit der Anlaufstelle begrüsst – eine mögliche Hürde: «Die Problemstellungen strategischer Prozessführung stellen sich in unterschiedlichen Rechtsbereichen je anders.» Im Behindertenrecht etwa sei es wichtig, Fälle unterschiedlicher Behinderungen zu führen: etwa, dass Rollstuhlfahrende Kinos besuchen können und Monitore im ÖV auch für Menschen mit einer Sehbehinderung lesbar sind. «Sonst entsteht der Eindruck, man kümmere sich immer um die gleichen Personen.»

Anfang nächsten Jahres geht die Anlaufstelle mit dem Fall von Raphi Kiener an die Öffentlichkeit. Dann startet sie auch ein Crowdfunding, um Geld für den Prozess zu sammeln – ebenfalls ein in der Schweiz bisher selten verwendetes Instrument im Feld des Rechtsschutzes.

www.humanrights.ch

Deutschland : Wegweisendes Urteil zum Klimaschutz

Ein aktuelles Beispiel dafür, wie tiefgreifend strategische Prozessführungen gesellschaftliche Bedingungen verändern können, kommt aus Deutschland: Letzte Woche hielt das Verfassungsgericht in einem Urteil fest, dass das deutsche Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2019 unzureichend und der Schutz der Freiheitsrechte künftiger Generationen nicht gewährleistet sei. Die derzeit gültigen Vorschriften würden die hohen Emissionsminderungslasten «unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030» verschieben, was die Gefahr schwerwiegender Freiheitseinbussen erheblich vergrössere. In Frankreich entschied ein Gericht im Februar, dass die Untätigkeit des französischen Staates bezüglich Klimaschutz illegal sei.

In der Schweiz sind es primär die Klimaseniorinnen, die sich auch gerichtlich für einen besseren Klimaschutz und ihr «Recht auf Leben und Gesundheit» einsetzen. Vor einem Jahr wies das Bundesgericht deren Beschwerde ab. Ende 2020 reichten die Seniorinnen ihre Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein.

Ende März nun hat der EGMR nach einer vergleichbaren Klage aus Portugal auch für die Beschwerde aus der Schweiz grünes Licht gegeben. Das Bundesamt für Justiz hat bis am 16. Juli – fünf Wochen nach der Abstimmung über das CO2-Gesetz – Zeit für eine Stellungnahme. 

Adrian Riklin