Italiens Regierung: Die Hetze aus der Versenkung

Nr. 33 –

Premierminister Giuseppe Conte steht gerade hoch im Kurs, weil seine Regierung in Brüssel erfolgreich verhandelt hat. Bei den anstehenden Regionalwahlen aber droht die Rechte zu erstarken – selbst wenn die Lega verliert.

Als die Regierung von Premierminister Giuseppe Conte am 5. September 2019 vereidigt wurde, wagte kaum jemand Prognosen über deren Lebensdauer. Nun ist sie fast ein Jahr im Amt, und der Parteilose erreicht traumhafte Umfrageergebnisse: zwei Drittel Zustimmung für den Premier, der lange als durchsetzungsschwacher «Professor aus dem Süden» belächelt worden war und sich dann in der Coronakrise das Image des tatkräftigen Machers erwarb. Offensichtlich sind auch AnhängerInnen der Rechten ganz froh darüber, dass auf dem Höhepunkt der Pandemie der Pragmatiker Conte und nicht der Schreihals und ehemalige Vizepremier Matteo Salvini die Regierung führte.

In Sachen Kontaktbeschränkungen etwa änderte Lega-Anführer Salvini innert Tagen mehrfach seinen Kurs. Mal wollte er «alles schliessen», kurz darauf forderte er, die Menschen sollten wieder «hoffen, verdienen, ausgehen, arbeiten, träumen» dürfen – im Namen der Freiheit. Das war Ende April. Zwei Wochen später stieg die Zahl der Coronatoten in Italien auf über 30 000 – mehr als in jedem anderen europäischen Land.

Sprachrohr der Ungeduldigen

Begleitet wurde Salvinis Agitation vom Unternehmerverband Confindustria, der 150 000 Firmen mit 5,5 Millionen Beschäftigten vertritt. Dessen im April neu gewählter Präsident Carlo Bonomi begann seine Amtszeit mit einer Kampfansage an die Regierung: Die Politik des Lockdowns habe schlimmere Folgen als das Virus, lamentierte er. Von den Gewerkschaften fühlte er sich beleidigt – diese hatten kritisiert, dass in vielen Betrieben gegen die vereinbarten Schutzmassnahmen verstossen wurde. Solchen «Unterstellungen» werde er mit einer Politik der «absoluten Härte» begegnen, drohte Bonomi.

Derweil versuchten sich die Rechten als Sprachrohr der Ungeduldigen. Am 2. Juni, dem Nationalfeiertag Festa della Repubblica, demonstrierten auf der Piazza del Popolo in Rom die Lega, die Fratelli d’Italia, Forza Italia und ultrarechte Splittergruppen gemeinsam gegen die Regierung. Diese, so der keineswegs neue Vorwurf der «Souveränisten», sei aus Brüssel und Berlin ferngesteuert. Unfähig zu einer Politik im nationalen Interesse, werde sie sich mit ein paar Milliarden aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abspeisen lassen, der zudem noch – siehe Griechenland – mit demütigenden Auflagen verbunden sein werde.

Mit dem Brüsseler EU-Kompromiss vom 21. Juli wurde diese Prognose weitgehend widerlegt. Italien erhält 209 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds, davon 82 Milliarden als Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Für dieses Ergebnis wurde Conte in Italien gefeiert: als geschickter Verhandler, der das Bestmögliche herausgeholt habe. Sogar Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia, lobte Contes Einsatz. Salvini dagegen sprach von bedingungsloser Kapitulation und einem riesigen Betrug, weil mit den Zahlungen Italiens Souveränität verloren gehe.

Wie viel der EU-Kompromiss tatsächlich wert ist, wird sich erst im nächsten Jahr zeigen. Denn das Geld kommt frühstens Anfang 2021, und es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht denen zugutekommen, die am meisten unter den Auswirkungen der Krise zu leiden haben. Neben ArbeitsmigrantInnen mit unsicherem Aufenthaltsstatus sind das, einem aktuellen Report des staatlichen Statistikinstituts zufolge, vor allem in den südlichen Regionen lebende Frauen und junge Menschen in prekärer Beschäftigung. Sie haben nicht nur ihre Jobs verloren, sondern auch keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen. Ginge es nach den Vorstellungen der Confindustria, sollten aber vor allem Betriebe von den europäischen Hilfsgeldern profitieren. Dagegen fordern Umweltschutzorganisationen wie die Legambiente oder Greenpeace, die AktivistInnen von Fridays for Future wie auch die Linkspartei Sinistra Italiana Investitionen in alternative Energien, ökologische Landwirtschaft, eine auf die Schiene setzende Verkehrswende: einen Green Deal, der auch soziale Ungleichheiten reduzieren, wohlfahrtsstaatliche Leistungen garantieren und das weitgehend privatisierte Gesundheitswesen reformieren soll.

«Kein Zurück zur desaströsen Normalität vor der Pandemie!» lautet der Slogan, der Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen eint. Zu den am heftigsten umkämpften Fragen gehört jene des Bildungswesens. Schon früh war klar, dass die Schulen vor den Sommerferien, die von Mitte Juni bis Mitte September dauern, nicht wieder öffnen würden. Und auch wenige Wochen vor dem Schulbeginn am 14. September sind die Vorbereitungen noch unzureichend. Das Komitee «Priorità alla scuola» (Vorrang für die Schule) fordert fünfzehn Prozent der europäischen Hilfsgelder für die Schulen und kündigt eine «permanente Mobilisierung» an. Am 26. September soll es eine Grossdemonstration in Rom geben – wenige Tage nachdem viele der gerade wieder eröffneten Schulen als Wahllokale genutzt werden.

Konfrontationsscheue Regierung

Am 20. und 21. September wird nämlich in sieben italienischen Regionen gewählt, darunter die Toskana, Venetien, Ligurien und Kampanien. Zugleich wird landesweit in einem Referendum über die Verkleinerung der beiden Parlamentskammern von 945 auf 600 Sitze abgestimmt. Während sich beim Referendum eine deutliche Mehrheit für ein Ja abzeichnet, ist der Ausgang der Regionalwahlen offen. Gemäss Umfragen liegt der Rechtsblock, Expräsident Silvio Berlusconis Forza Italia eingeschlossen, bei knapp 50 Prozent der Stimmen. Deutliche Einbussen der Lega, die nur noch auf etwa 25 Prozent kommen soll, werden demnach kompensiert durch grosse Zugewinne der Fratelli d’Italia, die zwischen 15 und 18 Prozent erreichen dürften – eine weitere Verschiebung nach rechts.

Begünstigt wird diese dadurch, dass die regierende Koalition die Konfrontation mit der rechten Opposition scheut. Insbesondere bei der Migrationsabwehr setzt sie – teils aus Opportunismus, teils aus Überzeugung – auf eine Fortsetzung der offen rassistischen Politik Salvinis. Dessen brutale «Sicherheitsdekrete» sollen nicht abgeschafft, sondern nur in Teilen gemildert werden. So werden die irrwitzig hohen Geldstrafen für Seenotrettung von bis zu einer Million wohl auf maximal 50 000 Euro gesenkt. Zudem werden die Urteile künftig von einem Gericht gefällt, nicht mehr von VerwaltungsbeamtInnen. Auch sollen mehr Geflüchtete als bisher eine Arbeitserlaubnis und Ausweise bekommen. Die allermeisten aber werden dennoch leer ausgehen, denn die Regierung will weiterhin auf zwangsweise «Rückführung» setzen. Derzeit macht sie Druck auf Tunesien, das Überfahrten unterbinden soll. Und auch die Kollaboration mit Libyens berüchtigter «Küstenwache» geht unvermindert weiter.

Matteo Salvini ist das freilich zu wenig. Für ihn sind die «Irregulären» nicht nur Kriminelle, sondern zugleich ÜberträgerInnen von Coronaviren. Und mit seiner Hetze treibt er den Staat erfolgreich vor sich her. Auch wenn die bestätigten Zahlen infizierter MigrantInnen niedrig sind, reagiert dieser mit der Festsetzung Geflüchteter auf Quarantäneschiffen und in überfüllten Sammellagern. Kein Wunder, dass es dort immer wieder zu Fluchtversuchen kommt, die von Polizei und Militär meist schnell beendet werden. Und so gewinnt die rechte Propaganda, sekundiert von dramatisierenden Medienberichten, weiter an Fahrt: Sie basiert auf der Erfindung einer wachsenden Bedrohung von aussen – und schürt die Sehnsucht nach dem starken Mann, der Ordnung bringt.