Erwachet!: Notwehr und Martyrium
Michelle Steinbeck liest die Kommentarspalte
Es gibt für einen Mann triftige Gründe, seine Partnerin zu töten. Das scheinen jedenfalls die vielen Stimmen zu glauben, die derartige tödliche Gewalt öffentlich rechtfertigen und relativieren.
Da sind einerseits gewisse Medien, die je nach nationaler Zugehörigkeit oder allfälligem Migrationshintergrund des Täters mehr oder weniger archaisch-poetisch von «Ehrenmord», «Familientragödie», «Eifersuchtsdrama» oder gar «spontaner Leidenschaftstat» schreiben, die unerklärlicherweise aus einem «harmlosen Streit» entstanden sei.
Eher nüchtern berichtete dagegen kürzlich der österreichische «Standard» von einem 88-Jährigen, der seine Frau erstochen und sich dann gestellt habe. In einer Infobox klärte die Zeitung über Femizid als gesamtgesellschaftliches Problem und die nationale Lage auf: In Österreich würden «im Durchschnitt» monatlich drei Frauen von einem Angehörigen ermordet.
Die Art und Weise der Berichterstattung hielt die zahlreichen Kommentierenden jedoch nicht davon ab, frisch-fröhlich über das mögliche Motiv des Täters zu werweissen. Dabei verband gefühlte 99 Prozent dieser Hobbykriminologen die sichere Annahme, dass der Mann für seine Tat gute Gründe gehabt haben muss.
So fachsimpeln sie über seinen «psychischen Knacks» und diskutieren, ob er wohl «normal» depressiv, weil «alt und gebrechlich», oder zeitgenössisch «Corona-depressiv» war. In einem längeren Thread wird über Alter und Zahl allfälliger Enkelkinder spekuliert – das «Kindergeschrei» könnte ein zusätzlicher Grund zum Ausrasten gewesen sein. Zitat: «In Summe kann das alles leicht zu viel werden.»
Die getötete Frau wird überhaupt nur in einem Szenario erwähnt: Sie könnte sich die Messerstecherei ja gewünscht haben. Sterbehilfe auf gut Österreichisch – schliesslich könne sich «die Fahrt in die Schweiz nicht jeder leisten». Der Mörder wäre in Wahrheit ein beherzter Held. Oder tragisches Opfer einer Fata Morgana: «Stockdement und paranoid, bildet sich ein er ist zwanzig Jahre alt und der alte Reifen geht ihm fremd.» Klare Sache: «Da muss man was tun.»
Als sich ein einzelner Kommentar nicht in das Rätselraten einreiht, stattdessen den Eifer all jener kritisiert, Tat und Täter zu legitimieren, wird der Spiess umgedreht. Einer wirft der Person vor, sie würde «ohne geklärte Fakten Motive und niedere Gesinnungen unterstellen». Ein anderer meint, sie würde «sich wichtig mache(n) und Hobbypsychologie betreiben und Männerbashing».
Der Ton wird rauer. Nun wird auf «Notwehr gegen jahrzehntelangen Psychoterror» plädiert, man einigt sich auf das Motiv «langjähriges Ehe-Martyrium und Verzweiflung». Das Schlussplädoyer hält ein offenbar Gepeinigter, der alle Männer dazu ermuntert, sich «emotional abzukapseln» von ihren Frauen, die sich über sie lustig und sie fertigmachen. Der Mann müsse gegenüber der «Trickkiste» der Frau «resilienter» werden.
Dass Kommentarspalten ein adäquates Gesellschaftsbild darstellen, möchte ich bezweifeln. Die Zahlen sprechen jedoch für sich. Die Schweiz verzeichnete 2019 jede zweite Woche einen Femizid; weltweit ist häusliche Gewalt laut WHO die wahrscheinlichste Todesursache für Frauen bis 44. Nach dem Coronalockdown sind die Zahlen von häuslicher Gewalt noch gestiegen.
Michelle Steinbeck ist Autorin und Studierende der Soziologie.