Gesundheitspolitik in Brasilien: Ein seltsamer Zwischenzustand

Nr. 34 –

Die Infektions- und Todeszahlen bleiben konstant hoch, aber Brasilien forciert die grosse Öffnung. Präsident Jair Bolsonaro ignoriert die Pandemie – und scheint damit Erfolg zu haben.

«Es wird bald eine zweite Welle geben», sagt Virginia Corsini. Die 54-Jährige ist Ärztin in der Notfallstation einer Klinik in Duque de Caxias nördlich von Rio de Janeiro. Während der schlimmsten Monate von April bis Juni sei die Klinik mit den vielen Covid-19-Fällen überfordert gewesen. Aus Mangel an Erfahrung habe man viele Fehler bei der Behandlung der Erkrankten gemacht. «Das Virus ist hinterhältig», sagt Corsini, «wir wissen noch immer zu wenig.» Die Lage habe sich seit einigen Wochen zwar entspannt. Aber das sei trügerisch.

Die Ärztin führt durch die Klinikflure, in denen Betten mit Kranken und Verwundeten stehen. «Schusswunden», sagt Corsini. Die Region sei gefährlich. Dann zeigt sie die Intensivstation, auf der zwei Dutzend Covid-19-Kranke an Atemgeräte angeschlossen sind. In einem anderen Raum werden schwere Coronafälle behandelt, bei denen keine künstliche Beatmung nötig ist. «Noch nicht», sagt Corsini. Die Zustände in der Klinik erwecken Angst, Verzweiflung, Resignation. «Ich habe mich daran gewöhnt», sagt Corsini. «Man sollte in Brasilien nicht Ärztin werden, wenn man emotional nichts aushält.»

Wie alle ihre ArbeitskollegInnen war auch Corsini selbst an Covid-19 erkrankt. Sie blieb zwei Wochen zu Hause und behandelte sich mit den Medikamenten Hydroxychloroquin, Ivermectin und Azithromycin. Eine Kur, deren Zweckmässigkeit höchst umstritten ist – und die neben Donald Trump auch der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro empfiehlt. Das sei ihr egal, sagt Virginia Corsini: «Mir haben sie geholfen.» Überhaupt will sie nichts von Politik wissen. «Ob linke oder rechte Regierung: Es gibt immer Korruption im Gesundheitswesen», sagt sie.

Tatsächlich werden in Brasilien immer mehr Korruptionsfälle bekannt. In Rio wurde etwa der Gesundheitsminister festgenommen. Er soll im Rahmen der Beschaffung von medizinischem Gerät Geld eingesteckt haben, es geht um eine Summe von sechs Millionen Franken. «Die Korruption fordert Menschenleben», sagt Corsini.

Der entkoppelte Präsident

Daniel Benedito starb am 15. Tag seiner Hospitalisierung in São João de Meriti, einer Stadt nordwestlich von Rio. Eingeliefert wurde der 54-Jährige wegen eines Hirnschlags. Die ÄrztInnen massen bei ihm hohes Fieber, er klagte zudem über den Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn. Er starb schliesslich an einem «schweren akuten Atemwegssyndrom» – so ist es auf seinem Totenschein eingetragen. Sein Bruder Calebi Benedito durfte ihn nicht besuchen, während er auf der Intensivstation lag. Erst beim Begräbnis sah er ihn wieder. «Ich glaube, dass er Covid-19 hatte», sagt Calebi Benedito heute, «aber er wurde nie auf das Virus getestet, weil es keine Tests gab.»

Im August stieg die Zahl der Pandemietoten offiziell auf über 110 000. Das sind mehr, als im ganzen letzten Jahr durch Gewalt (42 000) und Verkehrsunfälle (30 000) ums Leben kamen. Aber die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen, das haben verschiedene Studien ergeben. Auch Exgesundheitsminister Nelson Teich liess verlauten, dass er keinen Zweifel daran habe, dass es mehr Covid-19-Opfer gebe als offiziell bekannt. «Die Frage ist nur: wie viele?»

Jair Bolsonaro aber ist das egal. Er äussert sich nicht mehr zur Pandemie, ignoriert sie einfach. Selbst als 100 000 Tote erreicht waren, kam von ihm kein Wort des Bedauerns oder der Anteilnahme. Er versucht offensichtlich, seinen Namen von der Pandemie zu entkoppeln.

Man könne von Bolsonaro gar nichts anderes erwarten, sagt Calebi Benedito. Der Präsident sei unfähig, Mitgefühl zu empfinden. Der 48-jährige Musiker hat nicht nur seinen Bruder an Covid-19 verloren: Auch ein enger Freund von ihm ist gestorben, ebenfalls Musiker, mit 52 Jahren. «Ein athletischer Typ ohne Vorerkrankungen», beschreibt ihn Benedito. Das Virus forderte auch das Leben des Ehemanns einer Freundin von Benedito. Er war Pastor, erst 48 Jahre alt.

Benedito, ein kleiner und gedrungener Schwarzer Mann, sitzt auf einer Bank in der Favela Conjunto César Maia. Sie liegt weit im Westen von Rio, in einer Region, in der Mafiamilizen das Sagen haben. Er trägt eine Maske, und er setzt sie auch nicht ab, als er für ein Foto posiert. Damit ist Benedito die Ausnahme hier; die meisten Menschen, die auf der Strasse, in Geschäften und Restaurants anzutreffen sind, ignorieren die Maskenpflicht. Nach einem halben Jahr Pandemie herrscht Sorglosigkeit vor.

Von der Stadt ins Hinterland

In Conjunto César Maia wohnt Calebi Benedito bei seiner Schwester und ihrer Tochter, sie teilen sich ein kleines Apartment. Er zog zu ihnen, weil er seine Miete im Zentrum Rios nicht mehr bezahlen konnte. Seit Jahren arbeitete er als Strassenschlagzeuger und verdiente umgerechnet zwischen 15 und 75 Franken pro Tag. Damit gehört er zu den Millionen BrasilianerInnen im informellen Sektor: den StrassenverkäuferInnen, Putzfrauen, Hilfsarbeitern auf dem Bau oder Aushilfen in der Gastronomie, deren Gros die Favelas der Stadt bevölkert.

Den meisten von ihnen brach mit dem Beginn der Pandemie das Einkommen sofort weg. So auch Benedito. Nun erhält er – wie 64 Millionen weitere BrasilianerInnen – eine Nothilfe der Regierung von monatlich 600 Reais, umgerechnet 100 Franken. Zusammen mit Millionen von Lebensmittelpaketen, die von NGOs, Kirchen, Unternehmen und Privatinitiativen unter Brasiliens Armen verteilt wurden und werden, hat diese Nothilfe höchstwahrscheinlich verhindert, dass grösseres Elend und Hunger ausbrachen.

Die Hilfe hat auch dazu beigetragen, dass in Umfragen selbst arme BrasilianerInnen oft angeben, die Regierung Bolsonaros «gut» oder sogar «optimal» zu finden. Angesichts seiner verantwortungslosen Coronapolitik mag das widersprüchlich erscheinen: Bolsonaro hat Covid-19 als «Grippchen» heruntergespielt, das Menschen mit «athletischem Hintergrund» wie ihm nichts anhaben könne. Er hat die Quarantänemassnahmen lokaler Behörden sabotiert, indem er die Bevölkerung dazu aufrief, dem gewohnten Alltag nachzugehen. Und als er dann selbst erkrankte, empfahl er Betroffenen, sich wie er mit dem Malariamittel Hydroxychloroquin zu kurieren.

So befindet sich Brasilien derzeit in einem seltsamen Zwischenzustand. Der Präsident bekommt seinen Willen, das Land macht wieder auf – obwohl die Kurve der Neuinfektionen nicht wesentlich gesunken ist. Seit Monaten sterben täglich rund tausend Menschen an Covid-19. Allerdings hat sich der Schwerpunkt der Pandemie von den städtischen Zentren ins Hinterland der 210 Millionen-Einwohner-Nation verlagert.

Immer öfter trifft man nun auf Menschen wie Calebi Benedito, die Angehörige, FreundInnen oder Bekannte verloren haben oder selbst erkrankt waren, teilweise mit gravierenden Folgen. Manche berichten von andauernden Erschöpfungszuständen oder von Atemnot beim Treppensteigen. Aber die Pandemie hat freilich nicht alle gleichermassen getroffen: Eine im Wissenschaftsmagazin «The Lancet» veröffentlichte Studie kam zum Ergebnis, dass Schwarze (und damit zumeist ärmere) BrasilianerInnen ein weitaus höheres Corona-Sterberisiko haben als weisse. Die WissenschaftlerInnen führen dies auf deren schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem zurück.

Trotz allem werden nun Fabriken, Büros, Restaurants, Geschäfte, Strände, Bars und Sehenswürdigkeiten wieder geöffnet. Es scheint, als ob sich Brasilien an Covid-19 gewöhnt hätte: als ein weiteres unter zahlreichen Gesundheitsrisiken, die man eben jeden Tag eingeht.