Grossveranstaltungen: «Wir sind für die Nähe gemacht»

Nr. 34 –

Wie sehen Konzerte, Festivals und Open Airs in Zukunft aus? Veranstalter Philippe Cornu will möglichst viel Neues ausprobieren, damit die Menschen weiterhin durch gemeinsame Erlebnisse miteinander verbunden sein können.

Zusammen mit FreundInnen – aber schön weit auseinander: Open-Air-Konzert im englischen Newcastle am 11. August. Foto: ddp

WOZ: Philippe Cornu, ab dem 1. Oktober dürfen Grossveranstaltungen wieder stattfinden. Können Sie nun aufatmen?
Philippe Cornu: Weil die lange Zwangspause beendet ist? Ja, auf jeden Fall, und ich sehe das Ganze positiv. Es gibt uns nun die Möglichkeit, kreative und innovative Umsetzungen zu erarbeiten, die ein Livekonzert zu einem schönen und sicheren Erlebnis machen.

Sie haben keine Angst um die Branche?
Grundsätzlich ist es eine schwierige Zeit, aber alles in allem habe ich ein gutes Gefühl: Es geht voran, in die richtige Richtung. Der Austausch unter Veranstaltern, Künstlern und Behörden ist intensiv, und gemeinsam werden wir neue Wege finden.

Was wird sich konkret ändern?
Jeder Event bedingt eine eigene, massgeschneiderte Lösung, sei es eine Sektorenlösung, eine Maskenlösung oder genügend Raum für eine Physical-Distance-Lösung. Ich mag den Begriff «Social Distancing» gar nicht. Sozial sollten wir enger denn je leben, physisch müssen wir uns zurzeit an neue Formen gewöhnen.

Werden diese Änderungen von Dauer sein?
Als Visionär und Prophet kann ich hier sagen … Tja, das kann leider niemand voraussehen! Sicher ist, wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben und uns zu arrangieren. Dies geht nicht mit Jammern, sondern mit konstruktiven Ideen. Sicherheit ist seit jeher ein grosses und wichtiges Thema für Veranstaltungen. Diesen Sommer sieht man sich erstmals einem unsichtbaren Feind gegenüber, mikroskopisch klein, der überall lauern könnte. Dementsprechend müssen auch die Sicherheitsmassnahmen angepasst werden.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Es wird verschiedenste Umsetzungsformen geben. In England wurde ein Festivalgelände mit Fünf-Personen-Sitz-Einheiten gebaut, Essen und Getränke können bestellt werden. Auf der einen Seite ist das doch ganz gemütlich, auf der anderen Seite gibt es jedoch für den Fan die unmittelbare Nähe vor der Bühne vorerst nicht mehr.

Das klingt aufwendig!
Ja, der Mehraufwand ist hoch sowohl für die Infrastruktur wie für die Logistik. Ausserdem steigen die Infrastrukturkosten. Doch wie gesagt, die aktuelle Situation bedingt neue Lösungen. Schaut man das Beispiel von England an, ergibt es Sinn, dass man ein Festivalgelände baut, das den unterschiedlichsten Künstlern Auftrittsgelegenheiten bietet.

Können mit all diesen Massnahmen auch wieder grosse, internationale Festivals stattfinden?
Es ist unser aller Ziel, Lösungen zu entwickeln, die Festivals wieder möglich machen.

Das Risiko einer Ansteckung muss minimiert werden. Gibt es ein Festival ohne Risiken und Nebenwirkungen?
Gibt es ein Leben im Alltag ohne Risiken und Nebenwirkungen? Im Bahnhof, in der Badi, im Supermarkt? Für Events gilt es, die Sicherheitsmassnahmen klar aufzuzeigen und Vertrauen zu schaffen, dass wir alles tun, um die grösstmögliche Sicherheit zu gewährleisten. Und es gilt, die Besucherinnen und Besucher immer wieder für das Thema zu sensibilisieren. Das regelmässige Händewaschen gehört von nun an zu unserem Leben – das hätte es ja schon immer tun müssen. Die drei Begrüssungsküssli und das Händeschütteln sind vorerst mal Geschichte. Dies hat auch positive Aspekte – wir konstatieren in unserer Familie mit Kindern in der Schule, der Tagesschule, dem Kindergarten und der Kita: So gesund waren wir noch nie!

Wie beurteilen Sie neue Kontrollmethoden wie Tracing-Apps oder Temperaturmessungen am Eingang?
Grundsätzlich gilt die Regel, dass alle Massnahmen, die zu höherer Sicherheit führen, zu prüfen sind. Aber der Mensch ist für die Nähe gemacht; gemeinsam Dinge zu erleben, ist uns wichtig. Liveerlebnisse sind einzigartige, nicht wiederholbare Momente, verbindend, beglückend, ein kostbares Gut! Wir Menschen brauchen das Gefühl, durch gemeinsame Erlebnisse miteinander verbunden zu sein.

Dann halten Sie nichts von virtuellen Festivals?
Im Lockdown haben wir alle viel über virtuelle Kommunikation gelernt. In der European Festival Association Yourope waren die Member-Meetings mit über sechzig Teilnehmenden plötzlich via Zoom möglich – zumindest ab dem Zeitpunkt, wo alle wussten, wie man sich stumm schaltet (lacht). Live-Streaming war zu Beginn des Lockdowns ein gutes Mittel, die Welt ausserhalb der eigenen vier Wände zu erreichen, gegen Ende wurde aber auch immer klarer, dass wir alle die physischen Erlebnisse zu vermissen beginnen. Ich weiss von einigen Künstlerinnen und Künstlern, die in eine regelrechte Sinnkrise stürzten und sich nun mühsam wieder aufrappeln.

Diesen Sommer fanden Pedalokonzerte statt. Hier sitzt das Publikum mit Schwimmwesten in Booten. Was halten Sie von dieser Alternative?
Ich finde im Grundsatz jede alternative Umsetzung gut. Wir sind alle in einem grossen Workshop, und je mehr Neues wir trotz Corona ausprobieren, desto besser.

Das machen Sie zurzeit: Im September sind Sie Mitorganisator von sechs «Blausee-Konzerten» im Berner Oberland.
Genau. Die Grundidee war ein schöner Ort, pure Natur, genügend Raum und Luft. Tausend Besuchende pro Konzert, verteilt auf vier Bereiche, mit separaten Zugangswegen, Food-and-Beverage-Angebot und Toiletten. Dies bedingt natürlich auch, dass die Band bereit ist, sechsmal aufzutreten und für weniger Leute zu spielen. Gemeinsam mit den Betreibern des Blausees und der Band haben wir ein machbares Konzept entwickelt. Die Freude ist auf allen Seiten riesig. Büne Huber meinte: «Jetzt wo ich mich auf die kommenden Konzerte vorbereite, merke ich erst mit aller Wucht, wie ich die Liveauftritte vermisst habe!» Die Konzerte sind bis auf wenige Tickets ausverkauft. Dies zeigt klar das Bedürfnis nach einem schönen Liveerlebnis. Das macht Freude. Not macht erfinderisch und lässt Schönes entstehen und geschehen.

Was heisst das konkret?
Es ist das Ertasten einer neuen Form und neuer Formate: Was braucht es, um Sicherheit zu gewährleisten, neben den offiziellen Vorgaben, die ja jede Woche wieder anders klingen? Was, um die anspruchsvollsten Besucher zufriedenzustellen?

Also geht es in Richtung «Blausee-Reihe»?
Open-Air-Umsetzungen sind einfacher in Bezug auf die Möglichkeit, mehr Raum zu schaffen. Zudem ist das Ansteckungsrisiko an der frischen Luft geringer. Es ist also möglich, sowohl schöne Orte wie auch kollektive Stimmungen zu erleben.

Sind Sie zufrieden mit der Rolle der Politik, oder fehlt es an Wertschätzung für die Branche?
Die Problematik liegt offen auf dem Tisch, und die verschiedenen Branchenverbände kämpfen für Lösungen und Unterstützung. Tatsache ist, dass wir im Kulturbereich weiterhin auf Unterstützung angewiesen sind. Viele kämpfen bereits jetzt um ihre Existenz. Und was wäre ein Leben ohne Kultur, Kreativität und Inspiration?

Auch wenn Sie die operative Leitung vor einigen Jahren abgegeben haben: Sie gelten immer noch als «Mister Gurten». Wird das Festival 2021 stattfinden?
Das wünsche ich uns allen, und ich bin davon überzeugt, dass die heutigen Gurten-Macher mit Hochdruck an einer innovativen Umsetzung arbeiten. Eines kann das Festival ja bereits bieten: Viel frische Luft, 865 Meter über Meer, mit viel Raum und Natur. Es wird bestimmt Lösungen geben!

Philippe Cornu

Sie bleiben optimistisch?
Immer.

Der Festivalpionier

Als Philippe Cornu (61) in seiner Jugend die Rolling Stones in Bern auftreten sah, war es um ihn geschehen und sein Lebensprojekt lanciert: Die Organisation von Grosskonzerten und Festivals wurde Beruf und Berufung. 1986 organisierte er sein erstes Festival, das Openair Thun im schönen Schadaupark.

Sein grösstes Baby wurde das Gurtenfestival auf dem Berner Hausberg, das er konzipierte, positionierte und als Chefbooker 28 Jahre lang – bis 2018 – musikalisch prägte. Seit 2017 ist er Mitbegründer und Veranstalter des generationenübergreifenden Seaside Festival in Spiez.

Cornu ist sechsfacher Vater und vierfacher Grossvater und lebt mit seiner Familie in Bern. Seine letzte Errungenschaft auf Vinyl war das aktuelle Album von Bob Dylan, «Rough and Rowdy Ways».