Korruption in Grossbritannien: Boris im Filz

Nr. 34 –

Die britische Regierung pflegt zunehmend eine Klientelwirtschaft, die Freunde und Unterstützerinnen belohnt. Das ist auch eine Konsequenz des autoritären Populismus, den der Premierminister vertritt.

Zugegeben, das House of Lords ist schon von Natur aus ein demokratisches Vakuum, deshalb ist Korruption eigentlich fast schon obligatorisch. Aber kaum jemand hat diesen Umstand so schamlos ausgenutzt wie Boris Johnson vor einigen Wochen.

In der zweiten Kammer des britischen Parlaments sitzen zwei Dutzend Kleriker, über neunzig Abkömmlinge adliger Familien und ein paar Hundert Lords und Ladies, die von verschiedenen RegierungschefInnen ernannt worden sind – denn diesen steht es völlig frei, wen sie für einen Sitz im Oberhaus nominieren. Rund 800 sogenannte Peers sind es derzeit, niemand von ihnen ist gewählt.

Ende Juli ernannte Johnson 36 neue Abgeordnete. Die Auserwählten seien allesamt Leute, die «etwas für die Gesellschaft geleistet» hätten, sagte ein Regierungssprecher. Allerdings sind darunter auffallend viele Leute, die sich einzig dadurch auszeichnen, dass sie der Tory-Partei Geld gegeben haben, in der Brexit-Debatte auf der Seite von Johnson standen oder den Premierminister zum Kumpel haben. Dazu zählt etwa der Milliardär Michael Spencer, dank dem die Tories sechs Millionen Pfund reicher sind. Oder Ian Botham, der früher Cricket gespielt hat und heute ein Brexit-Fan ist. Oder Jo Johnson, Boris Johnsons Bruder.

Undurchsichtige Geschäftsvergaben

Die flagrante Klüngelei hat Schlagzeilen gemacht und selbst bei FreundInnen der britischen Parlamentstradition Stirnrunzeln ausgelöst. Aber sie ist nur das jüngste Beispiel aus einer ganzen Reihe von Regierungsentscheidungen, die stark nach Filzokratie stinken.

Zum Beispiel vergab die Regierung seit Beginn der Coronakrise etliche öffentliche Aufträge auf undurchsichtige Weise. In einem Fall geht es um einen Vertrag zur Überprüfung der regierungseigenen Kommunikationsstrategie während der Pandemie; dessen Wert beläuft sich auf 840 000 Pfund. Anstatt den Vertrag vorschriftsgemäss auszuschreiben und mehrere Angebote zu prüfen, gab die Regierung kurzerhand dem Unternehmen Public First den Zuschlag. Die InhaberInnen dieser Firma pflegen enge persönliche Beziehungen zu Kabinettsminister Michael Gove und Johnsons Chefberater Dominic Cummings. Eine von ihnen hat das Wahlprogramm der Tories im letzten Dezember mitverfasst. Die Kampagne «Good Law Project» hat eine Klage gegen Gove eingereicht, der für den Entscheid verantwortlich ist.

In einem anderen Fall ging ein Vertrag über 32 Millionen Pfund für die Beschaffung von Schutzkitteln an eine kleine Firma, die ein Nettovermögen von knapp 19 000 Pfund und eine Belegschaft von sechzehn Angestellten hat – und die gar nicht auf Schutzkleidung, sondern auf Schädlingsbekämpfung spezialisiert ist.

Auch jenseits der Coronakrise brechen für manche Unternehmen lukrative Zeiten an. Im Januar 2021, wenn die Brexit-Übergangsphase zu Ende geht, tritt beispielsweise eine neue Regelung in Kraft, laut der 260 000 Tonnen Rohrzucker zollfrei nach Grossbritannien eingeführt werden können. Nur gibt es genau ein Grossunternehmen, das diesen Rohstoff importiert: Tate & Lyle, einer der wenigen Konzerne, die den Brexit unterstützt haben, und zudem ein Geldgeber der Tories. Greenpeace hat errechnet, dass der Zuckerimporteur nächstes Jahr 73 Millionen Pfund einsparen wird.

Keine Rechenschaft

Die Tendenz zu Klientelismus und Vetternwirtschaft ist nicht zuletzt eine Folge des autoritären Populismus, den Boris Johnson vertritt. Schon im letzten Jahr hat der Premierminister keine Zweifel daran gelassen, dass er wenig für politische Konventionen übrig hat und jegliche Einschränkungen seiner Macht als lästig empfindet. Da war etwa der Versuch zu Beginn seiner Amtszeit, das Parlament kaltzustellen, um den Brexit-Deal nicht zu gefährden, oder der Parteiausschluss von 21 Tories, die sich gegen seinen Austrittsplan gestellt hatten.

Seit dem Wahltriumph im Dezember ist Johnson entschlossen auf diesem Weg weitergegangen. Immer mehr Entscheidungen werden im kleinen Kreis einiger Vertrauter getroffen. Minister und Beamtinnen, die nicht spuren, können gehen. Das konservative Magazin «The Spectator» spricht von einer «Command and control»-Regierung: Sie befiehlt und kontrolliert. Selbst das Kabinett ist weniger ein Forum für interne Debatten als eine Ansammlung fügsamer Johnson-Fans. Eine entscheidende Rolle kommt dabei Chefberater Dominic Cummings zu, der dem Premierminister stets einflüsternd zur Seite steht und die Fäden der Macht in der Hand hält. Noch nie zuvor hatte ein ungewählter Berater einen so grossen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte.

Wo die Rechenschaftspflicht missachtet wird, gedeiht die Korruption. Eine Regierung, die eine demokratische Kontrolle ihrer Handlungen für überflüssig hält, hat auch keine Skrupel, zwielichtige Deals zu schliessen oder Geldgeberinnen und Freunden Geschenke zu machen. Jede Kritik wird einfach beiseitegewischt, jeder politische Skandal ausgesessen.

Bestes Beispiel ist der Krach um Cummings selbst, als dieser im Frühjahr gegen die Lockdownvorschriften verstiess. Er fuhr von London ins nördliche Durham zu seiner Familie, obwohl er Coronasymptome zeigte – was eindeutig nicht erlaubt war. Der Druck, ihn zu feuern, stieg gewaltig, aber Johnson hielt an Cummings fest. Stur und entgegen jeder Logik behauptete die Regierung, er habe regelkonform gehandelt – das Problem sei vielmehr, dass der Rest des Landes die Regeln falsch interpretiert habe.