Brandy Butler: «Proteste verändern die Kultur wenig»

Nr. 37 –

Aufgeben ist für Brandy Butler keine Option: Die Aktivistin, Musikerin und Performerin ist zwar protestmüde, trotzdem glaubt sie an die Veränderung im Kleinen.

«Wenn ich als ich auf der Bühne stehe, kann ich so richtig funkeln»: Brandy Butler.

«Ich habe mir mein Leben als Aktivistin nicht ausgewählt. Ich bin in dieses Leben geboren. Und ich bin so müde. Mein schwarzamerikanischer Vater, ehemaliger Black Panther, flüsterte mir als Kind zu: ‹Schwarz sein ist magisch. Es hat vieles beeinflusst: Kultur, Musik, Kunst. Brandy, das muss geschützt werden›», sagt Brandy Butler im Scheinwerferlicht im Theater Neumarkt.

Das Publikum sitzt auf Kissen am Boden, Butler steht mittendrin. Sie spielt mit sechs weiteren Darstellenden «Protest 1980». In diesem dokumentarischen Theaterstück bringt der belgische Choreograf Michiel Vandevelde drei Generationen zusammen und verknüpft die Geschichte des Protests – angelehnt an die Zürcher Jugendbewegung – mit den Forderungen aktueller Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter.

«Ich bin protestmüde», sagt Brandy Butler beim Kaffee am Tag vor der Premiere. «Ich mag nicht mehr erklären, dass in der Schweiz Rassismus existiert, ich Rassismus erfahre.» Aktivistin, sagt sie, ist sie, weil sie muss. Nach der Probe der besagten Szene habe sie ein junger Kollege gefragt, ob es schlimm sei, dass ihn Proteste glücklich machten. Sie: «Natürlich nicht. Proteste stärken das Kollektiv. Sie ermutigen, man glaubt an Veränderung. Doch mit vierzig weiss ich auch: Proteste machen Missstände sichtbar, aber verändern die Kultur wenig.» Aufgeben will Butler keinesfalls. Sie fragt sich: Wie weiter? Mit welchem Ziel? Proteste sind wie Brandlöschen: «Erfährt man Unterdrückung, bleibt keine Zeit, Ziele zu definieren. Man muss sich wehren.»

Einstehen für Gerechtigkeit

Brandy Butler wächst mit Aktivismus auf. Mit ihrer weissen Mutter geht sie an feministische Kundgebungen. Von ihrem afroamerikanischen Vater wird sie politisiert. Sie verinnerlicht es, stets mutig für Gerechtigkeit einzustehen.

Sie wächst mit einem Bruder und einer Halbschwester im US-Bundesstaat Pennsylvania auf, zum Teil gleichzeitig mit fünf Pflegegeschwistern. Über die Jahre werden es dreissig Pflegegeschwister aus dem Heim oder dem Gefängnis, «Teenage-Boys, die niemand wollte». In der Familie sind das Theaterspielen und Musizieren zentral. Butlers Eltern leiten ein Laientheater. «Mitmachen und die Gemeinschaft stärken, das zählte», sagt sie: «Damals sah ich das Theater nicht als Kunstform, um Diskurse zu setzen. Heute frage ich mich jedoch je länger, je mehr: Mag ich dieses Theater überhaupt? Die professionellen Häuser ziehen ein elitäres Publikum an. Die Werke bilden kaum gesellschaftliche Diversität ab.»

Anders beim Neumarkt. Hier hat Butler ihr Zuhause gefunden: «Wenn ich als ich auf der Bühne stehe, kann ich so richtig funkeln.» Die Intendanz entdeckte Butler an den Münchner Kammerspielen in einer Inszenierung von Christopher Rüping. Jetzt spielt sie am Neumarkt als festes Ensemblemitglied in der zweiten Saison. Als Musiklehrerin befindet sie sich zurzeit in einem Sabbatical.

Neben dem Neumarkt performt Brandy Butler in weiteren Formationen. Mit dem Format «Drag Queen Story Time» vermittelt sie mit Dragqueens oder Dragkings Kindern die Vielfalt von Geschlechtern und ihren Ausdrucksformen. Für das diesjährige Festival «Zürich Tanzt» inszenierte Butler das Stück «Avoir du Pois». Darin erforscht sie ihren Körper in Bezug auf Raum und Materie. Sie fragt: «Warum legen wir so viel Gewicht auf das Gewicht?»

In der Schweiz macht sich Brandy Butler als Musikerin einen Namen. In ihren Anfängen ist sie Backgroundsängerin unter anderem bei Philipp Fankhauser, Rolf Stalhofen, Paulo Mendonça, Phenomden. Eines Tages bekommt sie einen Anruf: Ob sie Florian Ast kenne und Bärndüütsch singen könne. «Damals verstand ich nicht alles. Ich imitierte, was ich hörte.» Nach der Tour mit Florian Ast folgen Projekte mit weiteren Grössen wie Sophie Hunger und Steff la Cheffe.

Die Musik ist wie das Theater prägender Teil ihrer Kindheit. Mit ihrem Vater singt sie Jazz und Soul. Er unterrichtet sie in Harmonielehre. Mit ihrer Mutter, die ein Musicalfan ist, besucht sie regelmässig die Shows am Broadway. «Meine Mutter lehrte mich den verspielten, mein Vater den realistischen Zugang zum Leben. Sie beide machten mich zur Musikerin, Performerin, Aktivistin, die ich bin.»

Nach dem Studium der Jazzquerflöte in Philadelphia unterrichtet sie dort Musik an Primarschulen – obwohl sie nie wie ihre Eltern werden will. Jazzmusikerin war jedoch keine Option mehr – das Studium hatte den Jazz entzaubert. «Ich war eine von zwei Frauen. Musste mich unterordnen in einer misogynen Welt.» Nach ein paar Jahren Unterrichten muss Butler Zysten an den Stimmbändern entfernen – nach der Operation lernt sie das Sprechen neu. Da sie nicht mehr unterrichten kann, zahlt ihr die Schule eine Abfindung. Butler will nach Europa, «aber mit einem ‹purpose›».

Über eine Au-pair-Vermittlungs-Website kontaktiert die 24-Jährige 2003 eine Familie mit drei Kindern aus Bonstetten. «Sie sagten, dreissig Minuten von der Stadt entfernt. Ich dachte: In Philadelphia ist das noch Stadt.» In Bonstetten weiss sie: Hier ist das Nirgendwo. An Open-Mic-Abenden in Zürich knüpft sie Kontakte, bekommt Aufträge als Backgroundsängerin. Daneben komponiert sie ihre eigene Musik und beginnt ein Studium der Musikpädagogik an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), das sie 2011 abschliesst, um wieder zu unterrichten. Im selben Jahr kommt ihre Tochter Ruby zur Welt. Schliesslich wird Butler durch die Fernsehcastingshow «The Voice of Switzerland» 2012 schweizweit bekannt.

Blickt man auf die Karriere dieser eigenwilligen Künstlerin, wirkt «The Voice» wie ein Ausreisser. Zu gewinnen sei nie ihr Ziel gewesen, sagt sie heute. Die Sendung sollte als Sprungbrett dienen. Dennoch wurmte sie ihr Ausscheiden im Finale. «Ich bin eine schlechte Verliererin. Mein Perfektionismus setzt mich unter Druck.» Doch das Finale lieferte ihr eine Erkenntnis. Für das Duell mit Nicole Bernegger wurde Butler beim Singen zum Schreien gepusht, obwohl sie nicht wollte. Sie denkt schon damals: Fühlt man den Text, muss man nicht schreien; und fragt sich: Wer bin ich, wenn andere über meinen Gesang bestimmen?

Musikalische Selbstfindung

Ihre Stimme findet sie schliesslich ohne «The Voice»: Ihr Soloalbum «The Inventory of Goodbye» wird 2017 zum Meilenstein musikalischer Selbstfindung. Die Kritiken sind berauschend. Der innere Prozess für dieses Album beginnt 2012 mit dem Diplomprojekt an der ZHdK, wo sie «überehrliche Jazz-Standards» adaptiert und die Sexualität darin thematisiert. «Ich fasste den Mut, zu mir zu stehen.» Während das Album reift, verarbeitet Butler zwei Trennungen, findet bei einem Roadtrip durch Kalifornien mit ihrer Tochter und einem Freund Inspiration in der Mojave-Wüste.

«Es ist schwer, das Bild der schwarzamerikanischen Sängerin, die stark ist, abzulegen. Die Menschen sehen, was sie wollen, nicht, wer ich bin. Auch ich bin verletzlich. Und um das zu zeigen, muss ich nicht schreien. Lange nach ‹The Voice› bekam ich Reaktionen wie: Brandy, du kannst mehr ‹usefetzä, das hast du in dir.» Es sind tief verinnerlichte Bilder der Popkultur. Ähnlich verhält es sich für Butler mit rassistischen Vorurteilen, die sich nur langsam wandeln. «Endlich befasst sich die Schweiz mit ihrer kolonialen Vergangenheit. Von der wusste ich, bevor ich hierherkam.» Die damalige Schweiz hat sich in ihren Augen gewandelt.

An den Black-Lives-Matter-Demonstrationen überwältigte Brandy Butler, wie viele junge People of Color in der Schweiz sichtbar wurden. Insofern glaubt sie, dass die Bewegung zumindest im Kleinen Veränderung bewirkt – und sie ist überzeugt, dass auch ihre Arbeit als Künstlerin, Pädagogin und Aktivistin einen Beitrag dazu leistet.

Brandy Butler ist bis am Samstag, 12. September 2020, im Stück «Protest 1980» am Theater Neumarkt in Zürich zu sehen und am Sonntag, 27. September 2020, im Schlachthaus Theater Bern mit «Drag Queen Story Time».