Containering-Prozess: Ein Freispruch – und eine Enttäuschung

Nr. 37 –

Zwei Männer standen am Dienstag in Bern vor Gericht, weil sie in einem Migros-Anhänger beim Containern verhaftet wurden. Vor Gericht hofften die beiden vergeblich auf einen Präzedenzfall.

Sie retten Lebensmittel, um auf die fatalen Folgen der Wegwerflogik aufmerksam zu machen: Die beiden Mülltaucher Mikosch Loutsenko und Daniel Nacht.

Am 26. Mai 2019 wurden Daniel Nacht (26) und Mikosch Loutsenko (24) gegen zwei Uhr nachts in einem Lastwagenanhänger der Migros Köniz in Bern von Beamten verhaftet. Im Strafbefehl gegen den angehenden Sozialarbeiter und den Kulturschaffenden steht, die beiden Männer hätten es «besonders auf die weggeworfenen Lebensmittel im Lastwagen abgesehen», sie hätten «containtert» – oder zu Deutsch Mülltauchen betrieben.

Wem gehören Lebensmittelabfälle?

Der Fall, der am Dienstag vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland verhandelt wurde, ist nicht nur aufgrund des vermeintlichen Tatbestands skurril. Die Migros-Genossenschaft Aare hatte sich nach Einreichung der Anzeige per Prozessverzicht aus der Anklage herausgenommen und machte somit auch keine finanziellen Ansprüche gegenüber den Angeklagten geltend. Da Diebstahl ein Offizialdelikt ist, übernahm der Staat die Rolle des Klägers. «Anscheinend ist die Migros nicht interessiert daran, unsere Beweggründe zu erfahren», sagte Loutsenko in seinem Plädoyer. Gegenüber der WOZ wollte sich die Medienstelle der Migros nicht zum Fall äussern. Im Gerichtssaal sahen sich die beiden jungen Männer lediglich Einzelrichterin Bettina Bochsler gegenüber.

In der Schweiz fehlt bislang ein Präzedenzfall zum Thema Containern, wie man das Suchen und Verwerten von weggeworfenen Lebensmitteln auch nennt. Anders sieht es in Deutschland aus: Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wurden Ende August zwei Frauen schuldig gesprochen, die sich an weggeworfenem Essen bedient hatten. Im Schuldspruch heisst es hierzu: «Der Gesetzgeber darf das zivilrechtliche Eigentum grundsätzlich auch an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen.» Ein ähnlich deutliches, jedoch positives Verdikt erhofften sich die beiden Berner Angeklagten auch für die Schweiz.

Mit Überfluss wirtschaften

Loutsenko und Nacht bereiteten sich lange und akribisch auf den Prozess vor, sprachen mit Klimaaktivistinnen und Umweltexperten. «Wir wollen diesen Prozess nutzen, um auf die fatalen Folgen dieser Überfluss- und Wegwerflogik aufmerksam zu machen», erzählt Loutsenko am Tag vor dem Prozess. Und Nacht doppelt nach: «Es herrscht weltweiter Klimanotstand, da kann es doch nicht sein, dass die Justiz an uns zwei ein Exempel statuieren möchte, weil wir möglicherweise weggeworfene Lebensmittel retten wollten.» Die beiden Männer betonen immer wieder, es gehe hier nicht um sie, sondern um die Sache. Der Gerichtssaal soll zur Bühne für ihr politisches Anliegen werden.

Am Dienstagnachmittag vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland weichen die beiden Männer den Fragen der Richterin aus und verweisen bei jeder Gelegenheit auf die Notwendigkeit, Lebensmittelverschwendung zu stoppen. «Containern ist dabei nur die Ultima Ratio», hält Nacht fest. Die Migros-Genossenschaft Aare brüste sich zwar mit ihren Initiativen gegen Foodwaste, etwa der flächendeckenden Nutzung der App Too Good to Go. Doch das sei reine Symptombekämpfung. «Und mithilfe solcher Angebote soll noch das letzte bisschen Profit aus den Produkten gequetscht werden.» Auch Nachts Anwältin plädiert für einen Freispruch basierend auf dem herrschenden Klimanotstand. Einem Notstand, der so gravierend sei, dass er eine geringfügige potenzielle Straftat wie den Diebstahl von Lebensmitteln rechtfertige.

Doch der erhoffte Grundsatzentscheid blieb am Dienstag aus. Die Richterin sprach die beiden Angeklagten zwar frei – nicht jedoch aufgrund moralischer Argumente, sondern aus rein formalistischen Gründen: Sie begründete den Freispruch mit dem geringen Warenwert, der hypothetisch aus den Containern zu entwenden gewesen wäre. Da der Migros-Anhänger in jener Nacht ungekühlt und unverschlossen war, sei davon auszugehen, dass sich darin keine wertvollen oder frischen Waren befunden hätten. Zudem trugen die beiden Männer bei ihrer Festnahme nur kleine Rucksäcke mit wenig Platz für potenzielles Diebesgut auf sich.

Bei einem Warenwert von unter 300 Franken wird ein Diebstahl zum «Übertritt» heruntergestuft. Die Männer jedoch hatten bei ihrer Verhaftung noch nicht einmal Waren aus den Containern auf sich gehabt. Damit lautete der Tatbestand «versuchter Übertritt» – und ein solcher ist nicht strafbar.

Kein Zugeständnis

«Strafrechtlich gesehen hat der Berg eine Maus geboren», resümierte die Einzelrichterin nach der Urteilsverkündigung. Daniel Nacht und Mikosch Loutsenko wiederum waren zwar erleichtert, aber auch ernüchtert. Zuvor hatte Loutsenko gesagt: «Natürlich hoffen wir auf einen richtungsweisenden Entscheid in Sachen Containern. Aber auch das kleinste Zugeständnis der Richterin, etwa die Anerkennung des herrschenden Klimanotstands, wäre ein Erfolg für uns.»

Dieser Erfolg blieb den Männern jedoch verwehrt. Und auf einen richtungsweisenden Gerichtsentscheid zum Thema Containern werden MülltaucherInnen in der Schweiz nun weiter warten müssen.