«Effy29»-Prozesse: Nicht mitgefangen
Damit hat niemand gerechnet: Alle sechzehn Angeklagten, die im Zusammenhang mit der Räumung eines besetzten Hauses in Bern vor Gericht sassen, sind vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Beamte freigesprochen worden. Schuldig sind sie des Hausfriedensbruchs – die von der Staatsanwaltschaft beantragte Haftstrafe von bis zu zwölf Monaten muss niemand von ihnen absitzen.
Im Dezember 2016 hatte das Kollektiv «Oh du Fröhliche» das Haus an der Effingerstrasse 29 besetzt; bei der Räumung durch die Polizei zweieinhalb Monate später verteidigten sich einige der im Haus verbliebenen BesetzerInnen, bewarfen die PolizistInnen mit Gegenständen und zielten mit Feuerwerk auf sie. Allerdings – und das ist es, was Richterin Bettina Bochsler veranlasste, die Angeklagten freizusprechen – war es nicht klar, wer im Haus tatsächlich an der Gewalt gegen die Einsatzkräfte beteiligt war. «Mitgegangen, mitgefangen», so sage der Volksmund, meinte der Anwalt eines Polizisten vor Gericht – das liess Bochsler nicht gelten. Sie kritisierte vielmehr das Vorgehen der Polizei: Hätte diese den BesetzerInnen eine Frist gegeben, in der sie das Haus hätten verlassen können, wäre es leichter gewesen, die tatsächlich gewaltbereiten ausfindig zu machen. Sie liess sich aber auch die Moralpredigt an die BesetzerInnen nicht nehmen: Gewalt sei nie ein legitimes Mittel, auch nicht von linker Seite und egal gegen wen sie gerichtet sei.
Das Urteil vom 17. Juni stösst beim kantonalen Polizeidirektor Philippe Müller auf Unverständnis: Offenbar seien in Bern Tiere besser geschützt als Einsatzkräfte der Polizei, liess er gegenüber MedienvertreterInnen verlauten. Aber darum geht es nicht: Richterin Bettina Bochsler hat die Unschuldsvermutung ernst genommen und auf Willkür verzichtet.
Im Umfeld des Prozesses war es zu diversen Solidaritätsbekundungen für die Angeklagten gekommen – von Demonstrationen über Scheinbesetzungen bis zu gemeinsamen Essen: So hat der Prozess schliesslich auch zum Zusammenhalt innerhalb der Szene beigetragen.
Nachtrag vom 18. Januar 2024 : Effy-Besetzer:innen – keine Kollektivstrafe
Der Gerichtssaal des Berner Obergerichts gleicht einem Verlies. Das Tiefparterre ist nur über ein enges, weitverzweigtes Treppen- und Flurlabyrinth erreichbar. Wer hier am Donnerstag letzter Woche zur Verhandlung geladen war, musste mehrere Polizisten passieren, die im und vor dem Eingang des Gerichts postiert waren – man markierte Präsenz. Anberaumt war die Urteilsverkündung im Verfahren gegen die ehemaligen Besetzer:innen der «Effy29».
Fast sieben Jahre ist es schon her, seit die Polizei gummischrotend und pfeffersprayversprühend das besetzte Gebäude an der Effingerstrasse in Bern stürmen wollte und dabei auf Gegenwehr stiess: Feuerwerk wurde gezündet, Gegenstände flogen. 2021 verurteilte das Regionalgericht Bern-Mittelland alle sechzehn Personen, die damals im Haus waren, wegen Hausfriedensbruch – sprach sie aber vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Beamte frei: Es konnte nicht bewiesen werden, wer was getan hatte. In der Folge wurde die Gerichtspräsidentin scharf kritisiert, die Staatsanwaltschaft und zwei Polizisten zogen das Urteil weiter. Doch das Obergericht hatte es mit der genau gleichen Beweislage zu tun, folgerichtig bestätigten Gerichtspräsident Jean-Pierre Vicari (SVP) und sein Kollegium das Urteil: nicht schuldig der Gewalt und Drohung gegen Beamte, schuldig des Hausfriedensbruchs – bedingte Geldstrafen, zwei Jahre Probezeit und die Übernahme eines kleinen Teils der Gerichtskosten.
Die ehemaligen Effy-Besetzer:innen atmeten hörbar auf, die sechzehn Anwält:innen blieben ungerührt, als hätten sie mit nichts anderem gerechnet. Das Urteil war auch eine Absage an die Berufungslust der Staatsanwaltschaft, die für Besetzer:innen praktisch eine Kollektivstrafe gefordert hatte. «Unerträglich» wäre es, sagte der Richter, eine unschuldige Person fälschlich zu verurteilen. Ob sich Einzelne von den «Gewaltanwendungen» anderer hätten distanzieren können, wie es die Anklage behauptet hatte, sei «eher fraglich», es sei unübersichtlich gewesen, die Sicht schlecht, es habe ein «ohrenbetäubender Krach» geherrscht. Und als Bewohner:in in so einer Situation die Polizei anzurufen, sei auch schwierig – «wenn sie ja schon da ist».