Nein zur SVP-Initiative: Für ein Land von Welt
Fast traut es sich niemand mehr zu sagen. Lieber reden alle von den Kampfjets, vom Vaterschaftsurlaub oder vom bösen Wolf. Fast traut es sich niemand mehr auszusprechen. Lieber lobt man die Wirtschaft, den Wohlstand, die flankierenden Massnahmen.
Dabei könnte man es doch in diesem Moment, in dem die SVP-Müdigkeit spürbar ist wie selten, auch offensiv ausrufen: dass die Personenfreizügigkeit etwas vom Besten ist, was diesem Land passieren konnte. Dass am 27. September eine fundamental wichtige Abstimmung darüber stattfindet, ob sie aufgekündigt wird. Mehr noch: Die SVP will sogar in die Verfassung schreiben, dass die Schweiz in Zukunft keinen Vertrag über einen freien Personenverkehr mehr abschliessen kann – mit keinem Staat der Welt.
Die Begrenzungsinitiative stellt damit nichts weniger als einen Grundsatz der modernen Schweiz infrage. Bereits in der ersten Verfassung von 1848 war festgehalten: «Gegen die auswärtigen Staaten besteht Freizügigkeit, unter Vorbehalt des Gegenrechts.» Ausgerechnet die Personenfreizügigkeit, die ihre internationalen Beziehungen seit den Gründungstagen festigt, soll sich die Schweiz nun selbst verbieten. Wenn die SVP behauptet, die Schweiz nehme mit der Initiative die Steuerung der Migration wieder in die eigene Hand, so ist das Gegenteil richtig: Sie gibt das beste Mittel preis.
In den letzten beiden Jahrhunderten, in den verschiedenen Phasen der Öffnung und der Schliessung der Grenzen, hat sich nämlich gezeigt, dass die Personenfreizügigkeit allen anderen Formen der Regulierung der Migration weit überlegen ist. Wann immer der Staat die Einwanderung mit Kontingenten selbst steuern wollte, kamen nicht weniger Leute als in den Phasen mit Freizügigkeit. Die Leute hatten einfach weniger Rechte und liessen sich als Arbeitskräfte leicht ausnutzen. Einzig darum geht es dem Milliardärsclan der Blochers, und sicher nicht um teure Wohnungen, volle Züge oder schöne Wiesen, wie ihre Propaganda behauptet.
Seit sich die Schweiz nach dem Ende des Kalten Krieges aus dem mentalen Zivilschutzbunker wagte und mit der Europäischen Union die bilateralen Verträge unterzeichnete, wurde sie zu einer vielstimmigen Gesellschaft, einem Land von Welt: dank der Personenfreizügigkeit mit der EU, der leider oft zu restriktiven Aufnahme von Geflüchteten vom Jugoslawien- bis zum Syrienkrieg – und nicht zuletzt dank der zahlreichen binationalen Ehen von SchweizerInnen rund um den Globus.
Dass die Gestaltung der Vielfalt auch für Friktionen sorgt, wird niemand ernsthaft bestreiten. Dass sie in den letzten Jahrzehnten trotzdem erfolgreich gelang, lag kaum an den politischen Parteien, sondern an der täglichen Arbeit in den Schulen und den Betrieben. Und eben an der Tatsache, dass viele MigrantInnen keine rechtlosen Subjekte mehr waren wie in der düsteren Zeit des Saisonnierstatuts. Wenn die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft noch besser gelingen soll, dann brauchen die MigrantInnen mehr Rechte, nicht weniger.
Ein möglichst deutliches Nein zur SVP-Initiative kann deshalb einen Aufbruch bedeuten, um bestehende Unsicherheiten zu beheben. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, ist eine der grössten Bedrohungen für MigrantInnen die unleidige Verknüpfung von Aufenthaltsrecht und Sozialhilfe. Hunderttausende, darunter viele alleinerziehende Eltern und Kinder, leben in der ständigen Gefahr, ausgewiesen zu werden, wenn sie in die Armut rutschen. Ein Risiko, das sie ausgerechnet in der Coronazeit davon abhalten kann, Fürsorge zu beanspruchen. Dieser Krieg gegen die Armen muss gestoppt werden (vgl. «Ein Plan, so simpel wie gnadenlos» ).
Am wichtigsten aber bleibt ein vereinfachter Zugang zum Bürgerrecht. Nur dieser wird die andauernde Spaltung der Gesellschaft in «SchweizerInnen» und «AusländerInnen» längerfristig aufheben. Wie gravierend das Demokratiedefizit der Schweiz mittlerweile geworden ist, zeigt sich daran, dass am 27. September 5,4 Millionen Stimmberechtigte über 1,4 Millionen EU-BürgerInnen befinden, die mit und neben ihnen arbeiten, wohnen und leben.