Europäische Flüchtlingspolitik: «Um welche Uhrzeit kommt die Freiheit?»
Seit Tagen harren Tausende Menschen zwischen dem abgebrannten Lager Moria und der Hafenstadt Mytilini aus. Die Angst wächst, dass alles wieder von vorne beginnt.
Bevor Asef Taheri das Gedicht vorliest, schliesst er kurz die Augen. «Ich habe in dieser Nacht mit dem Mond gesprochen», liest er vom Handy ab. Die Mittagshitze macht die Zunge langsam. «Er gab keine Antwort», sagt er leise auf Farsi. Über 2500 Gedichte hat Taheri bis jetzt geschrieben. «Es ist mein Fenster in die Welt, jenseits des Horrors.»
Die Olivenbäume hinter ihm rahmen den Blick auf das verkohlte Lager Moria ein. Nach dem Feuer hat Taheri mit seiner und sechs weiteren afghanischen Familien bei einer kleinen Kapelle Zuflucht gefunden. Jetzt ist es still geworden. «So ruhig war es hier bestimmt seit vier Jahren nicht», sagt sein sechzehnjähriger Sohn Yaser. «Zum ersten Mal höre ich sogar die Grillen.»
Jeden Tag mehr Verzweiflung
Während etwa 10 000 Menschen zwischen zwei Polizeisperren auf dem Asphalt eingekesselt sind, hat Familie Taheri zumindest noch Schatten und Wasser. Sie können die acht Kilometer in die Stadt durch die Olivenbaumfelder laufen, um Essen oder Medikamente zu holen oder das Handy zu laden.
Seit dem Brand hat Asef Taheri nicht mehr geschrieben. Nachts wacht er, tagsüber schaut er auf die verstaubten Wege. «Erst vor einer Stunde kam eine Gruppe Männer auf Motorrädern über die Berge», sagt Yaser, «sie hatten Schlagstöcke aus Metall bei sich.» Sie wiesen die Familien an, die Gegend um die Kapelle innert einer Stunde zu räumen. Yaser lacht und schiebt seine Maske zurecht. Der Staub bildet zwei Halbmonde unter seinen Augen. «Ja, aber wohin denn? Gehen wir in das neue Lager, wird es dort auch keine Schule, keinen normalen Morgen, keine Zukunft geben.»
Schon jetzt ist es schwierig, als Journalistin zu den Menschen vorzudringen, die nach dem Brand abermals zu Vertriebenen wurden. Drei Tage hintereinander blockiert die griechische Polizei die Presse «aus Sicherheitsgründen», «wegen einer Militäroperation» oder einfach nur «auf Befehl». Hinter der Polizeibarrikade laufen immer mehr Frauen, Männer und Kinder mit Pappschildern auf der Strasse umher. Daneben liegen die Familien unter Bambuswedeln oder Planen, die sie zum Schutz vor der Sonne aufgespannt haben. Wasserkocher, Shampoo oder Medikamente sind im Feuer verbrannt.
Toiletten gibt es keine. Die Menschen müssen sich unter den Blicken von Tausenden in den Feldern wegducken, um ihre Notdurft zu verrichten. Mütter waschen ihre Kinder zum ersten Mal nach Tagen an einem Wasserhahn an der geschlossenen Tankstelle, die neben dem Lidl liegt. Am Montag versperrt die Polizei auch hier den Zugang.
«Sollen wir sterben?», schreit eine Frau aus der demonstrierenden Menge. Schon vor dem Brand waren die 12 600 Menschen von Moria über 170 Tage im Lockdown fast vollkommen auf sich allein gestellt. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen musste ihr Isolationszentrum für Covid-19-VerdachtspatientInnen nahe Moria im Juli schliessen, da die Klinik gegen die Stadtplanungsverordnung verstossen haben soll.
Somit konnten die Menschen seit dem 22. März keine Medikamente in Apotheken kaufen, keine Prothesen bei der Orthopädie beantragen, nicht zum Gynäkologen oder in die Schule gehen, sich nicht beim Sport auf Fussballplätzen ablenken. Selbst der Weg zum Meer war versperrt. Mit dem ersten Coronafall vor zwei Wochen wurde das Lager komplett abgeriegelt. Die Verzweiflung stieg mit jedem Tag ein Stück mehr.
Tränengas und Schreie
Die behelmten Polizisten nehmen ihre Schilde auf, dann knallt es. Tränengas. Die Menschen rennen kreuz und quer über die Strasse vor dem Lidl. Pappschilder fallen zu Boden. Schreie. Wir klettern über die Olivenbaumfelder, um an der Polizeiabsperrung vorbeizukommen. Diese Bilder sollen es nicht in die Zeitungen schaffen. Viele Menschen brechen zusammen, sind dehydriert – schon morgens um zehn Uhr ist es über dreissig Grad. Die Polizei läuft zwischen den Filzdecken hindurch, schmeisst immer wieder Tränengas in die Menge.
Auf einem Parkplatz neben der Demo sitzt ein elfjähriger Junge aus Afghanistan mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Er stemmt sich auf die Arme und bedeutet mir, mich neben ihn zu setzen. «Wir wollen kein Essen, kein Trinken», sagt er. Seine Augen sind von Falten umkränzt, das Gas frisst sich in die Tränendrüsen, doch er fixiert mich fest. «Wir wollen Freiheit», sagt er, als sässe er an einem Verhandlungstisch. «Wenn wir schlafen, brennt es, wenn wir wach sind, gibt es Krieg.» Immer mehr Kinder setzen sich neben ihn. Auch seine Mutter kommt dazu. So sitzen wir alle eine Weile im Krach und Rauch, bis er fragt: «Um welche Uhrzeit kommt die Freiheit?»
Nach einer kurzen Unterbrechung nach dem Brand hat die Kinder- und Jugendklinik wieder ihre Tore geöffnet. Hier und in einer Klinik in Mytilini behandeln die Teams schon seit mehreren Jahren Kinder und Überlebende von Folter und sexualisierter Gewalt. Doch nur noch wenige kommen zu den ÄrztInnen durch. Nachdem auch kaum mehr JournalistInnen durchgelassen werden, kommen einige Menschen angerannt, um nachzufragen, ob man Ärztin sei.
Nach sechs Tagen auf der Strasse, im Tränengas, ohne ausreichendes Essen und Wasser brauchen fast alle medizinische Betreuung. Wegen des enormen Bedarfs hat auch Ärzte ohne Grenzen in einer Lagerhalle neben der abgesperrten Strasse eine Notfallklinik eingerichtet, so nah wie möglich an jenem Ort, an dem die meisten Menschen auf Pappdeckeln, Blättern oder dem blossen Asphalt ausharren. Eine Gruppe Frauen steht in der Dämmerung auf einem der Warenhäuser. Ihr Blick geht hinunter auf die brüllende Strasse. Eine junge Afghanin hält ein Schild in die Luft: «Es ist besser, für die Freiheit zu sterben, als den ganzen Tag und das ganze Leben in einem Gefängnis zu sein.»
Nicht weit hinter den Industriefeldern fahren die Bagger auf und ab. Das neue Camp wird auf einem Schiessübungsplatz des Militärs gebaut. Matratzen und Zelte haben Helikopter schon am Tag zuvor geliefert, die Inselbevölkerung hatte sich in den Stunden nach dem Feuer gegen die Evakuierung in zwei Notfalllager in der Mitte der Insel gesperrt. Bis Dienstagabend soll das neue Lager Platz für 6000 Menschen haben.
In der Schlange befinden sich bereits die ersten Menschen, die freiwillig in das geschlossene Camp gehen. Die meisten von ihnen sind aus Somalia. Dazwischen steht Basham H. aus Burundi. Aus seinem T-Shirt ragt ein Kugelschreiber, den kleinen schwarzen Rucksack hat er fest um den Rücken gezurrt. Er sieht aus, als würde er vor dem Mathematikhörsaal auf die Vorlesung warten. Seit einem Jahr ist er in Moria.
Als sein Fluchtstatus anerkannt wurde, musste er das Lager innerhalb von wenigen Tagen verlassen. «Damit hatte ich gar keinen Rechtsanspruch mehr auf Versorgung», sagt er. Ein Mann von der Geheimpolizei kommt in Zivil auf uns zu und sagt, wir sollten aufhören zu sprechen. Ein Vorgeschmack darauf, wie es in den nächsten Wochen aussehen wird, wenn die über 12 000 Geflüchteten tatsächlich alle dort unterkommen werden?
Niemand darf ausreisen
Auch nach einem Jahr bleibt Basham H. ohne AnsprechpartnerInnen, ohne rechtliche Beratung, ohne Hygiene, Sprachkurse oder die Möglichkeit, zum Arzt zu gehen. So wie ihm geht es Tausenden: Immer mehr Menschen, die es nach Athen geschafft haben, landen in der Obdachlosigkeit, seit die griechische Regierung entschieden hat, dass Menschen mit anerkanntem Fluchtstatus die Flüchtlingsunterkünfte nach dreissig Tagen verlassen müssen. Einige von jenen, die auf dem Festland sind, wollen sogar wieder zurück nach Moria. «Wir können nur hoffen, dass auf dieser Asche nicht von Neuem ein System der Abschreckung aufgebaut wird», sagt Marie von Manteuffel von Ärzte ohne Grenzen. Doch die Regierung hat bereits klargestellt, dass sie ausser den 406 Minderjährigen, die nach dem Feuer evakuiert wurden, keinen einzigen Geflüchteten aus Lesbos ausreisen lassen will.
Obwohl die Untersuchungen zur Ursache des Feuers noch laufen, hatte der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis von Anfang an eine Theorie: «Es besteht kein Zweifel, dass Moria von einigen hyperaktiven Flüchtlingen und Migranten verbrannt wurde, die die Regierung erpressen wollten, indem sie Moria niederbrennen und ihre sofortige Umsiedlung von der Insel fordern.» Die Hoffnung der Menschen auf Sicherheit schwindet immer mehr. Was bleibt, ist die Panik, dass alles wieder von vorne beginnt.
Beim neuen Camp laufen die ersten Frauen am stacheldrahtbewehrten Eingang vorbei, um sich nach der Registrierung in einem Zelt auf Covid-19 testen zu lassen. Die Reifen der Militärfahrzeuge daneben sind fast so gross wie sie selbst. Hunderte Soldaten stehen aufgereiht dahinter und schauen gespannt auf das Meer und die schneeweissen Zelte, als gäbe es gleich ein Feuerwerk.
Ein paar von ihnen lehnen an Sandsäcken und zusammengerollten UNHCR-Planen und warten auf ihre Ablösung. Der Wind trägt das grelle Quietschen der Baggerschaufel über die Köpfe. «Wie heisst das eigentlich hier?», fragt eine Frau aus Somalia. Neben ihr zieht ein Kind das T-Shirt aus, läuft zu den zwei anderen Kindern ans Ufer, vor dem die Soldaten stehen, und springt ins Wasser. Keiner sagt etwas. Solange es noch keinen Namen gibt, ist es noch nicht wahr.