Lesbos: Stacheldraht statt Therapie
Das lokal verwaltete Familienlager Kara Tepe bot eine menschenwürdige Alternative zum berüchtigten Moria. Nun haben die Behörden es geschlossen, und die besonders schutzbedürftigen Menschen landen in einem von der EU finanzierten Hochsicherheitslager.
«Halte mich vorne am T-Shirt fest», sagt Khaled Alafat zu seinem Cousin, der ihn beim Lauftraining im bunten Behandlungscontainer von Fabiola Velasquez stützt. Zitternd setzt Alafat den rechten Fuss nach vorn. Er trägt Knieschoner. Gleich neben dem Container zieht eine Familie einen Koffer den Spielplatz entlang. Sie sind unter den ersten, die das Lager verlassen – aus Angst, bald in das grosse Camp nebenan transferiert zu werden.
An diesem 21. April leben noch 400 Menschen in Kara Tepe. Bis zu 1300 besonders schutzbedürftige Familien konnten in den letzten Jahren in dem von der Stadt Mytilini verwalteten Lager auf der ägäischen Insel Lesbos eine menschenwürdige Unterkunft finden. «Dass du mir nicht aufhörst zu üben», sagt Velasquez. Sie droht lachend mit dem Zeigefinger. «Immer, Boss», sagt Alafat.
Seit 2019 hat die Chilenin in Kara Tepe mit Überlebenden von Folter und schweren Traumata in einer ganzheitlichen Physiotherapie zusammengearbeitet. Für Velasquez und ihren Patienten Khaled Alafat ist dieser Vormittag im April eine der letzten Trainingseinheiten.
Über zwei Stunden am Tag trainiert der 33-Jährige, fast sein ganzer Körper ist spastisch beeinträchtigt. Dabei helfen ihm auch seine beiden Cousins, die den gleichen Weg aus Syrien genommen haben wie er. Einer von ihnen liegt mittlerweile selbst auf dem Behandlungstisch im Nachbarcontainer vor Velasquez. An der Innenseite seines rechten Oberarms hat sich ein tennisballgrosser Furunkel gebildet. Es sei die zweite Entzündung binnen drei Wochen.
Der Stress, sagt Velasquez, mache die Menschen krank. Die Ungewissheit, ob man ausgeschafft wird oder nicht, wann man seinen Container räumen muss, «da schrumpfen Körper und Geist zu einer Faust zusammen». Sie schraubt ein Fläschchen Desinfektionsmittel auf und setzt sich neben den jungen Mann auf die Liege. «Du musst viel trinken», sagt sie, «dein Körper braucht wieder Kraft.»
An der Wand neben der Behandlungsliege stapeln sich rote und pinke Boxen. Bald muss Velasquez alle Therapien abbrechen. Bis Ende April soll das Familienlager vollständig geräumt werden. Seit seiner Eröffnung 2015 war Kara Tepe, was so viel wie «der schwarze Hügel» bedeutet, der Gegenentwurf zum Slum von Moria. Die Menschen lebten hier nicht in Zelten, sondern in bunt angemalten Containern – es waren Strom, fliessendes Wasser sowie funktionierende Toiletten und Duschen vorhanden. Und Platz für kleinere Rehabilitationsprojekte wie jenes von Fabiola Velasquez.
Trotzdem will die griechische Regierung neben den fünf neu geplanten Camps auf den Inseln der Ägäis keine alternativen Unterbringungsmöglichkeiten mehr zulassen. Bis zum Jahresende sollen auf Lesbos alle kleineren Hilfsinitiativen geschlossen und die Menschen in das grosse Lager Mavrovouni überführt werden, das seine BewohnerInnen auch «Moria 2» nennen.
Mavrovouni liegt nur zwei Kilometer von Kara Tepe entfernt. Acht Monate nach dem Feuer, das Moria zerstört hat, leben hier über 6000 geflüchtete Menschen auf einem ehemaligen Übungsplatz des griechischen Militärs. Bis zu 300 PolizistInnen, die rund um die Uhr im Einsatz sind, sowie doppelter Stacheldrahtzaun sichern das Lager. Die CampbewohnerInnen dürfen das Gelände nur einmal wöchentlich zum Einkaufen oder um Sport zu treiben, verlassen. Die Quarantänestation ist mit über siebzig Menschen überfüllt. Mehr als 110 Geflüchtete sind Ende Mai positiv auf Corona getestet – sie müssen entweder in das überfüllte Quarantänezelt, in dem es laut BewohnerInnen nicht genug Liegen oder saubere Laken gibt, oder sich in ihren Zelten isolieren, die keinen Abstand zulassen.
Als im vergangenen September Hubschrauber erste Zelte auf den alten Armeeschiessplatz brachten, schüttelten viele InselbewohnerInnen den Kopf. Zu viel Wind. Im Boden kann man keine Container befestigen. Das Meer zu nah. Kein Wasseranschluss. Kein Schatten. Im Winter: dem Regen und manchmal gar Schnee ausgesetzt, bei mangelnder medizinischer Versorgung. «Übergangslösung», hiess es aus dem Migrationsministerium in Athen.
Über 276 Millionen Euro stellte die EU-Kommission für den Bau von fünf neuen Hochsicherheitslagern auf den Inseln im ägäischen Meer zur Verfügung. Anders als auf Samos, wo eines der neuen Lager schon fast fertiggestellt ist, haben die Bauarbeiten auf Lesbos noch immer nicht begonnen. Dennoch will die griechische Regierung an der Schliessung der alternativen Unterbringungsmöglichkeiten noch vor dem Herbst festhalten.
Ein Jahr und vier Monate ist es her, dass Khaled Alafat an den Container von Fabiola Velasquez klopfte. «Whoop», dachte sich die 41-jährige Therapeutin, «das wird eine Herausforderung.» Alafat ist ein grosser Mann und sitzt im Rollstuhl. Als er Velasquez traf, wog er 130 Kilo und konnte seine Beine kaum bewegen.
Kurz nach Kriegsbeginn in Syrien vor zehn Jahren zerriss eine Bombe das Dach, unter dem seine Familie in der Stadt Deir ez-Zor wohnte. Sein Bruder starb, Alafat selbst wurde von einem Dachstück schwer am Kopf verletzt. Die Diagnose: schweres Schädel-Hirn-Trauma, die rechte Körperseite ganz gelähmt, eine spastische Lähmung in den Beinen. Wochenlang lag er im Koma, seither ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Auch nachdem er es geschafft hatte, auf dem Rücken von Freunden aus Syrien zu fliehen, blieb er ohne medizinische Behandlung. Bis er auf Fabiola Velasquez traf.
Bis zum Vorabend des 29. April arbeiten Khaled Alafat und Velasquez im kleinen bunten Container weiter an seiner Haltung. Es ist der letzte Tag, an dem die Containerpraxis geöffnet hat. Am nächsten Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, sollen die letzten CampbewohnerInnen das Lager verlassen. Darunter auch Alafat mit seiner Familie.
«Khaled wird selbst zum neuen Lager fahren. Für den Rollstuhl ist im Bus kein Platz», schreibt Velasquez ein paar Stunden zuvor per SMS. Warum die Räumung mitten in der Nacht, um 4.30 Uhr stattfindet? Es scheint, als sollten die Geflüchteten schon beim Abtransport nicht mehr sichtbar sein.
Am 30. April im Morgengrauen bewegt sich kein Auto auf der Strasse vor Kara Tepe. Nur die Generatoren des nahen Mavrovouni-Lagers brummen durch die Nacht. Im Licht der Strassenlaternen nieselt es. Zwei Polizisten lehnen an einem Streifenwagen vor dem Eingang. Zwanzig Minuten später kommen zwei Busse, gefolgt von zwei Militärwagen. Sie verschwinden hinter der Absperrung. Wenige Minuten später biegen zwei Polizeiautos in die Einfahrt. Neun Polizisten stehen nun mit Kaffeebechern am Eingang.
Noch immer ist kein anderes Auto auf der Strasse zu sehen. Seit knapp einem halben Jahr gilt auf der Insel bis fünf Uhr morgens eine Ausgangssperre. JournalistInnen ist es nicht gestattet, bei der Räumung von Kara Tepe dabei zu sein.
Um 5.50 Uhr fährt ein Mann in einem automatischen Rollstuhl durch das Tor und an den Polizeiwagen vorbei. Er parkt am Rand der Hauptstrasse. Als wir auf dem Hügel gegenüber loslaufen, um zu Khaled hinunterzugehen, schreit ein Polizist: «Go!» Kurze Zeit später kraxeln zwei Beamte die Wiese hinauf, um unsere Presseausweise zu kontrollieren. Aus den Augenwinkeln sehe ich Khaled Alafat die Strasse zum neuen Lager hinunterrollen.
Zwei Tage später sitzt Velasquez in ihrer kleinen Wohnung am Rand der Hafenstadt Mytilini. Sie sei nach der Räumung erst einmal zum Zelten in die Natur gefahren, erzählt sie. Doch selbst das Tauchen im Meer spüle das Gefühl der Ohnmacht nicht weg. «Hier wird Menschen, die schon alles verloren haben, die letzte Würde genommen. Ich frage mich: Wann haben wir aufgehört, einander in die Augen zu sehen?» Das Wichtigste an ihrer Arbeit sei, den Menschen ein Stück Würde zurückzugeben. Sie nicht als Kriminelle zu behandeln.
Velasquez erinnert sich, wie alles angefangen hat. Vor sieben Jahren kam sie als Reisende auf die Insel. Im Herbst 2014 besuchten sie ihre Eltern hier. Sie waren auf dem Weg zum Strand, als plötzlich Dutzende Menschen mit Plastiksäcken, Rollstühlen, Kindern auf dem Arm an ihrem Auto vorbeiliefen. «Wer sind diese Menschen?», fragte ihr Vater. «Ich weiss es nicht.» Für ihren Vater, der unter der Militärdiktatur in Chile gelebt hatte, war es selbstverständlich, den Menschen zu helfen und sie in die Stadt zu fahren. Erst später fanden sie heraus, dass InselbewohnerInnen Geflüchtete nach der Ankunft nicht im Auto transportieren dürfen. Es war das erste Mal, dass Velasquez auf der Insel mit der Einteilung von Menschen in solche mit und solche ohne Rechte in Berührung kam.
Heute, sechs Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten Fluchtkrise, als in manchen Nächten Tausende Menschen die Küste von Lesbos erreichten, schaut Velasquez auf die weissen Zeltdächer am Horizont, wo Alafat vor zwei Tagen hintransferiert wurde.
«Sein automatischer Rollstuhl kommt die Berge nicht mehr hoch und verhakt sich im Geröll», sagt sie. Er musste ihn gegen einen ohne Motor eintauschen. Oft sitzt er stundenlang ohne Schatten neben den Containern, da niemand Zeit hat, ihn zu schieben. Velasquez wischt auf ihrem Handy Bilder hin und her. «Alleine kann er nicht auf die Toilette gehen», sagt sie, «die Boxen sind viel zu eng.» Er braucht die Hilfe von zwei Männern, die ihn auf die Dixie-Toilette tragen müssen.
Velasquez versucht mittlerweile, Wege zu finden, ihre PatientInnen weiterhin zu behandeln, und bemüht sich um eine Anmeldung im Lager Mavrovouni. «Nur zu welchem Preis?», fragt sie. Der Zugang für NGOs wird immer schwieriger. Seit November 2019 haben sich die Anmeldungsregularien viermal geändert. Im Dezember verabschiedete die griechische Regierung ein «Verschwiegenheitsgesetz», das es Mitarbeitenden von Hilfsorganisationen und Freiwilligen verbietet, öffentlich über Missstände im Lager zu sprechen. Und auch JournalistInnen erhalten nur mehr in geführten Pressetouren unter Polizeibegleitung Zutritt. Damit ist es kaum mehr möglich zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Menschen im Lager leben. In der Isolation verschwinden die CampbewohnerInnen aus dem Blick der Öffentlichkeit.
Knapp eine Woche nach der Räumung stehen zwei RednerInnenpulte hinter der Einfahrt von Kara Tepe. Davor etwa zwölf Sicherheitsmänner, ein paar JournalistInnen, eine Fernsehkamera, drei Mikrofone. Es ist die offizielle Übergabe des verlassenen Campgeländes an den Bürgermeister von Mytilini. «Es gibt nur Statements. Keine Fragen», sagt der Pressevertreter des Migrationsministeriums zur Begrüssung. Notis Mitarakis, der griechische Migrationsminister, steigt aus einem blauen Auto hinter einem UNHCR-Zelt, vor dem eine Schaukel im Wind schwingt.
Ein paar Meter weiter wartet Bürgermeister Stratis Kytelis im schwarzen Anzug in der Mittagssonne. Eine Viertelstunde später werden die beiden Staatsmänner wieder in der Autokolonne verschwinden. Was bleibt, ist bloss eine Aussage: «Die Regierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Migrationsströme und die Bürde der Inselbevölkerung zu reduzieren.» Zu welchem Preis, wird nicht erwähnt.
Zwei Wochen später schreibt Alafat in den frühen Morgenstunden eine SMS an seine Therapeutin: «Fabiola, hier gibt es eine schlimme Schlägerei zwischen einer Gruppe von Somalis und Syrern.» Er schickt ein Video. Darauf zu sehen ist eine Gruppe von Männern mit Holzstöcken, die Alafat aus dem Zelt heraus gefilmt hat. Man hört seine Frau und die beiden Kinder vor Angst schreien, als die Gruppe sich dem Zelt nähert. «Alle sind geflohen. Ausser uns.» Auf dem Kies rund um sein Zelt lässt sich der manuelle Rollstuhl nicht schieben. Sie blieben im Zelt. Harrten schlaflos dort aus, bis die Kämpfe aufhörten.