Altenpflege in Albanien: Die Zurückgelassenen

Nr. 39 –

Während die Schweiz die Lücke in den Spitälern mit ausländischen PflegerInnen füllt, erfrieren in Albanien alte Menschen in ihren Wohnungen. Denn junge Fachkräfte wandern in den Westen aus, und in Albanien gilt noch immer: Um Betagte kümmert sich die Familie.

  • Lebensmittel kann sie schon lange nicht mehr selbst einkaufen: Eine evangelische Organisation sorgt dafür, dass alleingelassene SeniorInnen Hilfe erhalten.
  • «Ich vermisse meine Frau jeden Tag. Wir Albaner können nicht ohne Frau leben. Aber die Jungen, die lernen das jetzt»: Fane Rustems Kinder und EnkelInnen leben alle im Ausland – er bräuchte wohl bald einen Platz im Altersheim.
  • Jeder Tag gleicht dem nächsten, und er macht immer weiter, irgendwie: Hydri Mehmeti pflegt seine 97-jährige Mutter Alime seit Jahren.
  • «Viele wären tot, wenn wir sie nicht zu uns ins Heim gebracht hätten»: Marleen Van de Voorde beim Altersheim Kenedi in Korca.
  • «Die Politik ist das Kaputteste in Albanien»: Ardit Pellumbi.

Hydri Mehmeti wechselt die Windeln seiner Mutter. Der 63-Jährige füttert sie, wäscht sie einmal pro Woche, schneidet ihr die Nägel. Seit fünf Jahren kann sie nicht mehr gehen, sie liegt eingewickelt in Tüchern und Decken auf einem eingefallenen Sofa. Fliegen kreisen über ihrem Kopf. Im Raum liegt ein modriger Geruch, die Teppiche sind abgewetzt, bei starkem Regen leckt die Decke, im Winter ist es eisig kalt.

Mehmetis leben in einem Häuschen in Pojan, einem Dorf im Südosten Albaniens. Rundherum erstrecken sich Felder, ein Hirt steht neben seiner Herde. Ab und zu tauchen ein paar Häuser auf, an einer Tankstelle spielen zwei verlassene Hundewelpen. Die nächstgrössere Stadt Korca liegt knapp 25 Minuten Autofahrt entfernt.

Mehmeti trägt Trainerhosen mit vielen kleinen Löchern, ihm fehlen einige Zähne. Er wohnt mit seiner 97-jährigen Mutter Alime und seiner älteren Schwester, die psychische Probleme hat und kaum mehr ein Wort spricht, zusammen. «Ich habe das Gefühl, ich lebe ganz allein. Ich kann mit niemandem reden», sagt Mehmeti. Sein Blick ist müde, jeder Tag gleicht dem nächsten, und er macht immer weiter, irgendwie. Als Sohn pflegt er seine Mutter, das ist Tradition.

Als Hydri Mehmeti geboren wurde, war Albanien eine kommunistische Diktatur. Er schuftete sein Leben lang als Bauer auf den Feldern. Nun, wo er selber alt wird, bleibt ihm nichts. Er hat kein eigenes Land, bloss einige Hühner vor dem Haus, und der Staat, der kümmere sich sowieso nicht, sagt er. Im kommunistischen Gesundheitssystem gab es kaum Strukturen für ältere Menschen, der Fokus lag auf Mutter und Kind. Seit dem Fall der Diktatur 1990 mussten Albaniens Gesundheits- und Sozialstrukturen für ältere Menschen quasi von null an aufgebaut werden.

Eine ganze Woche ohne jeden Kontakt

In ganz Albanien gibt es heute gerade einmal sechs öffentliche Altersheime mit insgesamt 300 Betten. Dazu einige private für Menschen mit genügend Geld. Das ist sehr wenig: Von den 2,8 Millionen EinwohnerInnen sind 600 000 über sechzig Jahre alt. Noch in den neunziger Jahren war die albanische Bevölkerung eine der jüngsten in Europa. Heute gehört sie zu jenen, die am schnellsten altern. Frauen gebären im Schnitt 1,37 Kinder, das ist deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Überalterung ist in ganz Europa ein Problem, und so gibt es fast überall zu wenig PflegerInnen, die sich um alte Menschen kümmern. In Ländern wie der Schweiz und Deutschland sprechen PolitikerInnen von Pflegenotstand. Sie greifen seit Jahren auf ausländisches Personal zurück, um die Lücken zu füllen.

Pflegenotstand, das ist eine Frage der Perspektive. Die Schweiz hat siebzehn Pflegefachkräfte pro tausend EinwohnerInnen, in Albanien sind es nicht einmal vier. Das liegt kaum daran, dass das Land keine PflegerInnen ausbilden würde, sondern vor allem daran, dass Junge massenweise auswandern. Seit den neunziger Jahren schrumpft die albanische Bevölkerung ohne Halt. Im letzten Jahr verliessen fast 44 000 Personen das Land, darunter viele ÄrztInnen und Pflegefachleute.

Zurück bleiben alte Menschen, allein und einsam. Ein Viertel der über Achtzigjährigen gab in einer Umfrage an, in der Woche davor keinen einzigen Kontakt zu anderen Personen gehabt zu haben. Es ist ein Problem, das in vielen südlichen Ländern besteht, in denen sich traditionell Familienmitglieder um SeniorInnen kümmern: Was passiert mit alten Menschen, wenn Junge massenhaft wegziehen? Was mit einem Land, wo Pflegekräfte Kurse besuchen, um möglichst rasch eine Stelle im Ausland zu finden?

«Viele wären tot, wenn wir sie nicht zu uns ins Altersheim gebracht hätten.» Marleen Van de Voorde sagt das ohne Zynismus, sie kennt schlicht die Realität. Die Belgierin – graue Haare, Sommerkleid, sportliche Sandalen – engagiert sich seit 25 Jahren für Alte in Albanien. Jeden Winter komme es mindestens einmal vor, dass sie jemanden erfroren in einer Wohnung finde. Sie steht vor dem Altersheim Kenedi, einem Neubau auf einem Hügel ausserhalb der Stadt Korca. Die Kenedi Foundation ist eine evangelische Organisation, die in Albanien Menschen am Rand der Gesellschaft hilft. Sie finanziert sich durch Spenden von Kirchen und Privatpersonen im Ausland. Ihre Pflegerinnen besuchen alleingelassene alte Menschen zu Hause, sie waschen sie, wechseln Windeln, putzen Wohnungen, verarzten Wunden. Zum Beispiel Druckgeschwüre. Wenn Leute wie Alime Mehmeti so lange in der gleichen Position liegen, stirbt die Haut an den Druckstellen ab. Tiefe Wunden fressen sich wie Krater bis zum Muskel oder Knochen. Nekrose heisst das tote, schwarze Gewebe.

Vor acht Jahren erfüllte sich der Traum von Van de Voorde: Die Organisation sammelte eine Million Euro Spendengelder und liess ein Altersheim bauen. Heute ist es ein Zuhause für 28 Menschen, die sonst vielleicht erfroren wären, vielleicht auch verhungert. Und niemand hätte es bemerkt.

Wenn alle Kinder und Enkel auswandern

Ein Dienstag Ende August, kurz nach 11 Uhr. Kostika Zdruli, ein Sozialarbeiter, den alle nur Kosta nennen, trägt Boxen zum Kofferraum eines Autos. Suppe, Brot, Tomaten-Gurken-Salat, Wassermelone und Kuchen. Verpackt in wiederverwertbare Behälter für solche, die geistig fit sind, Plastikbecher für die anderen. Dreissig alte Menschen in Korca erhalten jeden Mittag eine Mahlzeit von der Kenedi Foundation.

Einer von ihnen ist Fane Rustem (86), ein gross gewachsener Mann in Hemd, Strickjacke, Trainerhosen und Plastikpantoffeln. Den Fernseher hat er sehr laut eingestellt. Seine Frau starb vor Jahrzehnten, ein Bild des jungen Paars hängt silbern eingerahmt im Wohnzimmer. «Ich vermisse sie jeden Tag. Wir Albaner können nicht ohne Frau leben. Aber die Jungen, die lernen das jetzt», sagt er. Kosta legt die Essensbox und eine Tasche mit frisch gewaschenen Kleidern auf den Tisch. In der Küchennische gibt es nur einen Gaskocher und eine Mikrowelle.

Fane Rustems Hände zittern, er leidet an Parkinson. Er ist ein Kandidat für das Altersheim Kenedi. In ein, zwei Jahren vielleicht, wenn die Krankheit schlimmer wird und ein Bett frei ist. Seine Kinder und EnkelInnen leben alle im Ausland, der Sohn ist Chauffeur in Griechenland, die Tochter Verkäuferin in Australien. Sie schicken ihm etwas Geld für die Medikamente, die er sich von seiner Rente nicht leisten kann. Sie beträgt 17 500 albanische Lek, rund 150 Schweizer Franken pro Monat, das reicht kaum fürs Essen und die Stromrechnung.

Die Kinder werden Fane Rustem auch für das Zimmer im Heim Geld schicken müssen. Rund 410 Franken kostet das Heim für BewohnerInnen mit Kindern im Ausland. Etwa ein Viertel der albanischen Familien erhält Geld von ausgewanderten Angehörigen. Im vergangenen Jahr waren es total mehr als eine Milliarde Euro – rund zehn Prozent des albanischen Bruttoinlandsprodukts. BewohnerInnen im Altersheim, die keine oder arme Kinder haben, bezahlen zwischen 80 und 260 Franken pro Monat. Die wirklichen Kosten sind deutlich höher, sagt Marleen Van de Voorde. «Wir versuchen einfach, Ende Jahr auf null zu sein.»

Im Altersheim hängen ein grosses Holzkreuz und Bilder von Jesus. Einige BewohnerInnen spazieren mit einer Bibel unter dem Arm durch die Gänge. Menschen aus allen Religionen seien willkommen, betont Van de Voorde. Sie würden jeden Samstag gemeinsam aus der Bibel lesen, feierten aber auch andere Feste, zum Beispiel Ramadan. Albanien ist ein multireligiöses Land. Muslime, Katholikinnen und Orthodoxe leben grösstenteils friedlich miteinander. Van de Voordes Wunsch wäre, einen Flügel anzubauen, um zusätzlich an Demenz Erkrankte aufnehmen zu können. Dafür bräuchten sie etwa eine weitere Million Euro.

«Hallo, wie gehts? Wir bringen Essen.» Kosta weiss die Namen von allen, kennt ihre Geschichten. Sie leben in Wohnungen, wie man sie sich in der Schweiz kaum vorstellen kann. Da ist eine Witwe, zerbrechlicher Körper und tiefe Augenhöhlen, blaue, aufgedunsene Füsse. Zu ihrem Toilettenhäuschen, das draussen steht, kann sie schon lange nicht mehr gehen. Ein Nachtstuhl steht im Gang. Ihre Neffen leben in den USA. Da ist ein 93-jähriger Diabetiker mit offenem Hemd und goldenem Zahn. Er erzählt, seine Tochter sei in Berlin, ein Sohn sei Gefängniswärter, ein anderer Kapitän auf hoher See.

Und da ist Ilih Zografi (85), knollige Nase, buschige Augenbrauen, silberne Uhr. Seine Frau ist vor Jahren gestorben, ein Sohn wohnt in Griechenland, einer in Chicago. Der Bruder ist ebenfalls im Ausland. Seit fünf Jahren kam ihn niemand mehr besuchen, vielleicht sind es auch sechs, so genau kann er sich nicht mehr erinnern. «Und jetzt, mit dem Virus, kommt sowieso niemand.» Er telefoniert oft mit seinen Kindern, dann sieht er sie wenigstens auf dem Tabletbildschirm.

Zografis Kinder gehören zu den 1,4 Millionen AlbanerInnen, die laut Schätzungen des Aussenministeriums im Ausland leben. Unter Enver Hoxha und seinem Nachfolger Ramiz Alia war Albanien vom Rest der Welt noch komplett abgeschottet. Von allen kommunistischen Diktaturen Osteuropas war die albanische wohl die schlimmste. Der Geheimdienst folterte, brachte Tausende um, steckte Zehntausende in Arbeitslager. 1990 leiteten Demonstrationen das Ende des Regimes ein. Massenhaft strömten die Menschen danach aus dem Land, vor allem nach Griechenland und Italien. Seit einiger Zeit haben Junge mit einer Ausbildung ein anderes Ziel: Deutschland.

Der «German dream»

«Indefinitpronomen, ergänzen Sie!» Wir sind in der Hauptstadt Tirana, knapp 900 000 EinwohnerInnen, seit Jahren wächst die Zahl. In einem Bürogebäude beugen sieben junge Erwachsene ihre Köpfe über ein Deutschlehrmittel. Die Lehrerin gibt Instruktionen, die SchülerInnen lesen ihre Lösungen vor. «Soll ich Orangensaft mitbringen? Ja, wir haben keiner mehr», sagt Ardit Pellumbi. «Keinen», korrigiert die Lehrerin, «das ist Akkusativ.» An jeder zweiten Kreuzung in Tirana hängen Werbeplakate mit einer deutschen Flagge: «German dream», steht gedruckt, «Kurse Gjermanishte A1 – C1». Viele Schulen helfen auch bei der Jobsuche in Deutschland und der Organisation des Visums.

Ardit Pellumbi (22) ist einer der vielen, die in Albanien bald fehlen werden. Wenn alles klappt, beginnt er nächstes Jahr in einem deutschen Spital, sagt er. Er trägt einen Dreitagebart, enge, dunkle Jeans und hat kleinere Tattoos am Arm. Dreimal pro Woche büffelt er im Deutschkurs. Um die Lektionen zu bezahlen, serviert er in einem Café. Er hat für sein Bachelordiplom in Krankenpflege drei Jahre an der Universität studiert. Auf einen Master verzichtet er. «Das wäre verschwendete Zeit hier in Albanien», sagt er. Er will die zwei Jahre lieber für seine Zukunft in Deutschland investieren. Ziel ist das süddeutsche Tuttlingen, dort lebt bereits eine Tante von ihm. Pellumbi denkt, dass auch sein jüngerer Bruder auswandern wird, sobald sich ihm die Möglichkeit bietet.

Der junge Pfleger ist sich bewusst, dass seine Eltern dann auf sich allein gestellt sein werden, und das mache ihm Angst. «Es tut weh, meine Eltern hier zurückzulassen, aber langfristig wird es sich auszahlen», sagt er. Er wolle sie finanziell unterstützen. Doch er würde seine Eltern niemals in ein Altersheim schicken, in ein «azil», wie man in Albanien mit verächtlichem Unterton sagt. «Das wäre eine Beleidigung für sie», sagt er. «Sie haben mich grossgezogen, für mich bezahlt, das muss ich ihnen zurückgeben.» Vielleicht könne er sie ja sogar zu sich nach Deutschland holen.

In Albanien macht die Familie bis heute einen überwiegenden Teil des sozialen Netzes aus. Dieses löst sich nun mehr und mehr auf. Albanische PflegerInnen, die ins Ausland wollen, beantragen ein Zertifikat bei medizinischen Verbänden. Vergangenes Jahr habe es 1640 solche Anfragen gegeben, sagt Alban Ylli, Experte für das öffentliche Gesundheitswesen in Albanien. In den letzten drei Jahren hätten laut Schätzungen 3500 Pflegefachleute das Land verlassen. Bei ÄrztInnen zeigt sich ein ähnliches Bild: 150 erhalten jedes Jahr ihr Diplom in die Hand gedrückt, 150 verlassen im Durchschnitt das Land. Albanien hat pro Kopf unter allen europäischen Ländern am wenigsten MedizinerInnen.

Der Pflegeimperialismus

Als Hauptgründe nennt Ylli die Nachfrage im Ausland sowie den Lohn und die Arbeitsbedingungen in Albanien. Hier verdienen Pflegefachpersonen brutto rund 400, ÄrztInnen 630, SpezialistInnen 830 Franken im Durchschnitt. Doch es ist nicht nur der Lohn. «Alles hier frustriert mich», sagt Ardit Pellumbi in der Sprachschule. Vieles funktioniere nicht, die Polizei, das Gesundheitssystem, überall herrsche Korruption. Hinzu komme die Mentalität der Menschen, es gebe so viele Tabus. Er stimme bei Wahlen ab, sagt Pellumbi, aber nichts verändere sich. «Die Politik ist das Kaputteste in Albanien.» Eine junge Mitarbeiterin der Sprachschule ist beim Gespräch dabei. Sie sagt: «Bitte schreibt in der Zeitung nicht, dass alles schlecht ist hier. Wir wissen, dass wir Probleme haben. Aber wir möchten nicht, dass sich ganz Europa nur auf die schlechte Seite von Albanien fokussiert.»

In Albanien sind ein Fünftel der unter Dreissigjährigen arbeitslos. Reichere Länder saugen sie auf. Der sogenannte Braindrain, das Abwandern von qualifizierten Arbeitskräften, ist für die ganze Region ein Problem. Zwischen 2010 und 2017 verliess eine knappe halbe Million Menschen den Westbalkan Richtung EU. Kosovo, Serbien, Bosnien und auch das EU-Mitglied Kroatien stellen jedes Jahr Hunderte Zertifikate für MedizinerInnen aus, die im Ausland arbeiten wollen.

Die deutsche Regierung holt mit dem Projekt «Triple Win» aktiv ausgebildete Pflegekräfte aus Bosnien, Serbien oder Tunesien nach Deutschland. Auch Albanien und der Kosovo standen im Fokus. Eigentlich widerspricht das gezielte Abwerben von Fachkräften aus Ländern, wo diese knapp sind, dem Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation. Doch der Mangel an Pflegepersonal ist gross und wird im nächsten Jahrzehnt noch grösser. Die Generation der Babyboomer geht in Rente, die Lebenserwartung steigt, in vielen Ländern werden bald massenhaft MedizinerInnen pensioniert. Deutschland braucht voraussichtlich rund 500 000 zusätzliche Pflegekräfte bis 2035, die Schweiz 65 000 bis 2030.

Aktuell bildet die Schweiz etwa zwei Drittel des Bedarfs selbst aus. Das ist mehr als noch einige Jahre zuvor. In Spitälern hierzulande arbeiten ein Drittel der Pflegekräfte mit ausländischem Diplom, in Pflegeheimen sind es vierzehn Prozent. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Deutschland oder Frankreich. So wandern also Pflegekräfte von einem Land ins nächste, dahin, wo der Lohn höher ist und das Leben etwas besser, hoffentlich.

Und ganz am Ende der Kette, da sind Länder wie Albanien. Dort leiden alte Menschen doppelt: Ihre Kinder verlassen sie, und es bleibt niemand, der sie pflegt. Nehmen das Länder wie die Schweiz in Kauf, damit es den eigenen SeniorInnen gut geht? Müssen sich Alte in Albanien für eine bessere Zukunft ihrer Kinder damit abfinden?

Im Gesundheitsministerium arbeitet man an den Problemen. Es ist ein unspektakuläres Bürogebäude im Zentrum von Tirana. Merita Xhafaj, die Direktorin für Gesundheits- und Sozialpolitik, trägt eine rote Brille, Lippenstift und ein graues Strickjäckchen. Auf ihrem wuchtigen Schreibtisch liegt ein Dokument, auf das sie stolz ist: der allererste nationale Aktionsplan für alte Menschen. Die Regierung hat ihn Ende 2019 genehmigt, die geplanten Massnahmen sollten bis 2025 umgesetzt werden.

Xhafaj arbeitet seit sechs Jahren im Ministerium, in dieser Zeit habe sich viel getan. «Wir überarbeiten die Gesetze so, dass sie die Vorschriften der EU erfüllen.» Albanien ist offizieller Beitrittskandidat. Xhafaj zählt neue Gesetze auf, eine Rentenreform, die Einführung einer Sozialrente für solche, die sonst keinen Anspruch hätten. Und jetzt eben dieser Aktionsplan. Beim Erarbeiten hätten sie sich auch an den Sozialstrukturen der Schweiz orientiert, sagt sie.

Es soll eine Mindestrente geben, Sozialwohnungen für alte Menschen, mehr medizinische Angebote, einen ausgebauten Sozialdienst, mehr Betten in Altersheimen und kostenlosen ÖV für solche mit wenig Geld. Und: Alte Menschen sollen stärker in die Gesellschaft eingebettet werden. «Wir müssen ihnen zeigen, dass sie aktiver sein können», sagt Xhafaj. Etwa indem freiwillige Arbeit gefördert werde. Die demografische Situation beschreibt sie als riesige Herausforderung. Doch, sagt sie, die Jungen kämen dann schon zurück nach Albanien. «Davon bin ich überzeugt.»

Marleen Van de Voorde sieht, dass sich einiges verbessert. Doch alles dauere sehr lange. «Als ich hierherkam, dachte ich, wir könnten das ganze Land verändern», sagt sie. Mittlerweile erwartet sie nicht mehr allzu viel. Jedes Mal, wenn sie jemanden tot auffindet, ist sie unglaublich frustriert. Doch zu sehen, wie eine Person in ihrem Heim nochmals aufblühe, sei wahnsinnig schön. «Jeder Mensch ist einer mehr.»

Solange sich der Staat nicht um sie kümmert, bringen MitarbeiterInnen der Kenedi Foundation den alten, verlassenen Menschen in Dörfern ausserhalb Korca im Winter Holz. Zum Beispiel dem Ehepaar Niko und Eleni Muka, beide 69. Sie leben in einem Backsteinhaus in Plase, einem Dorf mit einer einzigen geteerten Strasse. Die PolitikerInnen in ihren Büros in der Hauptstadt, das denken die meisten hier, lassen die Alten auf dem Land allein. Die drei Töchter der Mukas sind in Griechenland, der Sohn ist vor vier Jahren an Kehlkopfkrebs gestorben.

Das Ehepaar macht sich Sorgen um seine Zukunft, alleine leben wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Eleni hat Mühe mit Treppensteigen. «Wir können unser Haus nicht verlassen, wir haben es selbst gebaut», sagt sie. «Wir werden hier irgendwann sterben.» Im Moment könnten sie sich noch gegenseitig helfen, doch was dann? Es könne sein, dass eine der Töchter zurückkomme, vielleicht.

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