Care-Krise in den USA: Stress von der Krippe bis ins Altersheim

Nr. 11 –

Die Krise der Care-Ökonomie in den USA trifft unzählige Kinder, Eltern und Senior:innen. Unsere Korrespondentin weiss das aus Erfahrung.

Kindertagesstätte in Duluth, Minnesota
Allein mit dem Monster: Kindertagesstätte in Duluth, Minnesota. Foto: Melina Mara, Getty

Die Krise der Care-Ökonomie in den USA ist für mich wie für Millionen von US-Amerikaner:innen auch eine Familiengeschichte.

Unsere hochbetagte Tante Anita berichtet, dass die Betreuung in ihrem Altersheim «The Gardens» zurzeit etliche Lücken aufweist. Viele begleitete Tagesaktivitäten wie Ausflüge mit dem heimeigenen Minibus, Yogastunden oder Spielnachmittage fallen aus. Oder die Bewohner:innen übernehmen in eigener Regie. Nicht eine angestellte Fachkraft, sondern eine rüstige Seniorin chauffiert jetzt zum Beispiel Mitbewohner:innen, die selber nicht mehr Auto fahren, zum Arzttermin. Statt des ausgebildeten Kochs oder der gelernten Köchin bereitet seit kurzem die Ergotherapeutin das Mittagessen für mehrere Dutzend Kostgänger:innen vor. Sogar der im Haus sehr beliebte «Handyman», der eigentlich für tropfende Wasserhähne, ausgebrannte Glühbirnen und klemmende Türen zuständig ist, übernimmt zuweilen aus Not den Küchendienst.

Noch schmerzlicher erlebte Anitas ebenfalls betagte Freundin Barbara kürzlich die Krise im Versorgungssektor. Sie verletzte sich bei einem Fall und benötigte Spitalpflege. Schon bald hätte sie in die Rehaklinik wechseln und mit ihrer Physiotherapie beginnen können. Plätze waren vorhanden, aber nicht genügend Personal. Barbara musste mehrere Tage untätig im Spitalbett auf ihre Rehabilitationspflege warten.

Welcome in der «daycare desert»

Auf Betreuungsplätze warten – am anderen Ende der Lebensspanne – auch meine jüngsten Enkel:innen. Sechzig Prozent aller Kleinkinder in Vermont haben gegenwärtig keinen Zugang zu einer Tageskrippe, höre ich gerade am lokalen Radio. Tausende von Eltern, meist Mütter, können deshalb weniger oder gar keine Erwerbsarbeit leisten, obwohl ihre Familien dringend auf das zweite Einkommen angewiesen sind, wenn sie nicht in die Armut abrutschen wollen. Insgesamt fehlen in den USA Krippenplätze für etwa 2,7 Millionen Kinder unter fünf Jahren, das heisst für rund ein Drittel dieser Altersklasse.

Auch zwei meiner Töchter wohnen in einer sogenannten «daycare desert», einer Kinderbetreuungswüste. Die jüngsten Enkelkinder sind eins und vier Jahre alt, und ihre Eltern müssen eine Krippenkrise nach der anderen bewältigen. Letzten Sommer war die damalige Tageskrippe der beiden Kleinen personell so unterbesetzt, dass ein Ausflug ans nahe Meer beinahe mit einem Badeunfall endete. Viele Eltern, auch meine Tochter, behielten daraufhin ihre Kinder daheim. Die Krippe musste schliessen.

Für den älteren Buben war nach ein paar Wochen Betreuungsimprovisation ein neuer Platz in einem Waldkindergarten gefunden. Die Suche für die einjährige Enkelin dauerte Monate. Kleinkinder unter drei Jahren brauchen intensivere Zuwendung. Gesetzlich ist mehr Personal vorgeschrieben. Der Krippenbetrieb für die ganz Kleinen ist deshalb teurer, weshalb es noch weniger entsprechende Einrichtungen gibt. Der Mangel an Kinderbetreuungsangeboten ist nach der Covid-Pandemie besonders ausgeprägt: In den USA hat jede zehnte Arbeitskraft diesem unterbezahlten Sektor – mittleres Jahreseinkommen 27 000 Dollar – den Rücken gekehrt.

Viele Kinderbetreuerinnen haben ihren Beruf mit Bedauern gewechselt. Eine von ihnen ist Anna, die ehemalige Kleinkinderzieherin meines Enkels. Die lebhafte junge Frau mexikanischer Herkunft, die mehrere Sprachen spricht, hatte ihren Beruf mit Kopf, Herz und Hand ausgeübt. Begeistert erzählt sie heute noch vom Krippenalltag und ihren kleinen Zöglingen. Nach einem Zweitstudium arbeitet Anna nun in der Finanzwelt, wo sie anständig verdient. Doch ihre wahre Berufung sei die Arbeit mit Kindern, betont sie. Eine Arbeit, von der sie allerdings nicht leben konnte.

Im Gegensatz dazu lässt Cathy, die zurzeit meine kleine Enkelin betreut, meine Tochter beinahe täglich wissen, wie sehr sie ihre Arbeit in der Kindertagesstätte satthat, das Windelnwechseln, das ständige Geschrei … Doch sie könne sich keinen Stellenwechsel leisten, sagt sie, weil auch ihre eigenen Kinder in der Krippe betreut würden. Sie glaubt nicht, dass sie einen Job finden kann, der auch die Krippenkosten decken würde. Meine Tochter weiss natürlich, dass eine solch widerwillige Betreuung nicht ideal ist. Doch wie zwei Drittel aller US-Eltern muss sie froh sein, diesen einen Krippenplatz gefunden zu haben. Eine Alternative ist für sie wie für viele andere (vorläufig) nicht in Sicht.

Nur Gutverdienende können eine private Nanny anstellen, die mit über 600 Dollar in der Woche etwa doppelt so viel kostet wie ein Krippenplatz.* Und in diesem weitläufigen Land haben längst nicht alle Eltern Bekannte und Verwandte in der Nähe, die Kinderbetreuungslücken ohne Weiteres überbrücken können. Millionen von Frauen (weitaus seltener Männer) haben in den USA wegen der Care-Ökonomie-Krise bereits ihren Job verloren. Immer mehr Frauen kehren nach der Geburt eines Kindes oder der Schliessung einer Tageskrippe gar nicht erst ins Erwerbsleben zurück. Oder sie begnügen sich mit unterbezahlten Nebenjobs, die mit ihren Kinderbetreuungsaufgaben vereinbar sind.

Den massiven Rückzug der US-Frauen aus dem Lohnarbeitsmarkt könnte man als individuelle Lifestyleentscheidung abtun, sogar als Rückkehr zur traditionellen Kleinfamilie. Doch die (geschlechtergetrennte) Aufteilung in Ernährer- und Fürsorgerolle ist ökonomisch gesehen ein Auslaufmodell. Doppelverdienst ist längst nicht mehr ein Schimpfwort, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Rund siebzig Prozent aller Mütter in den USA, auch solche mit Kindern unter fünf Jahren, gehen einer Erwerbsarbeit nach. Über vierzig Prozent der Mütter kommen allein oder hauptsächlich für den Unterhalt ihrer Familie auf.

Wunsch und Wirklichkeit

Anfang 1985, einige Tage vor der Geburt meiner zweiten Tochter, schrieb ich in der noch jungen WOZ den Text «In Erwartung von Mutterfreuden etc.». Nur einen Monat zuvor war die eidgenössische Initiative für einen wirksamen Mutterschaftsschutz mit kläglichen 15,8 Prozent Ja-Stimmen bachab geschickt worden.

Ich ärgerte mich damals über das veraltete Familienideal, in dem der Vater immer noch Punkt zwölf Uhr mittags sein Velo an die Holzbeige lehnt, die Klammern aus den Hosenbeinen zieht, während die Mutter mit hochroten Wangen in der Tür steht und das Zmittag in der Küche dampft und duftet. Dieser häuslichen Idylle hielt ich in meiner Kritik die wirtschaftliche und soziale Realität der englischen Arbeitszeit entgegen (durchgehend mit kurzer Mittagspause), die fehlenden Tageskrippen, die vertrackten Stundenpläne der Kinder, die den Familienalltag bestimmen und behindern … Ich freute mich auf mein Kind, doch ich beklagte die Kinderfeindlichkeit der achtziger Jahre. Der Reproduktionsbereich – heute spräche ich eher von Care-Ökonomie – schien nach dem gesellschaftlichen Aufbruch der sechziger Jahre zu stagnieren. Nicht zuletzt, weil die eh schon doppelt und dreifach belasteten Familien kaum auch noch Zeit und Energie für politischen Aktivismus aufbringen konnten.

Nie hätte ich jedoch gedacht, dass fast vierzig Jahre später so wenig, jedenfalls so wenig grundlegender Fortschritt in Sachen Familienpolitik und Care-Ökonomie zu verzeichnen ist. Schon gar nicht in den USA, die als einziges hochindustrialisiertes Land überhaupt keinen bundesweiten gesetzlichen Mutterschutz kennen. (Die Schweiz mit ihren mickrigen vierzehn Wochen schafft es in der Rangliste kinderfeindlicher Industrieländer diesbezüglich auf Platz zwei.)

Sicher, der Begriff «Familie» ist heute vielfältiger: Er umfasst neben den traditionellen Vater-Mutter-Kind-Einheiten auch Alleinstehende mit Kindern, Familien mit zwei Müttern oder zwei Vätern, dazu Patchworkfamilien in allen Variationen. Hausmänner sind nicht mehr ganz so exotisch wie im 20. Jahrhundert. Alleinerziehende werden gesellschaftlich akzeptiert. Berufstätige Mütter sind nun die Norm, nicht mehr die Ausnahme. Doch die sozial ach so aufgeschlossene Gesellschaft hat noch nie gründlich darüber nachgedacht, wie sie all die Pflege und Betreuung von jungen und alten, von physisch und psychisch hilfsbedürftigen Menschen – die sie bis vor ein paar Jahrzehnten den Hausfrauen als unbezahlte Arbeit zuwies – nach der Integration der Mütter in den Arbeitsmarkt neu organisieren und finanzieren will. Man überliess die Neuaufstellung der Care-Ökonomie der «unsichtbaren Hand des freien Marktes», die prompt die profitablen Rosinen – von Fertignahrung bis zu staubsaugenden Robotern oder Hüftprothesen – herauspickte und den chaotischen, unberechenbaren allzu menschlichen Rest externalisierte: in die Familien, in karitative Institutionen, an den Rand der Gesellschaft.

Opfer der Profitmaximierung

In den USA ist der Widerspruch zwischen rückwärtsgewandten «family values» und hochdynamischer Profitmaximierung krasser denn je. Ein aktuelles Beispiel unter vielen: Auf der einen Seite verschärfen die konservativen US-Bundesstaaten ihre Abtreibungsverbote mit hehren Worten über den unantastbaren Wert des ungeborenen Lebens. Auf der anderen Seite kämpfen viele der bereits geborenen Kinder, etwa solche mit schweren Atemwegserkrankungen, derzeit um ihr Leben, weil es nicht genügend oder nicht genügend gute medizinische Versorgungsangebote gibt.

Denn die gewinnorientierte Gesundheitsindustrie hat längst gemerkt, dass die Kindermedizin weniger einbringt als das Geschäft mit erwachsenen Patient:innen. Spitalbetten für Kinder wurden in den letzten Jahrzehnten drastisch reduziert. Nicht zuletzt deshalb, weil vierzig Prozent der Kinder mit Medicaid versichert sind. Diese staatliche Gesundheitskasse für Bedürftige entschädigt die Medizinanbieter nach deutlich tieferen Tarifen.

Die Systemkrise der Care-Ökonomie ist letztlich immer eine intime, individuelle Geschichte. Letzte Woche wurde das Wohnheim verkauft, in dem unserer Tante lebt. Wir hoffen, dass die neue Privatbesitzerin es weiterführt. Wenn nicht, muss sich Anita mit 102 Jahren nochmals nach einer neuen Bleibe umsehen, weil ein anderes Geschäftsmodell halt besser rentiert.

* Korrigenda vom 21. März 2023: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, eine private Nanny koste über 600 Dollar pro Monat. Das ist falsch, die Kosten für eine private Nanny belaufen sich auf über 600 Dollar pro Woche.