Bénédicte Savoy: Das Unbehagen im Museum
Eine Ausnahmeerscheinung an der Uni wie in den öffentlichen Debatten: Bénédicte Savoy klärt charmant, unbestechlich und hartnäckig grosse Fragen zu Kunst, Restitution und unserer verdrängten Vergangenheit.
Ihre Antrittsvorlesung am altehrwürdigen Collège de France vor vier Jahren hielt Bénédicte Savoy in ungewöhnlicher Begleitung. Auf ihrem Vortragspult arrangierte die Kunsthistorikerin drei Skulpturen, die bei dem einen oder der anderen Anwesenden wohl für Stirnrunzeln sorgten: einen Gipskopf des Ägypters und Nofretete-Gemahls Echnaton; eine mit Muscheln und Glasperlen besetzte Stoffskulptur eines Trommlers aus Kamerun; den Gipsabguss eines lesenden italienischen Mönchs – die Originalskulptur aus dem 15. Jahrhundert ist seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen. Diese drei Artefakte – zwei davon aus dem Museumsshop, eine aus dem Antiquariat – dienten ihr aber nicht nur als Schutzpatrone. Vor allem waren sie Aufhänger für eine bestechend originelle Neubetrachtung der «Kulturgeschichte des Kunsterbes in Europa im 18. bis 20. Jahrhundert».
Als Sinnbilder und Zeichenträger stehen die drei unterschiedlichen Figürchen stellvertretend für allerlei Museumsmechanismen, vor allem aber für die – mal friedvolle, oft gewaltsame – Verschiebung und Aneignung von Kunstobjekten. Zugleich werden die drei materiell wenig wertvollen, aber emotionsgeladenen Kopien für Savoy zu mächtigen Symbolen einer Verunsicherung und Beunruhigung: Wie und woher kommen Objekte ins Museum – damals, aber auch heute? Inwiefern hinterlässt eine Gewaltgeschichte von Kriegen, Kolonialismus und Raubzügen ihre Spur auf den Kunstwerken? Was macht die stets behauptete Unsterblichkeit der Kunst mit uns Sterblichen? Wer schaut hier wen an, wir die Skulpturen oder sie uns? Und warum sind wir so besessen von Originalen?
Offensichtlich übersehen
Liest man die Vorlesung heute wieder, fällt nicht nur auf, wie dezidiert jargonfrei Savoys Sprache ist, sondern auch, wie kritisch sie die Eliteinstitution, in die sie gerade feierlich aufgenommen wird, in die Pflicht nimmt. Sie tut dies anhand einer weiteren Skulptur: einer überlebensgrossen Marmorstatue, die im Innenhof des Collège de France steht und einen Mann in Denkerpose verewigt, dessen Fuss mit klassischer Eroberergeste auf dem abgeschlagenen Kopf einer ägyptischen Statue ruht.
Dieser Mann, Jean-François Champollion, ein Kind der französischen Revolution, war Leiter der ägyptischen Sammlung einer Vorgängerinstitution des Louvre und Professor für Ägyptologie am Collège de France. Zu seinen Lebzeiten von 1790 bis 1832 wurde Kulturgut vor allem aus Griechenland und Ägypten im grossen Stil nach London und Paris geschafft, weil man behauptete, dass es im «Land der Freiheit» am besten aufgehoben sei. Champollion verkörpert nicht nur die Verquickung von Wissenschaft, Kunstraub und Museumsboom. In seiner Körperhaltung verschmilzt auch die materielle Aneignung (oder Zerstörung) der ägyptischen Statue mit der intellektuellen Inbesitznahme derselben. Was die Skulptur ebenfalls zeigt: Die Wahrheit über die Geschichte unserer Institutionen liegt oft nicht im Verborgenen, sondern sie steht, in massiven Stein gehauen, direkt vor deren Haustüre. Doch wird dieses Offensichtliche gern übersehen. Die Analyse dieses vertrackten, verdrängten Offensichtlichen ist eine Spezialität von Bénédicte Savoy.
Als sie 2017 ihre Antrittsvorlesung hielt, war Savoy 45 Jahre alt, damit das jüngste amtierende Mitglied des Collège und erst die siebte Frau überhaupt, die in diese Institution aufgenommen wurde, der schon Denker wie Claude Lévi-Strauss, Henri Bergson oder Michel Foucault angehört hatten. Ausserdem ist die perfekt zweisprachige Savoy Professorin an der Technischen Universität Berlin, vielfache Preisträgerin und Beirätin, Leiterin von Forschungsgruppen – und heute wohl schlicht die berühmteste Kunsthistorikerin Europas.
2018 publizierte sie mit dem senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Macron einen brisanten Forschungsbericht, der die spezifische Frage nach der Restitution afrikanischer Kulturgüter unmissverständlich beantwortet. Savoy und Sarr raten generell zur zügigen Restitution von zurückgefordertem, während der Kolonialzeit geraubtem Kulturgut, aber etwa auch, wenn ein Objekt nach 1960 aus illegalem Handel erworben wurde. In unseren Museen und «ethnologischen Sammlungen» stapeln sich einst entwendete Schätze und Alltagsgegenstände. Sie sind die greifbare kulturelle Identität vieler afrikanischer Staaten, das geraubte Archiv ihrer Geschichte. Es geht also nicht um ein grosszügiges «Nachgeben» oder «Entgegenkommen», sondern schlicht um Gerechtigkeit. Kein Museum kann die Empfehlungen dieses Berichts heute ignorieren.
Präzis, eloquent, furchtlos
Nun legt Savoy ein weiteres Buch mit Sprengkraft vor, das zwar ganz Europa im Blick hat, aber vor allem ein Schlaglicht auf ihre Wahlheimat Deutschland wirft: «Afrikas Kampf um seine Kunst». Sie ist in die Archive gestiegen und zeichnet in Jahresschnitten nach, wie die Restitution afrikanischer Kulturgüter zwischen 1965 und 1985 bereits einmal während mehrerer Jahre weit oben auf der Tagesordnung stand – um dann wieder unter den Tisch gewischt zu werden. Heute kehrt die Debatte mit potenzierter Wucht zurück, weil wir hier eine Wiederkehr des Verdrängten erleben. Wie Savoy schelmisch anmerkt, können eigentlich nur PsychoanalytikerInnen diesen mächtigen Mechanismus angemessen beschreiben.
Deutschland ist in diesem Verdrängungszusammenhang aus zwei Gründen interessant. Zum einen, weil – wie Savoy zeigt – in den sechziger und siebziger Jahren an vielen politischen wie institutionellen Schaltstellen alte Nazis sassen. Diese konterten Rückgabeforderungen unverfroren mit der Gegenüberstellung Kultur gegen Barbarei: Man könne den AfrikanerInnen nicht zutrauen, ihre eigenen Kulturgüter adäquat zu behandeln, in Europa seien sie besser aufgehoben. Sogar temporäre Leihanfragen wurden mit derlei «Begründungen» abgelehnt. Auch beschied man den afrikanischen Staaten dreist, sie argumentierten viel zu emotional.
Dazu kommt: Ausgerechnet das akribische Deutschland führte seinen Verhinderungskampf gegen Leih- oder Restitutionsanfragen mit absichtlich unvollständigen oder unzugänglichen Inventarlisten: Um keine «Begehrlichkeiten» zu wecken, wurde systematisch verschleiert, welche Objekte sich im Besitz der deutschen Museen befanden.
Savoy zitiert Filme, Konferenzen, Reden, Sammelbände, Magazinbeiträge, sie nennt VerhinderInnen beim Namen, ehrt aber auch PolitikerInnen, die sich engagierten, sowie einen einsamen Bremer Museumsdirektor, der sich gegen seine KollegInnen auflehnte – und kaltgestellt wurde. Das mit eindrücklichem Bildmaterial untermauerte Beweismosaik zu dieser «postkolonialen Niederlage» ist eindeutig: Die einstigen «Eroberer» übertönten auch nach der Kolonialzeit rücksichtslos die Stimmen der Beraubten, die sich aufwendig, aber vergeblich abmühten, zu ihrem Recht zu kommen.
Bénédicte Savoy nimmt in diesem Buch wie in öffentlichen Debatten kein Blatt vor den Mund. Was ebenfalls auffällt: Sie begegnet studentischen Hilfskräften genauso auf Augenhöhe wie den Mächtigen dieser Welt. Und egal ob sie Jan Böhmermann im ZDF ihre Arbeit erklärt, die Museumsszene im Film «Black Panther» lobt oder Univorlesungen hält: Stets argumentiert sie präzis, alert, charmant, eloquent, furchtlos. Bereits liegen zwei weitere Bücher vor, die Savoy als Mitherausgeberin betreut hat: eine Anthologie und ein Bildatlas, in denen die Frage nach der Beute auf die Weltgeschichte ausgedehnt wird – mit Kommentaren von Cicero bis Goethe und kommentierten Bildbeispielen von Saurierknochen bis zum Pergamonaltar. Damit man in Zukunft nicht nochmals bei null anfangen muss.
Bénédicte Savoys Antrittsvorlesung ist als «Die Provenienz der Kultur» im Verlag Matthes und Seitz erschienen, ebenso wie der Forschungsbericht «Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter» (mit Felwine Sarr) sowie Anthologie und Bildatlas mit dem Titel «Beute». «Afrikas Kampf um seine Kunst» kam im Frühjahr 2021 bei C. H. Beck heraus.