Sammlung Gurlitt: Die Kunst und die Zeichen der Zeit

Nr. 42 –

Wer denkt, dass die Auseinandersetzung mit Provenienzen nur lästiges Beiwerk zum wahren Kunstgenuss sei, sollte sich «Gurlitt. Eine Bilanz» im Kunstmuseum Bern anschauen. Über eine Aufarbeitung mit Signalwirkung – und ein paar offene Fragen.

Gemälde von Wassily Kandinsky: «Schweres Schweben», 1924
Die Bilder von Wassily Kandinsky wurden von den Nazis als «entartet» bezeichnet und aus den Museen entfernt: «Schweres Schweben», 1924. Foto: Kunstmuseum Bern, Legat Cornelius Gurlitt

Was sind Gebrauchsspuren, was absichtliche Manipulationen? Kann man anhand von ein paar Pigmentresten eines Farbstempels herausfinden, durch welche Institution die Zeichnung einst ging? Und wie kommt man überhaupt zu einer aussagekräftigen Provenienz, also zu den Informationen, aufgrund welcher Handänderungen, aber auch historischen Umstände ein Kunstwerk an dem Ort landete, wo wir nun vor ihm stehen? Mit ­«Gurlitt. Eine Bilanz» lädt das Kunstmuseum Bern auch dazu ein, sich in die Werkstattarbeit der Provenienzforschung zu vertiefen.

Überschrieben ist dieses Ausstellungskapitel allerdings mit dem Wort «Sackgasse» – ein klarer Fingerzeig, dass auch eine akribische Spurensuche oft vergeblich oder zumindest unvollendet bleibt. Der kriminalistische Spürsinn ist trotzdem aufregend. Das Museum mutiert hier zum forensischen Labor, wo Autopsien durchgeführt und Montierungsschichten freigelegt werden und sich Aufkleber und Inschriften auf den Rückseiten von Bildern als reicher Fundus an Codes offenbaren.

Aus dem Halbdunkel

«Gurlitt. Eine Bilanz» ist nach «‹Entartete Kunst› – beschlagnahmt und verkauft» (2017) und «Der NS-Kunstraub und die Folgen» (2018) die dritte öffentlich präsentierte Auseinandersetzung mit dem «Legat Gurlitt», das 2014 unverhofft in Bern landete. Der deutsche Kunsthändler Cornelius Gurlitt hatte die von seinem Vater Hildebrand geerbte Sammlung testamentarisch dem Kunstmuseum Bern vermacht, nachdem eine Steuerermittlung der bayerischen Behörden ihn und seine Bilder unversehens aus dem Halbdunkel geholt hatte. Sein Vater war als Kunsthändler des Naziregimes im Einsatz gewesen und hatte auch privat viel Kunst gekauft. Nach halbjähriger Bedenkzeit und einigen schlaf‌losen Nächten entschlossen sich die Verantwortlichen des Kunstmuseums, das heikle Konvolut anzunehmen. Während der letzten acht Jahre hat man nun eine beispielhafte Aufarbeitung geleistet, in enger Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Bayern. In Bern wurde auch die erste Abteilung für Provenienzforschung in einem Schweizer Kunstmuseum eingerichtet.

mehrere zusammengestellte Portraitfotos von Hildebrand Gurlitt
Vom NS-Chefkunstkäufer zum «Mitläufer»: Hildebrand Gurlitt hinterliess seinem Sohn die umfangreiche Sammlung. Foto: Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Cornelius Gurlitt

Mustergültig ist etwa die Transparenz, mit der das Herausgefundene, ebenso wie das weiterhin Ungelöste, der Öffentlichkeit vorgelegt wird. Klassifiziert sind die Bilder mit einem Ampelsystem, das nebst zweifelsfrei (un-)problematischen Provenienzen Raum für Ungeklärtes lässt: Grün-gelb markiert sind Werke, bei denen es bis jetzt keine Hinweise auf Raubkunst gibt – was aber nicht bedeutet, dass sie definitiv unverdächtig sind. Bei rot-gelb markierten Bildern besteht ein Verdacht auf Raubkunst oder auf «auffällige Begleitumstände», der aber vorläufig nicht erhärtet werden kann. Und dann steht man plötzlich vor einer Skulptur, die als westafrikanische Ahnenmaske beschrieben wird. Sie ist grün-gelb markiert, es gibt somit keine Hinweise auf NS-Raubkunst. Gleichzeitig ahnt man, dass eine weitere Untersuchung mit Augenmerk auf koloniale Zusammenhänge nochmals ganz andere ethische Fragen aufwerfen könnte (vgl. «Kein ‹Sonderfall Schweiz›»).

Der erfasste Sammlungsbestand inklusive Angaben zur Provenienz hängt im Eingangsbereich der Ausstellung auf A4-Blättern ausgedruckt an der Wand, kann aber auch auf einer Website eingesehen werden; die Rückseiten der Werke sind dort mit abgebildet. Diese Übersicht lässt vermuten, dass es sehr schwierig ist, eine lückenlose Provenienz für ein Kunstwerk zu erarbeiten. Nebenbei wird so auch klar: Pauschale Persilscheine für Sammlungen aus den 1930er und 1940er Jahren sind wenig glaubwürdig. Verfolgung und NS-Vernichtungsmaschinerie führten auch zum Verlust von Unterlagen, was es für die Opfer und ihre Nachkommen oft sehr schwierig macht, ihre Verluste zweifelsfrei geltend zu machen.

Die Lügen des «Seiltänzers»

Wie schon die früheren Ausstellungen wirft auch «Gurlitt. Eine Bilanz» ein breites Schlaglicht auf die NS-Verstrickungen des Begründers der Sammlung, Hildebrand Gurlitt, des Vaters des Erblassers. Die Alliierten wollten ihn 1945 zuerst als Nutzniesser einstufen. Tatsächlich profitierte Gurlitt gleich doppelt von der Diktatur: Er konnte die vom Unrechtsstaat als «entartet» denunzierte moderne Kunst günstig aufkaufen; ab 1941 war er dann im besetzten Frankreich als Chefeinkäufer für das geplante «Führermuseum» in Linz unterwegs.

Dank Leumundsbekundungen aus der Kunstwelt und trotz Lügen und widersprüchlicher Angaben zur Herkunft mancher Bilder schaffte er es schliesslich, offiziell als harmloser «Mitläufer» zu gelten. Seine beschlagnahmte Sammlung erhielt er zurück und konnte bis zu seinem Unfalltod 1956 weiter als Kunsthändler arbeiten. Parallel dazu mutierte er vom Profiteur zum Kriegsopfer, weil er bei der Bombardierung von Dresden seine Wohnung und, so behauptete er jedenfalls, auch viele seiner Bilder verloren hatte.

In der Nachkriegszeit vollzog der «Seiltänzer» – so wollte er selbst sein Verhalten in der NS-Diktatur verstanden wissen – eine weitere Wandlung: vom Kunsthändler der Nazis zum «Retter der Moderne». Ab 1948 leitete er den Kunstverein Düsseldorf, richtete Ausstellungen aus. Ausserdem gewährte er Leihgaben aus seinem Fundus – etwa an die Ausstellung «Deutsche Kunst – Meisterwerke des 20. Jahrhunderts», die 1953 in Luzern stattfand. Wie der in Bern einsehbare Katalog zeigt, stellte Gurlitt für die Ausstellung rund zwei Dutzend Bilder zur Verfügung, darunter solche, die als zerstört oder verschollen gegolten hatten. Hildebrand Gurlitt und später auch seine Erb:innen – seine Witwe Helene, dann der Sohn Cornelius – verschleierten das wahre Ausmass der Sammlung stets. Die Öffentlichkeit wiederum schien es jahrzehntelang wenig zu interessieren, dass immer wieder verschwunden geglaubte Bilder im Besitz der Gurlitts auftauchten.

Weitere Kapitel von «Gurlitt. Eine Bilanz» sind einzelnen Künstlern wie Max Liebermann oder Max Beckmann gewidmet, die Schwerpunkte der Sammlung ausmachen. Diese ist klar die Sammlung eines Händlers: geprägt von Liebhabereien und Zeitumständen, ohne konsequente künstlerische Linie. Eher unterbelichtet bleibt in der Ausstellung die Schweiz. Dabei wäre das Land als florierender Kunstumschlagplatz vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg und als Standort mehrerer Zollfreilager ein eigenes Ausstellungskapitel wert gewesen. Zumal auch die Beantwortung der Frage noch aussteht, warum der Kunsthändler Cornelius Gurlitt Bern und die Schweiz zum Hafen für seine Bilder erkor.

Speziell hervorgehoben werden im Ausstellungsparcours Restitutionen, Hinweise also auf die Rückgabe von Werken an die Nachkommen ihrer ursprünglichen Besitzer:innen. Auch hier schlägt man unkonventionelle Wege ein, wie etwa das jüngste Beispiel einer solchen Restitution im Fall Ismar Littmann zeigt. Mit der Einsicht, dass es wahrscheinlich unmöglich sein würde, je eine zweifelsfreie Beweislage zur Provenienz der Bilder aufzustellen, retournierte man im November 2021 freiwillig zwei Werke von Otto Dix an die Erb:innen. Man sah dies als «faire und gerechte» Lösung an, obwohl man angesichts der Rückgabeforderung juristisch auch einfach weiter auf die lückenhafte Erkenntnislage hätte pochen können.

Diese Haltung bekräftigten die Kuratorin von «Gurlitt. Eine Bilanz», Nikola Doll, und der Kunstrechtsexperte Andrea Raschèr jüngst in einem Gastbeitrag für die NZZ: Provenienzforschung liefere selten eindeutige Ergebnisse; trotzdem müssten Entscheidungen gefällt werden – im Zweifel für die Opfer. Dass Kulturgüter zu für die Opfer ungünstigen Konditionen veräussert werden mussten, gehörte klar zum Kalkül ihrer Verfolger:innen. Deshalb argumentieren Raschèr und Doll, dass «Fluchtgut», also Kunstwerke, die unter Verfolgungsdruck verkauft werden mussten, nicht einfach als unbedenklich eingestuft werden dürfe. Überhaupt sollte der verharmlosende Begriff «Fluchtgut» durch «verfolgungsbedingt entzogen» ersetzt werden. Man kann das weiter zuspitzen: Auch Fluchtgut ist eine Art Raubkunst.

Ungewohnt offene Kritik

Mit grosser Selbstverständlichkeit steht im Kunstmuseum Bern neben den Bildern für einmal auch deren wechselhafte Geschichte im Zentrum. Dieser Fokus ist im hiesigen Museumskontext lange unterbelichtet geblieben. Berns Aufarbeitung der Sammlung Gurlitt hat deshalb Signalwirkung für die ganze Schweiz. Dazu gehört auch, dass Marcel Brülhart, Stiftungsrat des Kunstmuseums Bern und juristischer Betreuer des Gurlitt-Dossiers, im Interview mit Tamedia-Publikationen namentlich Zürichs fahrlässigen Umgang mit der Sammlung Bührle ungewohnt offen kritisierte: Anscheinend sei die Entwicklung der letzten Jahrzehnte «spurlos an den Verantwortlichen vorbeigegangen». Das schade dem gesamten Kunstplatz Schweiz.

Tatsächlich kann es informierten Ausstellungsbesucher:innen nicht entgehen, dass wie Gurlitt auch der Schweizer Waffenfabrikant Emil Georg Bührle im besetzten Frankreich Kunst einkaufte. Doch nun scheint das Kunsthaus Zürich als prominentes Schaufenster der Sammlung Bührle seine Verantwortung endlich wahrzunehmen: Ein runder Tisch mit unabhängigen Expert:innen ist einberufen. Und die neue Direktorin, Ann Demeester, und der frischgebackene Kunsthauspräsident, Philipp Hildebrand, zeigen zumindest ein besser informiertes Verständnis für die Problematik als ihre Vorgänger.

Die aufschlussreiche Auseinandersetzung mit dem Legat Gurlitt legt nahe: Sinnvoll wäre es, jede Sammlung zunächst als Ansammlung von möglicherweise problematischen Provenienzen zu betrachten.

«Gurlitt. Eine Bilanz» ist noch bis am 15. Januar im Kunstmuseum Bern zu sehen. www.kunstmuseumbern.ch

Koloniale Provenienzen : Kein «Sonderfall Schweiz»

Kürzlich gab das bis anhin nicht durch einen proaktiven Umgang mit Provenienzfragen im Kunstbereich aufgefallene Bundesamt für Kultur (siehe WOZ Nr. 38/22) bekannt, es werde seine Förderung der Provenienzforschung neu definieren. Einerseits kann man sich für Beiträge zu Projekten im Bereich NS-Raubkunst bewerben, bei denen neu auch den historischen Umständen von Kunstverkäufen nachgegangen werden soll. Zum anderen will man den Forschungsbereich «Kulturgüter aus kolonialen Kontexten» fördern.

Auch die Ende September vom Ständerat gutgeheissene Motion von SP-Nationalrat Jon Pult hat beide Unrechtskontexte im Blick: Sie verlangt die Gründung einer unabhängigen Plattform zwecks Untersuchung von Fragen nach NS-Raubkunst, aber auch kolonialen Provenienzen. Zudem fordert die Motion die Abschaffung der nur in der Schweiz gebräuchlichen, irreführenden Unterscheidung zwischen Raub- und Fluchtkunst (vgl. «Die Kunst und die Zeichen der Zeit» oben).

Zur Frage kolonialer Provenienzen publizierte das Bernische Historische Museum einen vom Bundesamt für Kultur geförderten Forschungsbericht, nachdem es Teile seiner Sammlung nach Hinweisen auf bedenkliche Handänderungen und andere problematische Kontexte abgeklopft hatte. Wie bei der Sammlung Gurlitt zeigte sich, dass es sehr oft schlicht unmöglich ist, eine lückenlose Provenienz zu erstellen und somit ein Objekt als bedenklich oder unbedenklich einzustufen.

Zahlreiche Einsichten gibt es trotzdem. Klar ist: Obwohl die Schweiz offiziell keine Kolonien besass, waren Schweizer:innen in den Kolonien der europäischen Grossmächte unterwegs – und in Missionsstationen. Die indigenen ursprünglichen Besitzer:innen von Gegenständen, die am Ende im Museum landeten, wurden nur in Ausnahmefällen erfasst. Im Fall einer nubischen Puppe fand man allerdings einen Brief des Sammlers, der das Spielzeug für wenig Geld gekauft und später dem Historischen Museum überlassen hatte: «Das Nubierkind, das mir auf das Geheiss der hungrigen Mutter die Puppe unter Tränen überlassen musste, sehnt sich gewiss heute noch danach.» Nicht alles, was rechtmässig erworben wurde, ist ethisch unproblematisch. Bei mehreren Objekten aus Bolivien ergab die Untersuchung, dass sie als diplomatisches Gepäck getarnt in die Schweiz geschickt wurden, da die Ausfuhr von solchem Kulturgut bereits verboten war. Adressat: «Eidg. Pol. Department».

Der Forschungsbericht kann hier eingesehen werden: bhm.ch.