Rechtsextremismus in Deutschland: Immer wieder diese «Einzelfälle»

Nr. 43 –

Hitler-Bilder in Whatsapp-Chats, Morddrohungen und Terrorgruppen: Die deutschen Sicherheitsbehörden haben ein massives Problem in den eigenen Reihen. Innenminister Horst Seehofer scheint das allerdings wenig zu stören.

Die Bilanz ist verheerend: In den letzten anderthalb Jahren sind in Deutschland bei antisemitisch und rassistisch motivierten Attentaten dreizehn Menschen gestorben, darunter der langjährige CDU-Regierungspräsident Walter Lübcke. Hinzu kommen täglich mindestens drei bis vier rechte «Alltagsgewalttaten».

Immer mehr Angegriffene – wie etwa die Opfer einer rechtsterroristischen Anschlagsserie in Berlin oder die Betroffenen einer seit mehr als zwei Jahren andauernden Serie von Morddrohungen durch eine Gruppe namens NSU 2.0 – fragen sich, wer vor ihrer Haustür stehen wird, wenn sie den polizeilichen Notruf 110 wählen: die StrafverfolgerInnen oder die Freundinnen und Helfer der Neonazis.

PolizistInnen sind in Deutschland längst nicht nur in Chatgruppen organisiert, in denen Hakenkreuze geteilt, die Shoah verharmlost und Geflüchtete mit Affen oder Ratten verglichen werden – sie sind auch an rechtsextremen Terrorgruppen beteiligt. So wurde etwa bei Ermittlungen in Mecklenburg-Vorpommern offenbar, dass ehemalige Elitepolizisten und Reservisten der Bundeswehr im Netzwerk Nordkreuz über Jahre illegal Waffen und Zehntausende Schuss Munition horteten, missliebige KommunalpolitikerInnen ausspähten, deren Daten bis hin zu Grundrissen der Wohnungen in Polizeicomputern abfragten und in «Feindeslisten» sammelten. Für den «Tag X» waren schon Löschkalk und Leichensäcke geordert, politische GegnerInnen sollten interniert und beseitigt werden.

Von Propaganda zu Gewalt

Auch die vom Generalbundesanwalt im Frühjahr als rechtsterroristische Vereinigung eingestufte «Gruppe S» hatte Pläne für einen eigenen «Tag X»: Mit Anschlägen auf Moscheen und PolitikerInnen, so vermuten die Ermittlungsbehörden, wollte sie einen Bürgerkrieg entfachen. Unter den beschuldigten UnterstützerInnen der Gruppe ist auch ein langjähriger Polizeiangestellter. Bei KollegInnen war er als Sympathisant der rechtsextremen Reichsbürgerbewegung bekannt.

Polizei und Justiz sind im föderalen System der Bundesrepublik Ländersache. Bis vor kurzem reagierten die Innenminister der Bundesländer ebenso wie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) auf jede Enthüllung mit dem immer gleichen Mantra: Es gebe kein «strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden», sondern lediglich «Einzelfälle». Jegliche Kritik, jede Forderung nach unabhängigen Polizeibeauftragten, Beschwerdestellen und wissenschaftlichen Studien zum Ausmass von Rassismus und Rechtsextremismus bei der Polizei wurde brüsk abgekanzelt: Damit würden Zehntausende unbescholtene Beamte «unter Generalverdacht gestellt». Im Übrigen gebe es «keine Toleranz für Extremismus, Rassismus und Antisemitismus», so Seehofer.

Doch selbst unter Hardlinern der Union wachsen offenbar die Zweifel daran, dass diese pauschale Abwehrhaltung dem Problem gerecht wird. «Die Polizei ist nicht rechtsextrem, aber es gibt zu viele rechtsextreme Polizisten», erklärte Herbert Reul, CDU-Innenminister in Nordrhein-Westfalen, Anfang Oktober in einem Interview mit der «taz». Auch Reul hatte jahrelang nach jedem «Einzelfall» strukturelle Probleme bei der Polizei verneint.

Erst als bekannt wurde, dass in einer Whatsapp-Gruppe von zwei Dutzend PolizistInnen in Essen und Mühlheim/Ruhr namens «Alphateam» Hakenkreuze und Hitler-Bilder geteilt worden waren, änderte Reul seine Haltung. Seit Ende 2015 waren es mehr als hundert strafrechtlich relevante Inhalte. Der O-Ton einer Nachricht, während die Black-Lives-Matter-Bewegung nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd gegen rassistische Polizeigewalt protestierte: «Die besten Polizeischarfschützen haben die Amerikaner, die treffen immer voll die Schwarzen.»

Mittlerweile steht der Verdacht im Raum, dass mindestens einer der Beamten die Grenze zwischen Propaganda und Gewalt überschritten hat. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Strafvereitelung und Körperverletzung im Amt. Der Vorwurf gegen den 39-Jährigen: Er soll bei einem Polizeieinsatz einen bereits gefesselten migrantischen Beschuldigten geschlagen haben.

Ein Detail des «Einzelfalls» offenbart ein grundsätzliches Problem: In Deutschland ermittelt die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft gegen die eigenen KollegInnen, wenn Betroffene Strafanzeige wegen rassistischer Misshandlungen oder Übergriffen gegen BeamtInnen stellen. Im Fall des 39-Jährigen hatte die Staatsanwaltschaft ein entsprechendes Ermittlungsverfahren zunächst eingestellt und erst nach Bekanntwerden der Chatgruppe wieder aufgenommen. Mehrere Strafanzeigen und Beschwerden wegen mutmasslich rassistisch motivierter Polizeiübergriffe gegen Schwarze Deutsche, Geflüchtete und MigrantInnen in Mühlheim endeten so in den letzten Jahren.

Die neue Normalität

Während in Grossbritannien das Independent Office for Police Conduct seit Jahren über eigene Ermittlungsbefugnisse, ein grosses Budget und ein multiprofessionell zusammengesetztes Team verfügt, gibt es in Deutschland lediglich in drei von sechzehn Bundesländern sogenannte unabhängige Polizeibeauftragte.

Ähnlich wie der Wehrbeauftragte des Bundestags werden auch sie von den Abgeordneten des jeweiligen Landtags gewählt und sind damit nicht den Innenministerien als Dienstherren der Polizei unterstellt. Bislang allerdings können diese drei Beauftragten bloss Akten einsehen und Stellungnahmen anfordern. In ihren jährlichen Berichten wird deutlich, dass es überwiegend PolizistInnen selbst sind, die sich hilfesuchend an die Polizeibeauftragten wenden.

Für Berlin hat die rot-rot-grüne Regierungskoalition angekündigt, dass es voraussichtlich ab Mitte 2021 einen «unabhängigen Polizei- und Bürgerbeauftragten» geben solle. Ein entsprechender Gesetzesentwurf wird noch im Abgeordnetenhaus debattiert. Auch in der 3,7-Millionen-Stadt hatte sich die Politik lange gegen eine unabhängige Anlaufstelle gewehrt. Doch auch hier verdichteten sich die «Einzelfälle» zur neuen Normalität. Anfang Oktober etwa wurde bekannt, dass Polizisten in einem Chat offenbar über mehrere Jahre MuslimInnen als «fanatische Primatenkultur» beleidigt sowie Geflüchtete mit «Ratten» gleichgesetzt hatten.

Nur Tage später verkündete die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, die StudentInnen für den höheren Polizeidienst ausbildet, die Suspendierung eines halben Dutzends PolizeianwärterInnen. Sie hatten über Monate rechtsextreme Memes geteilt. Zudem sorgt seit zwei Jahren ein Verdacht für grosse Unruhe unter Betroffenen und in den Medien: So sollen Polizisten – und möglicherweise auch Staatsanwälte – einer Serie von rechtsterroristischen Brandanschlägen gegen antifaschistisch Engagierte, KommunalpolitikerInnen und migrantische Gewerbetreibende in Berlin-Neukölln Vorschub geleistet haben; die Tatverdächtigen wurden bislang strafrechtlich nicht behelligt.

«Entweder der Staat kann mich nicht schützen. Oder er will es nicht», sagt der linke Politiker Ferat Kocak aus Berlin-Neukölln. Bei einem Brandanschlag auf sein Auto im Februar 2018 verhinderte nur ein Zufall, dass die Flammen auf das Haus übersprangen, in dem seine Eltern schliefen. Wenige Wochen später wurde bekannt: Der Berliner Verfassungsschutz hatte die Mobiltelefone der mutmasslichen Täter abgehört und dabei deren Pläne für einen Anschlag auf Kocak mitgeschnitten.

Die Polizei war informiert und hatte ihn nicht nur nicht gewarnt – bis heute steht der Verdacht im Raum, dass ein Beamter des Landeskriminalamts sich auch privat mit einem tatverdächtigen Neonazi getroffen hatte. Ein anderer Polizist hat die Neuköllner AfD, in deren Reihen einer der Tatverdächtigen der Terrorserie aktiv war, wohl mit internen Informationen versorgt.

Nach 72 Anschlägen, die der rechtsterroristischen Serie mittlerweile zugerechnet werden, und jahrelangen erfolglosen Ermittlungen von Polizei und Justiz ist das Misstrauen unter den Betroffenen so gross, dass sich Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) vor kurzem gezwungen sah, zwei unabhängige SonderermittlerInnen zu berufen. Sie sollen dem Verdacht nachgehen, dass Polizisten und möglicherweise auch Staatsanwälte den Neonazis zur Hand gingen oder sie augenzwinkernd gewähren liessen.

Mangelhafte Aufarbeitung

Die Reaktionen aus dem Bundesinnenministerium auf das Problem lassen sich dabei bestenfalls als Mogelpackung bezeichnen. Anfang Oktober stellte Horst Seehofer zunächst gemeinsam mit dem Verfassungsschutzchef eine Studie mit dem Titel «Lagebild Rechtsextremismus bei der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden» vor. Das Ergebnis: Für den Zeitraum zwischen Januar 2017 und März 2020 meldeten die Bundesländer 319 Verdachtsfälle bei der Polizei, der Geheimdienst der Bundeswehr registrierte 1064, die Sicherheitsbehörden des Bundes knappe 58 zusätzliche Verdachtsfälle.

Dass diese Zahlen die Realität nicht einmal ansatzweise widerspiegeln, ist auch unter InnenpolitikerInnen unstrittig. Viel zu wenig Beachtung findet jedoch ein weiteres Detail des Berichts: die mangelhafte dienst- und strafrechtliche Aufarbeitung der Fälle. Lediglich bei einem Drittel wurden disziplinar- oder arbeitsrechtliche Massnahmen verhängt. Ein weiteres Drittel wurde ergebnislos eingestellt, der Rest ist immer noch hängig.

Am Dienstag verkündete Seehofer nun: Statt einer sowohl von Betroffenen von Polizeigewalt als auch von WissenschaftlerInnen und mehreren Vertretern von Polizeigewerkschaften geforderten Studie zu rassistischen und rechtsextremen Einstellungen unter PolizistInnen und zu Racial Profiling soll es lediglich eine Studie zu Alltagsrassismus in Deutschland sowie eine Untersuchung zum Polizeialltag geben. Im Mittelpunkt stehen soll «Gewalt und Hass gegen Polizeibeamte».

Heike Kleffner ist Journalistin und Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt. Sie ist Mitherausgeberin der Sammelbände «Recht gegen rechts. Report 2020» (erscheint am 29. Oktober) und «Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz» (2019).