Filmstills: Aus dem Reservoir der Fantasien

Nr. 44 –

Abtauchen in die Gesichter von damals: Wenn man auf der Redaktion unverhofft auf einen fotografischen Schatz stösst.

  • Das gestauchte Objekt der Begierde: Daniela Silverio in «Identificatione di una donna» (1982) von Michelangelo Antonioni.
  • Isabel Otero auf der Spur der Steine: «Derborence» (1985) von Francis Reusser, nach dem Roman von Charles-Ferdinand Ramuz.
  • Im Spiegelsaal des männlichen Blicks: Isabelle Huppert in Werner Schroeters «Malina» (1991), nach dem Roman von Ingeborg Bachmann.
  • Wen sieht die Stripperin vor sich? Nastassja Kinski in «Paris, Texas» (1984) von Wim Wenders.
  • Spastiker im Morast: Ist das ein früher Jim Jarmusch? Nein, es ist Jack Nance in «Eraserhead» (1977), dem Erstling von David Lynch.
  • Wem rennt sie entgegen, vor wem läuft sie davon? Hélène Surgère in «L’air du crime» (1984) von Alain Klarer.
  • Dieser trotzige Stolz der Jugend: Linda Manz in «Days of Heaven» (1978) von Terrence Malick.

Ausmisten wird überbewertet. Mag sein, dass das nach einer Schutzbehauptung klingt: das vorgeschobene Alibi eines verkappten Messies, die faule Ausrede eines Kindes, das grad keine Lust hat, sein Zimmer aufzuräumen. Und klar hat es etwas Zwanghaftes, wenn man sich von seinem Zeug nicht trennen kann.

Was aber, wenn du auf der Redaktion zufällig auf fremdes Sammelgut stösst? Reste von früher, die nie jemand ausgemistet hat. Und augenblicklich dieses Glücksgefühl, wie bei einem Schatz, nach dem du gar nie gesucht hast. Dabei sind das nur eine Kartonschachtel und zwei Briefumschläge, die hier Staub gesammelt haben, weil nie jemand das Zeugs zu entsorgen wagte. Darin, seit Jahrzehnten nicht mehr gebraucht und ohne jede ersichtliche Ordnung verstaut: Abzüge von Filmstills. Kein Archiv also, das diesen Namen verdient hätte, eher ein Sammelsurium.

Wenn es aber stimmt, dass Ordnung das halbe Leben ist, dann tut sich hier die beglückend wuchernde andere Hälfte auf. Vom einen Moment auf den anderen ist man völlig versunken, wie weggetaucht aus der Zeit. Aufgesogen von diesem Reservoir der Fantasien, das wir Kino nennen. Dabei bewegt sich hier gar nichts, das Kino steht ja still auf diesen Bildern.

Wer schaut, und wer schaut dabei zu?

Diese Fotos sind keine Kunst, es sind Standbilder zu Promotionszwecken, allesamt in Schwarzweiss. Sauber gebündelt lagen sie früher bei jeder Pressevorführung eines Films im Kino auf. Später wurden die Papierabzüge durch CDs ersetzt, die Bilder farbig. Und irgendwann gab es dann gar keine fotografischen Souvenirs mehr zum Mitnehmen für die Bildredaktion: Sämtliche Filmbilder sind zum Download im Netz.

Manche dieser Filmstills waren aber so formvollendet, dass ich die Abzüge manchmal nach Gebrauch nicht zurückschickte, wie sich das eigentlich gehört hätte, sondern still und heimlich daheim in der Schublade versorgte. Oder, in ganz besonderen Fällen, auch zu Hause an die Wand pinnte: «Eyes Wide Shut», das Gesicht von Nicole Kidman im Profil, und während Tom Cruise seinen Kopf gerade zu einem innigen Kuss neigt, schweift ihr Blick ab, zur Kamera hin. Ein atemberaubendes Bild ist das, weil der Blick der Kidman gleichsam aus der Szene heraustritt, dieses einzelne Auge einen Abgrund aufreisst: zwischen den beiden Figuren, zwischen den beiden Stars. Ein Ehepaar, damals noch, das ein Ehepaar spielt.

Dieses Foto aus «Eyes Wide Shut» findet sich nirgends in der Schachtel. Vielleicht hat es meine Vorvorvorgängerin auf dieser Redaktion auch bei sich daheim an die Wand gepinnt.

Manche dieser Abzüge sind auf der Rückseite angeschrieben, bei anderen fehlt jeder Vermerk. Beim Rätselraten entwickeln die Standbilder ein Eigenleben, losgelöst von allen Namen und von ihrem filmischen Zusammenhang. Der spastische Sonderling auf dieser morastigen Brache: Was sieht er, wie er sich da auf die Füsse schaut? Diese Frau im Gegenlicht und im Fadenkreuz gebauter Fluchtlinien: Wem rennt sie entgegen, vor wem läuft sie davon?

Und immer wieder: der Blick der Frau, die Frau im Blick. Zweifellos auch ein Zeichen der Zeit. Die Filme, denen diese Standfotos entnommen sind, stammen aus den Jahren 1977 bis 1991. Sieht man den Bildern an, dass diese Filme allesamt von Männern gedreht wurden?

Da ist dieser flauschige Pullover, der den sehnigen Rücken der Stripperin mehr entblösst, als dass er ihn verdeckt, in «Paris, Texas» von Wim Wenders. Dazu Corinne Schelbert damals in der WOZ, am 28. September 1984: «Bei Wenders gibt es keine Frauengeschichten, nur Männergeschichten und allenfalls Frauen im Kopf dieser Männer.» Wen hat Nastassja Kinski damals eigentlich vor sich, als sie diesen fragenden, verlorenen Blick zurück über die Schulter wirft? Vermutlich sieht sie Regisseur Wenders und seinen Kameramann Robby Müller. Aber auch, immerhin, drei Frauen: die Setfotografin Robin Holland und die beiden Assistentinnen für Regie und Kamera, Claire Denis und Agnès Godard.

So rufen diese Bilder unweigerlich die Thesen der britischen Filmtheoretikerin Laura Mulvey in Erinnerung, die in ihrem einflussreichen Essay «Visual Pleasure and Narrative Cinema» (1975) das Bewusstsein für den männlichen Blick im Erzählkino schärfte. Wer zeigt, wer wird gezeigt? Wer schaut, wer wird zur Schau gestellt – und wer schaut dabei zu? Mulvey rückte damals polemisch ins Licht, wie stark das Kino von einem patriarchalen Blickregime geprägt ist, in dem die Frau im Film fast immer in erster Linie als Objekt erscheint: Der voyeuristische Blick gebe die Frau der Schaulust der Protagonisten wie auch des Publikums preis, der fetischistische Blick reduziere sie auf ein Objekt des männlichen Begehrens.

Allen Tricks zum Trotz

Ganz so einfach wars natürlich schon damals nicht, weil Bilder ja nie in sich ruhen, sondern auch gegen den Strich betrachtet werden können. Ein Bild aber führt Mulveys Theorie ungemein bestechend vor Augen: die Frau auf der Wendeltreppe. Daniela Silverio in «Identificazione di una donna» von Michelangelo Antonioni, einem Film, der die Objektivierung der Frau schon im Titel führt. Sie wirkt gestaucht in dieser Perspektive, dem gottgleichen Blick der Kamera unterworfen, die von oben auf sie herabschaut.

Doch das Bild endet hier nicht, es lässt sich weiterdrehen, wie das die spätere feministische Kritik mit Mulveys Thesen auch gemacht hat. Denn die Frau steht ja doch mitten in dieser Spirale, die einen bedrohlichen Sog ausübt. Scheinbar schutzlos dem dominanten Blick ausgeliefert, lässt sie sich also auch als Herrin dieses schwindelerregenden Raums lesen, wie die Spinne im Netz: Femme fatale, die den Mann, den Voyeur, ins schwarze Loch des Verderbens stürzt.

Immerhin: Auf diesem Bild ist die Schauspielerin angezogen. Auf anderen Pressefotos, die damals für den Film warben, posiert sie nur mit einem Badetuch vor der Brust neben der Badewanne, oder sie liegt, nur mit einem Slip bekleidet, bäuchlings auf dem Bett.

Das Kino steht still auf diesen Bildern. Und die Gesichter? Eine unscheinbare Bemerkung von Ang Lee, die ich nie vergessen habe, vor zwanzig Jahren beim Interview über seinen Film «Crouching Tiger, Hidden Dragon» auf der Dachterrasse eines Hotels in Zürich: dass das menschliche Gesicht, allen Tricks und Effekten zum Trotz, bis heute das wichtigste Element des Kinos sei.

Zum Beispiel Isabelle Huppert, wie sie dasitzt, kerzengerade im Spiegelsaal des männlichen Blicks. Ausgestellt und dabei völlig unnahbar, weil sie den Blick unbeteiligt zurückwirft, in vollendeter Indifferenz. Oder der trotzige Stolz im Blick von Linda Manz, fünfzehn Jahre alt damals, als sie für «Days of Heaven» fotografiert wird, vermutlich von der Setfotografin Edie Baskin. Geschminkt mit ein bisschen Schmutz, der sie als arme Erntehelferin ausweisen soll. Für den Trotz der Jugend braucht sie keine Maske, er steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ermächtigung fängt dort an, wo das vermeintliche Objekt den Blick zurückwirft.

Wie dieses Auge von Nicole Kidman in «Eyes Wide Shut». Ihr Blick macht dich jedes Mal zum Mitwisser, aber du weisst immer noch nicht: von was eigentlich?